vonWolfgang Koch 03.09.2018

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Die Welt kennt die Lust dieses Mannes, sich mit etwas einzulassen, was grösser ist als wir; kennt sein Hauptanliegen, aus dem »Haus des Seins« einen goldenen Tempel zu machen. Das hat den britischen Charts-Stürmer David Bowie ebenso angezogen wie es Brigitte Bardot abgestossen hat.

»Ein Barbar! Der neue Caligula!«, rief sie vor 20 Jahren in Wien.

Im Österreich-Ranking der internationalen Celebrities liegt Nitsch durchaus vor Gustav Klimt. Schliesslich war es die Grande Dame der Popkultur, Yoko Ono, die in den 1960ern seinen Ruhm nach Amerika trug. Der kleine Mann aus Grossjedlersdorf trankt Roman Polański, Werner Herzog, Wim Wenders und Christoph Schlingensief unter den Tisch. Damien Hirst sieht in der eigenen Arbeit eine Fortsetzung der seinen. Julian Schnabel liebt ihn und Frankreichs Erfolgsautor Michel Houellebecq schimpft ihn noch heute einen »Dreckskerl«.

Zentrum eines Multiversums

Nitschs Gesamtkunstwerk ist auf einzigartige Weise den Daseinsfreuden wie der Dramatik des Lebens zugewandt. Weil sein Weltzustand einen Kreis bildet, in dem viele Punkte die Mitte sein können, lässt es sich auch ohne seine Werke beschreiben.

Nitsch ist nicht das Weinviertler Unikat, als dass er gefeiert wird, sondern das Zentrum eines weit verzweigten Multiversums. Wenn jeder Homo sapiens auf diesem Planeten über 6,5 Kontakte mit jedem anderen verbunden ist, so bildet dieser Künstler – anders als Beuys das gemeint hat – selbst eine soziale Plastik.

Immer wieder war das OM Theater ein Durchlauferhitzer für spätere Stars: Marina Abramović und Geoffrey Hendricks erprobten sich als Gedärmewühler; Sarah Wiener stand in der Küche des Sechstagespiels; und der Alles-Nicht-Könner Dieter Roth weinte vor Glück über ein Zimmer im Schloss Prinzendorf.

Tausende helfende Hände arbeiten dem Kleinen-Welt-Phänomen zu, indem sie Abkürzungen durch persönliche Beziehungen nehmen. Das soll die Originalität der künstlerischen Leistung nicht schmälern. Doch wo der Weingeist lichterloh brennt, das Fruchtfleisch von einer Schar charakterstarker Menschen wollüstig auf dem Prunk katholischer Messgewänder zerquetscht wird, liegt ein transitiver Kosmos vor, in dem eine Nachricht in kürzester Zeit alle Knoten im Netzwerk erreicht.

Es ist nichts ausgemacht

Ich beobachte seit vielen Jahren die Selbsttätigkeit dieses Werkes, nachdem Menschen mit ihm in Berührung gekommen sind. Da gibt es die Ärztin, die von ihrem ersten Gehalt ein Bild erworben hat und Sammlerin wurde; den Konditormeister, der pünktlich jeden Pfingstsonntag mit einer Torte durchs halbe Land fährt; die Studenten, denen der Knopf im Kopf aufgeht; den Priester, der sein Gelübte an den Nagel gehängt hat.

Ständig begegnet Nitsch Leuten, die ihm freudetrunken bei seiner Kunst behilflich sein wollen: als Akteure und Chauffeure, Köche und Berater, Gourmets und Malgehilfen. Sein Freundeskreis ist schier unüberschaubar.

Die Familien Gadenstätter, Hollmann und Philipp aus Salzburg, Wien und Graz zum Beispiel wirkten in den verschiedensten Rollen am Langzeitprojekt mit: als Förderer und Modelle, Dirigenten, Lieferanten, Sammler und Schüler – alles unweisgesagt durcheinander, sogar den künstlerischen Wunsch des Meisters, mit Leichen zu arbeiten, versuchen seine Fans in den 1990er-Jahren zu realisieren.

Manches funktionierte nicht: Schiessaktionen; die Arbeit mit Leichen blieb John Duncan 1980 in Tijuana vorbehalten. Doch die spezielle Vernetzung der Unterstützer macht das Netz robust gegen den zufälligen Ausfall einzelner Knoten und Kanten.

Zu seinen engsten Freunden zählt Nitsch die Biographin Danielle Spera, die Journalisten Judith Weissenböck und Michael Fleischhacker, Fleischhauer Edi Reiss, Künstlerwitwe Christine Gironcoli, Coiffeur Erich Joham, Hausapotheker Leo Kramer, Anwalt Daniel Charim und den Viszeralchirurgen Alberto del Genio, seines Zeichens Ehrenbürger von Pompej.

© Wolfgang Koch 2018

Fotos: 155. Aktion am 1. September 2018 im NMM, Bildrechte: Hermann Nitsch 2018, Aufnahmen: Wolfgang Kober, Team Niel, Reinhard Ehn.

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