vonWolfgang Koch 17.11.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Ich stelle Ihnen heute das kleinste Buch in der grossen Bibliothek der Bücher über Hermann NITSCH vor. Es hat die Form eines handlichen Breviers und versammelt über 700 Aussprüche und Zitate des Künstlers aus fünf Jahrzehnten, alphabetisch gereiht nach Stichworten.

Blut in den Mund ist in der Reihe Europa Erlesen im österreichischen Wieser Verlag erschienen. Und es handelt sich nicht nur um das kleinste Bändchen, sondern auch um das billigste, das momentan über den Künstler zu haben ist. Es ist meiner Ansicht nach geeignet, ganze Bibliotheken zu ersetzen.

Mir persönlich menschelt es in der Nitsch-Literatur der letzten Jahre zu sehr. Viel zu viele Publikationen drehen sich um Freunde und Vorbilder, um Privates des Künstlers, alle Interviewer wollen Persönliches herausarbeiten, den Künstler als Lebensmenschen porträtieren.

Das ist in der Boulevardpresse auch völlig in Ordnung. Die kann schliesslich nicht anders, weil es ihren Redakteuren an Bildung mangelt, und weil das Publikum nur unterhalten werden will. Das kunstferne Publikum möchte einen Künstler vorgesetzt bekommen, den es bewundern, beneiden oder verachten kann. Was genau der macht, ist vollkommen nebensächlich.

Leben und Werk stehen in der Rezeption von Kunst immer in einem Spannungszusammenhang. Meiner Ansicht nach ist der biographische Zugang aber nur in zwei Fällen wirklich sinnvoll: a) Wenn man es mit absoluten Laien zu tun hat, sozusagen als erster Einstieg in einen Kunstkosmos, und b) Wenn ein Werk vollkommen unverständlich ist, wie das zum Beispiel bei den Naiven der Fall ist.

Grundsätzlich, meine ich, muss eine ernstzunehmende Kunstrezeption immer das Werk im Auge haben. Denn im Werk zeigt sich eine Künstlerpersönlichkeit besser als in jedem anderen Spiegel. Hier entfaltet sie sich frei in all ihren Facetten – und nicht in den gewöhnlichen, tagtäglichen Beziehungen zur Welt.

Ich will dafür zwei Beispiele geben: Wenn Sie die Persönlichkeit eines Weinbauern kennen lernen wollen, werden Sie nicht nach seinen Vorbildern und Freunden fragen, Sie wollen nicht wissen, welchen Fussballklub er unterstützt oder welche Socken er trägt. Sie werden sich seinen Weinkeller anschauen, Sie werden in den Augenschein nehmen, wie der Mann seine Fässer pflegt, wie er seine Flaschen stapelt, wie er den Abfall entsorgt. Alle diese Dinge sprechen zu uns. Wenn Sie einen besonders guten Gaumen haben, wird Ihnen vielleicht sogar der Geschmack des Weines etwas über die Persönlichkeit des Weinbauern verraten.

Als zweiten Beispiel nenne ich einen Theaterheiligen: William SHAKESPEARE. Wenn man im NItsch-Brevier unter dem Buchstaben »S« nachblättert, findet man der Eintrag: »Shakespeare war zu sehr Literat«. Das hat Hermann Nitsch als 25jähriger gesagt.

Etwas ganz und gar Verblüffendes an Shakespeare ist die Tatsache, dass dieser Mann nichts hinterlasssen hat, was nachweisbar von seiner Hand stammt – nichts als zwei, drei Unterschriften. Es sind von Shakespeare gerade mal fünf Dokumente auf uns gekommen: Taufregister, Rechungen, Steuerbescheide, Schauspielerlisten und ein knochentrockenes Testament.

Wir wissen also kaum etwas über sein Leben – so wenig, dass schon 16 andere Personen in den Verdacht geraten sind, sie könnten dieser Theaterheilige gewesen sein. Wir wissen von Shakespeare fast nichts – und trotzdem wissen wir mehr von ihm als von jedem anderen wohldokumentierten Autor.

Wir wissen, dass dieser Dramatiker zynisch, kühl und grausam war, poetisch und sanft, voller Zartheit und Mitleid, Shakespeare hatte gewaltige Wissenslücken, er konnte ungeheuer witzig und traurig sein. Wir wissen ausserdem, dass er um die Vierzig herum in eine Lebens- und Denkkrise geraten ist.

Und woher wissen wir das alles? Wir verdanken es seinen Stücken. Der möglicherweise grösste Theaterautor aller Zeiten liefert den besten Beweis dafür, dass das Werk und nicht die Person eines Künstlers im Mittelpunkt stehen muss.

Das Brevier Blut in den Mund interessiert sich für einen ganz bestimmten Teil des Werkes von Hermann Nitsch. Seine Einzigartigkeit als Maler, Theatermacher und Komponist wird ohnehin laufend gewürdigt. Schwer ins Hintertreffen geraten ist in den letzten Jahren hingegen die Tatsache, dass Hermann Nitsch auch eine umfassende Theatertheorie vorgelegt hat, weiters eine Kunsttheorie; er hat spielbare und fiktive Partituren geschaffen, hat zahlreiche Artikel publiziert, hat Manifeste verfasst, hat Vorlesungen gehalten.

Mit einem Wort: Nitsch hat auch ein breites schriftstellerisches Werk in den Raum gestellt, mit stark selbstreflexiven, philosophischen und mit experimentell-literarischen Büchern. Er hat dabei über Jahrzehnte ein strenges Begriffsgeflecht entwickelt, das auf seine kontinuierliche Selbstdeutung zurückgeht.

Dieser Teil des Orgien Mysterien Theaters – die Orgien Mysterien Philosophie – kommt in dem kleinen Buch konzentriert zur Sprache.

Logisch, dass sich bei so einem produktiven Mann der Künstler und der Philosoph immer wieder in die Quere kommen. Das müssen sie auch. Otto Weininger hat diesen Widerspruch in seinem Vorwort zu Geschlecht und Charakter so beschrieben: »Der Künstler hat die Welt eingeatmet, um sie auszuatmen, für den Philosophen ist sie ausgeatmet, er muss sie wieder einatmen«.

Er sei in letzter Hinsicht Philosoph, hat Nitsch einmal von sich behauptet. Das will ich hier als Herausgeber in Erinnerung rufen. Eine Beschäftigung mit Nitschs Denken kommt spielend ohne Beschäftigung mit dem Schlossherren aus.

© Wolfgang Koch 2008. Buchpräsentation zum 70. Geburtstag von Hermann Nitsch im Beisein des Künstlers am 15. November 2008 im Museums Zentrum Mistelbach

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