vonWolfgang Koch 18.12.2018

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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1900er: Élan vital, Revolte gegen den Rationalismus, Leben als eine Sache der Energie, Kunst als Religion, das sensationelle Ereignis zählt. Eigenwert der Frau und transzendentes Zukunftsversprechen. Ästhetischer Imperialismus, der schlicht nach allem verlangt.

1910er: Imagination und Handeln bewegen sich aufeinander zu, Romantizismus kreuzt Technizismus. Erschöpfung des bürgerlichen Zustandes, Heroismus der Schwäche, Konzentration auf den faustischen Augenblick. Intensivierter Zerstörungstrieb; Krieg als Bewährungsprobe für die Vitalität und Lebensstärke des Arteigenen. Unter Beschuss ertragene absolute Sinnlosigkeit.

1920er: Der Puffer zwischen Denken und Handeln als unumstösslicher moralischer Kodex ist verschwunden. Klassenbewusstsein und das Gefühl des Verrücktwerdens. Filmisch fragmentierter Raum, konjugierte Zeit. Gleichheits- und Solidaritätspostulate, die Erzählung einer konfliktfreien Zukunft.

1930er: Mathematische Träume von einer präzisen, quantifizierbaren Welt. Intuition und Vergötterung der Dynamik. Verdunkelung der Unfreiheit, die Suche nach Cäsar. Idee der Zukunft als eines absoluten Mythos. Leibeskultur, Halt der Uniform und Einwärtsbeugung der Sprache.

1940er: Der gewaltsame Archaismus autoritärer Regimes will das Leben in eine schöne Sache verwandeln. Auslese der Leistungsbereiten, Apotheose des diesseitigen Idealismus, Heroismus des Absurden. Der Drang zu Schaffen und der Drang zu Zerstören tauschen erneut die Plätze. Kitsch als Maske des Todes.

1950er: Empirischer Individualismus der Aufklärung, öffentlicher Rauchkult, Leistungswahn und Depression, Selbstfahrer an Tanksäulen, Wertegeschwätz. Die Plumpheit egalitärer Waffendemokratie: aufrichtige Todfeinde und die hypothetische Behandlung von Atomflüchtlingen. Logik ist Bewusstsein des Selbstseins.

1960er: Ausweitung des Modells des westlichen Produktivismus auf die ganze Welt. Die Ware, denunziert als getrenntes Übel. Flowerpower, LSD-Pazifismus, Aquarius-New-Age. Uns ist nichts unmöglich, wir können alles tun. Ein emphatischer Begriff von Vernunft: Aufhebung der Selbstunterdrückung, Entlarvung des demokratischen Scheins. Unversehrtheit des Kommenden und ein unentwirrbarer Sturm aus freudomarxistischer Orgasmuskunde.

1970er: Arbeiterismus, Betroffenheit, Erfahrungsfrömmigkeit, aber auch zur Schau getragenes Delirium und Denken in Begriffen wie Kontext und Zusammenfluss. Lust beim Umgang mit Ideen und Fakten. Sich-Wehren gegen die Gewalt der verinnerlichten Zwänge, Standhalten als Moment der Selbstidentifikation. Sinnmuster der Anti-Haltungen: Alltagserdung, Apologie der Abweichung, Rückkehr der aus der Geschichte Herausgefallenen.

1980er: Ende der Zeiten, Abschied von Wahrheit, Geschichte und Politik. Die Zivilisation hat ihren Siedepunkt überschritten, tritt auf der Stelle; Ereignisse finden nur mehr als Simulation auf dem Bildschirm statt. Agonie des Realen nach der Tod der Moderne.

1990er: Selbstwert-Obsession, Kunst des Loslassens. Bruch zwischen Nord und Süd und der daraus hervorgehende Gedanke des Limes. Unmöglichkeit eines neuen Gleichgewichts. Stromabriss der Aufklärungskritik. Wiederkehr des Religiösen als Kampf der Kulturen. Hyperbolische Ästhetik. Kulturell statt biologisch begriffene Geschlechterdifferenz.

2000er: Eingemeindung in Verwertungszusammenhänge, Regime der Selbstführung, Oberflächenüberladung. Die hypersexualisierte Moderne: Ekstase des Geschlechts im Stimulations-Entertainment. Logik pathetischer Eskalation, Entleerung der Rückzugsräume, Schmerz des Nichtwissens. Erschöpfung des politischen Betriebs, chronische Selbstanklagen der Demokraten. Sehnsucht nach Desidentifikation und Nondualität.

2010er: Wuchern der Affektlandschaften. Kultur des Verdachts, Konzepte der Distanz trotz der unmöglichen alten Unterscheidung nah/fern. Arroganz der Eliten und Feindseligkeit gegenüber allen Erscheinungen des Abstrakt-Universalen. Wahrheitsvermeidung, die Schmerz in irreale Zeit verwandelt. Diktatur der Sichtbarkeit: Sehenwollen, was real nie sichtbar sein wird.

© Wolfgang Koch 2018

Portrait: Barbara Philipp 2013 (Ausschnitt)

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