vonWolfgang Koch 18.07.2010

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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 1. Platz: SPECTRUM der Tageszeitung »Die Presse«, Redaktion: Karl Woisetschläger

Schwächer als in der Vorwoche. Wird aber durch das Thema Donaukanal und dem Abdruck eines Romananfangs von Michael Köhlmeier vor dem Abstieg bewahrt.

Der mit Madalyn überschriebene Köhlmeier-Text behandelt die Zuneigung eines männlichen Wieners zu einem Nachbarskind. – Eine weitere Talentprobe eines Autors, von dem wir seit Jahrzehnten ganz Großes erwarten.

Peter Payer publiziert eine Geschichte des Wiener Donaukanals, von dem Hans Weigel einmal gesagt hat, dass er ein Wahrzeichen der Stadt wäre, wenn er nur einen anderen Namen hätte. Sechs Seiten weiter hinten kritisiert Iris Meder die Architektur des neuen Bootsterminals von Fasch & Fuchs am Schwedenplatz. Beide Artikel freilich unterschlagen die beschämende Tatsache, dass dieses sogenannte Naherholungsgebiet der Innenstadt von einer Verkehrshölle umrahmt wird und dass das Donaukanalwasser eine stinkende Kloake ist.

Essayistik sieht heute in Österreich so aus: Sie zitieren auf zehn Zeilen Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche und Paul Watzlawick, sie würfeln zu einem beliebigen Thema, zum Beispiel zum Thema »Glück«, alle möglichen Definitionen und was der Volksmund so hergibt zusammen. Sie ignorieren tunlichst sämtliche aktuellen Diskussionen zum Gegenstand (den Lebenskunstdiskurs, den Begriff des Bruttosozialglücks in der bhutanichen Verfassung) und sie tragen ihr Geschwafel als Eröffnungsrede bei einem Symposion irgendwo auf einem Schloss in der österreichischen Provinz vor. Doch, doch, Sie können das! Schließlich sind Sie Altdekan der Wiener Fakultät für Philosophie, und ihr Name ist Peter Kampits.

Eine radikale Selbstentblößung gelingt auch Peter Truschner in seiner Istanbul-Reportage, die lediglich Kuratoren, Künstler und Galeristen zu Wort bringt. Der Autor wohnt in moderner mitteleuropäischer Affigkeit Tierschlachtungen in Ferahevier mit Kamera und Laptop bei, so dass ihm ein weißbärtiger Mullah mitleidig über den Kopf streichelt. Der Redaktion wurde etwas mulmig, sie illustrierte den Text lieber mit einem Agenturfoto.

Das Interview mit dem ägyptischen Berufsdissidenten Bahaa Taher ist inhaltlich interessant, nur eben kein Gespräch, sondern eine journalistische Faulheit, in der Plattitüden Platz finden wie: »Die Freiheit bekommt man nicht auf dem silbernen Tablett serviert«. Dreimal (im Titel, im Subtitel u. im Text) erfahren wir, dass heute in Ägypten Dinge passieren, »von denen man vor zehn Jahren nicht einmal albträumen konnte«. Nur welche das wären, das erfahren wir nicht.

Auf der Buch-Seite des SPEKTRUIMs wird ein Roman von Harriet Köhler verrissen (»unkontrollierter Schwulst«) und der assoziative Erzähler Erwin Einzinger für sein Buch Von Dschalalabad nach Bad Schallerbach gelobt (»eine Karawanserei für Erzählpartikel«).

Adolf Holl wehrt sich gegen den Gedanken, Weltreligionen müssten gewaltsam sterben. Was Philip Jenskins unter viel Getöse an der Pennsylvania State Universität lehre, das Endzeitliche des Christentums, das habe doch schon Jacob Taubes 1947 bemerkt.

Arundhati Roys Essays über das Elend des globalisierten Indiens werden im falschen Präsens nacherzählt.

Die Schreibfabrik Karl-Markus Gauß ist auch diese Woche wieder mit von der Partie (siehe auch ALBUM). Im SPEKTRUM rezensiert Gauß Paul Austers 17. Roman in einer deutschen Übersetzung. Dieses »formal brillante Vexierspiel, das um seiner selbst willen betrieben wird«, sei ein Versuch über das Böse. Eine Inzestgeschichte darin allerdings »völlig überflüssig«, das Buch ein »furioses Verwirrspiel«, usw. – Zum Vergleich, der Rezensent der F.A.Z., Tobias Döring, spricht am selben Tag von einem »vertrackt-spannenden Vexierspiel, bei dem der Fokus des Erzählens fast unmerklich auf immer andere Rätselhaftigkeiten übergeht … Der Vorgang des Erzählens selbst rückt in den Vordergrund und konfrontiert uns mit der Frage, ob Wortgespinsten überhaupt zu trauen ist«. Austers Erzählkunst, so der deutsche Feuilletonautor, liege darin, »Fund- und Bruchstücke der Tradition in immer neuen Mustern anzuordnen, wie um herauszufinden, wozu sie noch taugt«.

Auf der Spiele-Seite plaudert der Sudoku-Bastler des Blattes aus dem Nähkästchen.

Auf der Bestseller-Liste des SPEKTRUMS werden Donna Leon (Belletristik) und Barbara Pachl-Eberhart (Sachbuch) gepusht.

 

2. Platz: ALBUM der Tageszeitung »Der Standard«, Redaktion: Christoph Winder

Aufsteiger der Woche. Auch dank der Schreibfabrik Karl-Markus Gauß, der hier einen Vorabdruck aus seinem nächsten Buch verwurstet. Er beschreibt mit dem Vokabular eines Theaterkritikers eine fulminante Restaurantszene in einem neapolitanischen Gassenlokal. Freilich ist der Sprachschatz von Gauß stark angestaubt (»huldvoll«, »wenngleich«). Statt »Mopeds« würden wir im Neapel lieber Roller oder Vespas durch die Straßen brausen sehen.

Gut auch das Interview mit dem Frankfurter Psychoanalytiker Reimut Reiche, der Frauen für die progressiven Kulturträger hält und die Tabumenge in jeder Gesellschaft für konstant ansieht. Reiche kritisiert Freuds Traumtheorie aber nur sehr milde und ignoriert neuere anthropologische Ansätze wie den von Boris Wandruszka.

Christoph Winder übt sich in seiner Krisenkolumne nicht zum ersten Mal im billigen Touristen-Bashing.

An den Architekten Egon Eiermann und seine Karriere im Dritten Reich wird im falschen Präsens erinnert, was den Text für uns unleserlich macht.

Was die Kunstmarkt-Seite im Wochenendfeuilleton verloren hat, wird uns von Ausgabe zu Ausgabe weniger einsichtig. Hier berichtet man u. a. sträflich naiv von einer »luziden« Neuerscheinung über die Kunstsammlung der Oesterreichischen Nationalbank. Das ist das Institut, in dem gegenwärtig heftig über Immobilienverkäufe, Mitarbeiterabbau und Einschnitte bei Pensionen gestritten wird.

Die Reise-Seiten bieten eine Wanderung auf der Schneealpe, die kalabrische Küste und ein Bobohotel im kärntnerischen Landskron (»Sauna mit Seeblick«) an. Im bombastisch betitelten Italienbericht ersetzt ein schönes Zitat von Pier Paolo Pasolini mühelos den Rest des Textes. Oder können Sie sich vorstellen, wie man Landstreifen »aus verschiedenen Vegetationszonen zusammenjongliert«?

Um das intellektuelle Gewicht der Beilage wieder etwas anzuheben, folgt auf der Spiele-Seite ein Erinnerung an Samuel Beckett.

Die Bücher-Seite des Albums ist diesmal bis auf eine Schelte für Robert Gernhardt (Autor: Urs Allemann) zum Vergessen. Lauter unbedacht geschriebener Kleinkram. Zitat: »… eine so herkulische wie akustisch blendende Darbietung«.

Kritisch wenigstens die Besprechungen von Katharina Hackers Erdbeer-Roman, Miljenko Jergovic’ Freelander und ein sträflich unlektoriertes Buch über Kärntner Partisanen (Kitab-Verlag).

Bert Rebhandl bespricht die Welterklärungstheorie des emeritierten Ökonomen und Tierdenkers John Gray, der nach dem vermeintlichen Untergang der Religionen mit untauglichen Mitteln den Humanismus zu zertrümmern versucht.

Am Ende ein verdammt ratloser Männercomix von Walter Schmöger und eine ebensolche Kurzgeschichte von Markus R. Köhle, in der dem Protagonisten vergeblich Frauenbrüste als »Rettungsbojen« entgegen schwanken.

Auf der Bestseller-Liste des ALBUMS werden Donna Leon (Belletristik) und Otto Schenk (Sachbuch) gepusht.

 

3. Platz: EXTRA der »Wiener Zeitung«, Redaktion: Gerald Schmickl

Absteiger der Woche. Das beginnt mit dem zig-tausendsten Aufguss der Kennedy-Clan-Saga, einer oberflächlichen politischen Märchenstunde ohne Erkenntniswert, ausgeführt vom Staats- und Verwaltungsrechtler Gerhard Strejcek. – Nur ein Detail: Haben die USA in Vietnam wirklich einen Kampf ohne greifbare Feinde geführt?

Der beste Beitrag im EXTRA ist ein Doppelportrait von Spaniens wohl berühmtestem Landstreicher-Duo, zwei alkfidelen Briten, die mit Schildern, Visitenkarten und einer eigenen Homepage erfolgreich für Bier, Whiskey und Marihuana Spenden erbetteln. Autorin: die Haus-Redakteurin Konstanze Walther.

Eine weitere Reportage beschäftigt sich mit für Touristen inszenierten illegalen Grenzübertritten in Mexiko. Die Veranstalter dieser Nachtwanderungen begreifen ihr Tun natürlich als »Widerstand« gegen eine ungerechte US-Einwanderungspolitik. Dass der Krieg der mexikanischen Drogenkartelle gegen den Staat und untereinander in den letzten vier Jahren 18.000 Menschen das Leben gekostet hat, ist eine äußerst dramatische Zahl. Eine solche Zahl verlangt in einer Zeitung eine Quellenangabe. Schließlich wird das Autorenduo – der Berliner Journalist Philipp Lichterbeck und die pendelnde Sozialwissenschaftlerin Berenice Hernández – die Leichen nicht selber gezählt haben.

Als historicum offeriert uns Wolfgang Bahr einen Beitrag über die Plansprache Esperanto, die mit Wien eine besondere Beziehung hat (Gründer Zamenhof, Plansprachensammlung).

Auf der nächsten Seite darf sich der nicht gerade uneitle Generalsekretär vom Amnesty International Österreich, Heinz Patzelt, über zehn Interviewspalten verbreitern. Da wird die heimische Polizei, die das sicher nötig hat, kräftig gelobt – sie sei, so Patzelt, am Weg zur »größten Menschenrechtsschutzorgansiation«. Er, der AI-Vorsitzende, lehne die Scharia nicht grundsätzlich ab, sehr wohl aber ein gesetzliches Burkaverbot. Die Begründung? Sehr dünn und dürftig: eine ominöse  »Verhältensmäßigkeit« der Unterdrückung der Frau gegenüber einer allgemeinen Beschränkung der menschlichen Freiheit. Heinz Patzelt schwadroniert außerdem artig über die Bekämpfung von Armut, ohne die skandalöse Wiener Bettlerverordnung auch nur anzutippen.

Noch ein Tiefpunkt: der in die USA emigrierte Ökonomieprofessor Jürgen Koppensteiner belästigt uns mit ärgerlichem Gefasel über den ebenfalls emigrierten »intellektuellen Superstar Deutschlands« Hans Ulrich Gumbrecht. In diesem Text ist unablässig von »Amerika« und »Amerikanerinnen« und »Amerika-Verliebten« die Rede, als ob die Vereinigten Staaten schon der ganze Doppelkontinent wären.

Ein Plus hingegen für die Bücher-Seite, wo die Übersetzung eines 26 Jahre alten Romans von Richard Yates und Nicholson Bakers Hommage an die Lyrik besprochen werden. Nur: ein weiteres Buch finden die EXTRA-Redaktion ohne Begründung einfach in der Überschrift »gnadenlos flach«.

Auf der Popmusik-Seite wieder dieses Gemuffel und Gemurkse über »zwischenmenschliche Stimmungen« und »Schulschwänzerhymnen« von vorgestern. Über eine Platte von Supertramp urteilt Bernhard Torsch:: »eine hübsche Mischung aus versponnnen musikalischen Hippieträumen und leicht angejazzten Rocknummern«. – Sofort einstampfen!

Die Kommentar-Seite ist ebenfalls ein Desaster. Oben versucht David Axmann die viel zu steile Kurve vom jüdischen Zwischenkriegspoeten Soma Morgenstern zu heutigem Radiogeschwätz über den Wert des Gehens zu nehmen. Vergeblich. Im zweiten Kommentar dann der schier unerträgliche Satz: »Jeder Mensch, der sich die Mariahilfer Straße des Lebens im Zickzack entlang bewegt, hakt eine andere Einkaufsliste ab«.

Und auch das gibt es nur im Wiener Feuilleton: dass eine Ausstellungsmacherin (Monika Faber) ihre nächstes Ausstellungsobjekt (den Fotografen Heinrich Kühn) in einem redaktionellen Beitrag bewirbt. Es muss nur »Albertina« draufpicken, und schon geht hier alles.

Auf der letzten Seite Selbstauskünfte von Stephan Hafner, einem Adolf-Frohner-Schüler, der sich mit seinen putzigen Hausmodellen für Minimundus in den Kunstbetrieb verirrt hat.


© Wolfgang Koch 2010

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