vonWolfgang Koch 07.11.2018

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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In den 1970er und 1980er-Jahren wirkten in der BRD eine Reihe von lebhaften Intellektuellen in mutigen Medien und Verlagen. Sie problematisierten in handlichen Büchern bei Wagenbach und bei Hanser, in den Editionen Tiamat und ID-Archiv die Geisterfahrt des damaligen Linksterrorismus, lieferten kluge Autopsien des Masslosen zwischen Proletkult und Gewaltverzückung, Mobilitätswahn und Abgrenzungswünschen.

Ich spreche hier vom Sozialpsychologen Peter Brückner, den Publizisten Barbara Sichtermann, Wolfgang Pohrt und Klaus Hartung, dem Sozialhistoriker Karl Heinz Roth, und einigen anderen.

Die Namen und Texte dieser Analytiker und Kritiker des »bewaffneten Kampfes« sind heute noch gründlicher vergessen als die blutigen Operationen der fanatischen Aktivisten. RAF-Attentate gelangen mittlerweile nur mehr als Drehbuch von Thrillern ins öffentlichen Fernsehen, wobei dann die Fiktionalisierung der Ereignisse zur Gänze aufs Privatmoralische setzt.

Aber die psycho-pathologische Charakterstruktur von Terroristen und ihren Sympathisanten führt zu keiner befriedigenden Erklärung für ein urbanes Generationsphänomen, dessen dunkler Rausch in den Protesten gegen den Vietnamkrieg begann und in der Stummheit von Friedhöfen und Gefängnissen immer noch nachklingt.

Im Oktober 2017 haben der Filmregisseur Volker Schlöndorff und der Schauspieler Christof Wackernagel die Amnestiediskussion für RAF-Häftlinge in Deutschland neu anzustossen versucht. Vergeblich. Der Appell ohne jedes Echo ging davon aus, dass bei einem Konflikt, der die Menschen in einer Gesellschaft derart hochschaukelt, moralisch beide Seiten schuld sind.

Das Problem sei nur politisch zu lösen, meinten Schlöndorf und Wackernagel: »Politische Amnestie bedeutet die Würdigung der RAF als politische Organisation und ist damit zugleich das Haupthindernis einer Amnestie. Die harte Haltung des Staats ist wohl die wichtigste Ursache der Stagnation dieser Debatte«.

Die deutsche Bundesregierung, meinten die Verfasser, habe jederzeit die Möglichkeit mit einer Amnestie für die Metropolenguerilleros eine Altlast der Bonner Republik aus der Welt schaffen. Dann könne in aller Offenheit über alles geredet werden.

Der Appell verhallte gräulich verfrüht. Er wurde nur mehr von den schrägsten Geisterfahrern der Gegenkultur verbreitet, etwa in Werner Pipers Brösel-Blog im Odenwald. Die Debatte um die RAF, ihre psychosozialen Ursachen, ihre Zeitkritik, das Nachdenken über all die ungeklärten Hintergründe, Zusammenhänge und Täterschaften hat sich aus der Öffentlichkeit schon verabschiedet, bevor die ehemaligen RAF-Mitglieder und die Hinterbliebenen ihrer Verbrechen aus dem Leben gegangen sind.

In dieser gedächtnislosen Situation haben es die Rüsselkäfer und Kohlweisslinge unter den Vögeln und die Sucher nach der Wahrheit unter den Menschen natürlich ausgesprochen schwer. Aber es gibt sie vielleicht noch, die guten alten Fragen nach dem Ursprung der unversöhnlichen Bewegungen und der verbarrikadierten Prinzipien.

Wenn der in Tokio lebende Autor und Übersetzer William Andrews wissen will, wie es damals wirklich gewesen ist, studiert er historische Dokumente und Selbstdarstellungen der Terroristen, interviewt Aussteiger und Überlebende, und er versucht auf diese Weise das pompös Unverständliche der mordenden Weltrevolutionäre ohne die für die deutschen Zeithistoriker und Verschwörungstheoretiker typische biographische Detailversessenheit nachzuzeichnen.

Andrews berichtet von Blockaden linker Gruppen gegen US-Nachschubbahnhöfe am Ende der 1960er-Jahre, von Kampfdemonstrationen gegen die Enteignung von Äckern für einen Miiltärflughafen. Ganze Bauerndörfer verbündeten sich mit den Studierendengewerkschaften von 60 Universitäten des Landes; Eisenbahner soldarisierten sich in wilden Streiks. Die jungen Aktivisten erlernten im »antiimperialistischen Widerstand« die Kunst des Stockfechtens, um sich gegen den polizeilichen Ansturm auf Blockaden und Besetzungen zu wappnen. Arbeiter griffen zu Molotow-Cocktails.

In diesem aufgeheizten und gewaltschwangeren Protestklima entstand 1969 die RAF-Japan (Senkigun-ha), von der bis Jahresende 290 Kombattanten im Gefängnis endeten. Man kann im Rückblick sagen: Die universitäre Linke Japans absolvierte den Schritt vom politischen Bewusstsein vom militanten Widerstand und den Sprung vom militanten Widerstand zur Guerilla in absolut beunruhigender Dringlichkeit.

Die zusammengeschlossenen Hochschülerschaften (Zengakuren) boten einer Anzahl von Funktionären ein unabhängiges Einkommen. Sie konnten sie überall von linksradikalen Gruppen dominiert werden, die sich in Opposition zur Kommunistischen Partei befanden. Aus einer Splittergruppe der KP-Jugend, dem Bund der Kommunisten (Kyōsandō), ging Ende August 1969 die RAF hervor. Der Anführer dieser »globalen Roten Armee« hiess Shiomi Takaya, stammte aus Hiroshima, studierte in Kyoto und war gerade erst 28 Jahre alt.

Shiomi starb mit 76, nach zwanzig Jahren Haft und einem späteren Dasein als Parkplatzwächter und Seniorenaktivist, im November 2017. In seinen kurzen Tagen als romantischer Aufrührer und RAF-Gründer verknüpfte er Trotzkis Forderung einer simultanen Weltrevolution mit der Agitation einer trainierten Guerillaarmee.

»Wir haben jetzt den Faschismus in Japan«, hiess es in den ersten Papieren dieser Möchtegern-Partisanen. »Der Erfolg unseres politischen Programmes hängt ab von unserem militärischen Programm«. Nach den Stockkämpfen könne man nur noch tödliche Waffen und Bomben in die Hand nehmen.

Den ersten Toten gab es allerdings nicht beim erwarteten Feindkontakt, sondern bei einem internen Machtkampf verschiedener Zengakuren-Fraktionen. Ende September 1969 schritt dann die selbsternannte Weltarmee in Osaka und Tokio tatsächlich zur Tat und warf Molotow-Cocktails auf Polizeistationen.

Von diesen Brandflaschen und Benzinbomben beschlagnahmen die japanischen Behörden allein in den letzten drei Monaten des Jahres 1969 über 10.000 Stück. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung, im März 1970, plante Shiomi bereits Flugzeugentführungen. Umgesetzt wurde seine neue Taktik vierzehn Tage später ohne ihn mit einer Boing 727 der Japan Airlines.

Neun Terroristen, nunmehr unter der Führung eines 27jährigen Kommandanten, der Jüngste war 16, kidnappten den Flieger im Stil Münchhausens mit Samuraischwertern, Bomben- und Pistolen-Attrappen. Um nach Nordkorea zu jetten, war allerdings nicht genug Sprit im Flugtank vorhanden.

Die sogenannte Yodogō-Entführung stoppte zunächst in Kimpo nahe Seoul, wo die alarmierte südkoreanische Luftwaffe eilends ein Attrappen-Pjöngjang errichtet hatte. Die Kulisse verrutschte, das monströse Ereignis kippte vom Lächerlichen zurück ins Monströse. Nach achtzig angespannten Stunden kamen die Geisel im Tausch gegen einen japanischen Vizeminister frei.

Vor dem Weiterflug in das echte Pjöngjang, wo die Gruppe umgehend mit der Ideologie der nordkoreanischen Diktatur indoktriniert wurde, verlasen die Entführer eine Deklaration, die mit den bemerkenswerten Worten endet: »Wir sind Ashita no jō!«. Der hier zitierte »Morgen-Joe«, in dessen Namen ein internationales Gewaltverbrechen verübt wurde, war in Japan niemand anderes als die populäre Manga-Figur eines jungen Boxers.

So bizarr wie die Flugzeugentführung begonnen hatte, endete sie auch. Die antiautoritären Helden der RAF-Japan verdingten sich nach ihrer Landung am neuen Zielort als willige Helfer der nordkoreanischen Geheimdienste. In den folgenden Jahren holten die Männer still ihre Ehefrauen aus Japan nach, die wiederum in den 1980ern an der Entführung von Japanern in europäischen Städten beteiligt gewesen sein sollen.

Der japanische Ché in Haft, das erste Kommando im Dienst des stalinistischen Diktators Kim Jong-il – ein Fiasko der Sonderklasse! Allein die Logik dieses Terrors war eine der Selbstermächtigung, und die lässt sich durch keine Komik beirren.

Der Rest der RAF-Guerrilleros vereinte sich mit einer nicht-studentischen Gruppe im Land, der Vereinigten Roten Armee, und 24 Kader versuchten ab Oktober 1971 mit geplündertem Geld und gestohlenen Jagdgewehren eine Basis in den Bergen der Präfektur Gunma zu schaffen.

Auch dort war der Anführer, Nagata Hiroko, 27 Jahre alt, die meisten Hüttenbewohner um die Zwanzig. Im Dezember 1971 fing die Gruppe an, ihre eigen Mitglieder zu lynchen. In den wenigen Wochen bis Februar 1972 starben zwölf der Untergrundkämpfer unter den grausamsten Umständen von Hand ihrer Genossen und Genossinnen.

Das bis heute grösste Rätsel: Warum hat niemand von den Gelynchten vor seiner Hinrichtung auszusteigen oder aus den Bergen zu fliehen versucht? Andrews macht das »inhärente japanische Verhaltensmuster« des Gruppenkonformismus für die Säuberungen verantwortlich, andere Kommentare den enormen Verfolgungsdruck durch die Polizei.

Beide Antworten befriedigen nicht. Die rhetorisch Selbstherrlichkeit der Kapos lässt sich zum Beispiel sehr gut mit der Diktatur der freien Sexualität durch Otto Mühl in seiner burgenländischen AAO-Kommune ab 1972 vergleichen. Die tyrannische Energie führte in beiden Fällen ein Eigenleben in den Strukturen, die man sich gemeinsam geschaffen hatte.

Die Abweichler von der richtigen Linie oder vom Sprachgebrauch der RAF-Anführer wurden wegen geringster Missetaten wie Schminken, Masturbation oder mangelnder Selbstkritik verhört, gefoltert, vor ein Tribunal gestellt, und anschliessend erstochen, dem Hungertod oder dem Erfrieren ausgeliefert.

Als nach einem Umzug und der Belagerung eines neuen Unterschlupfes, der Asama-Hütte, die kannibalistische Wahrheit der inzwischen 51 »Revolutionäre« ans Licht kam, übertrugen die TV-Stationen Marathonsendungen live in alle japanischen Haushalte, und auch die Belagerten sahen sich selbst am Schirm.

Mit dem mehrteiligen Hütten-Drama war der Spuk allerdings nicht zu Ende. In der Folge entwickelten untergetauchte Kader neue terroristische Strategien, mit denen sie sich nach Innen oder nach Aussen wandten. In Tokio und Osaka versuchten Aktivisten vergeblich das Lumpenproletariat und die Taglöhner der Armenviertel zu militarisieren, andere erkannten im indigen Volk der Ainu und in der Minorität der Koreaner das »revolutionäre Subjekt«. So kritisierte man nicht mehr allein den »amerikanischen Imperialismus«, sondern auch das eigene Land.

Eine Nachfolgeorgansiation der RAF, die Japanische Rote Armee, verlegte sich auf das Ausland. VRA-Mitglieder benötigten kein revolutionäres Subjekt als sich selber. In ihrem ersten Akt der Weltrevolution erstachen sie einen 21jähigen Wachsoldaten, um Waffen in einer Kaserne zu requirieren. Dann sandte die VRA ihre Leute zur militärischen Ausbildung nach Nordvietnam, Kuba und in den Nahen Osten.

Besonders die palästinensische Sache im Libanon hatte es den Japanern angetan, eine zirka 20köpfige Truppe lebte für knapp dreissig Jahre kontinuierlich in Palästinenserlagern im libanesischen Bekaa-Tal. Im Terror gegen Israel kam die nachweisliche Stasi-Agentin Shigenobu Fusako, Decknamen Samira, als sympatisches Gesicht der internationalen Solidarität ins Spiel. Im Büro des PFLP-Terroristen George Habash bereiteten die Japaner die Entführung des Sabena-Fluges 571 durch ein Kommando des Schwarzen Septembers vor.

Am 30. Mai 1972 befanden sich etwa 300 Menschen in der Ankunftshalle des Tel Aviver Flughafens Lod. Drei Japaner kratzten noch rasch die Fotos aus ihren gefälschten Ausweisen, als die Koffer auf den Gepäckbändern hereintransportiert wurden, um ihren Familien zu Hause die Schande zu ersparen, die sie ihnen in den nächsten Minuten bereiten würden.

Sie zogen Schusswaffen und Handgranaten aus dem Gepäck, stellten sich Schulter an Schulter in die Mitte der Halle und mordeten drauf los. Bilanz des Massakers: 26 Menschen tot und über 78 (im Buch 70) verletzt.

Der Planer war ein Palästinenser. Die beiden Komplizen des 25jährige Okamoto Kōzō überlebten das Blutbad nicht. Alle drei VRA-Attentäter wurden mit dem Massaker zum Vorbild für Palästinenser, Araber und Dschihadisten in der ganzen Welt.

Aus der Holocaust-Forschung wissen wir, dass jeder Versuch, die Unbegreiflichkeit von Auschwitz festzuschreiben, zu einer negativen Ontologie tendiert. Wo nichts mehr gedeutet wird, wo die methodische Reflexion und Selbstreflexion aussetzt, tangiert uns auch moralisch nichts mehr.

Es ist heute schwer zu erklären, wo die Bewegungslinke aufgehört hat, Schlussfolgerungen aus ihren letzten Zivilisationsbrüchen zu ziehen. An den Rekonstruktionsmöglichkeiten der historischen Wahrheit kann es, wie dieses schmale Buch zeigt, nicht liegen.

Die gegenrationale Handlungslogik der Terroristen liegt seit der Tat offen vor aller Augen. Okamoto gab vor Gericht an, er habe beim Anschlag sterben und als Märtyrer der Revolution ein »Stern am Himmel« werden wollen. Er liefert damit den Beweis, dass kindliche Interessen zeitlos sind.

Okamotos Vater hingegen, ein pensionierter Volksschullehrer, schrieb an die israelische Regierungschefin Golda Meir: »Exekutieren Sie meinen Sohn so schnell wie möglich«.

Dazu ist es nie gekommen. Der Killer von Lod lebt seit einem Gefangenenaustausch 1985 wieder in Freiheit; im Jahr 2000 gewährte ihm die libanesische Regierung in aller Unschuld der geltenden internationalen Flüchtlingskonventionen politisches Asyl.

© Wolfgang Koch 2018

William Andrews: Die Japanische Rote Armee Fraktion. Vorwort von Gregor Wakounig. Wien, Tokio: bahoe books 2018, ISBN 978-3-903022-77-5, 150 Seiten, EUR 15,-

Bild: Das Cover-Girl des Linksterrorismus, Shigenobu Fusako. bahoe books

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