vonWolfgang Koch 04.07.2022

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Es ist in den letzten sechs Jahren kein wertvolles Buch über die wichtige Wiener Institution der Gemeindebauten erschienen. Jeder Stein schon scheint drei Mal umgedreht worden zu sein. Kein Reiseführer, der ohne Hymne auf die Bautätigkeit des Roten Wiens auskäme. Jedes Kind scheint in der Donaumetropole schon zu wissen, dass mit dem Gesellschaftsmodell der »sozialdemokratischen Stadt« in den 1920er-Jahren die Räteaufstände der Ultralinken in der »Österreichischen Revolution« (Otto Bauer) abgewehrt worden sind, und vor jeder Kebab-Bude kann man hören, dass selbst noch der Massenwohlstand ab den 1960er-Jahren in der Gemeinschaftswaschküche der Superblocks seinen Anfang gefunden hat.

Aber ganz so einfach ist es eben nicht. Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass diese Legenden bestenfalls zur Hälfte wahr sind. Wien monumentales Wohnbauprogramm entwickelte sich unter personeller Kontinuität der Architekten unmittelbar aus den inmitten des Ersten Weltkriegs geplanten »Kriegerheimstätten«. Das kaiserliche Konzept für die Familien invalider Soldaten wurden in den Jahren des Wohnungselends von der roten Kommune einfach übernommen.

2016 brachte ein Wiener Neustädter Verlag, also kein Wiener Publikationshaus, den rundum gelungenen Essayband ›Leben in Wien‹ des Sozialwissenschafters und Altachtundsechzigers Karl Czasny heraus. In diesem Werk wird auf sehr beeindrucke Weise das persönliche Scheitern des Autors im grauen Gründerzeithof und das Erfolg-Haben im Plattenbau beschrieben.

Czasny erinnert sich in seiner Wohnbiographie aufschlussreich an den Schimon-Hof in Wien-Penzing, an der Westausfahrt der Stadt gelegen. Er sieht im Rückblick auf das Leben in diesem Superblock ein kleines Paradies aus regen Nachbarschaftsbeziehungen, wie etwa im Verhältnis der Bewohner*innen zu einem Heimwerker. »Da meine Eltern keinerlei handwerklichen Ehrgeiz besassen, erledigte den grössten Teil der aus ihren Modernisierungs- und Verbesserungswünschen resultierenden Arbeiten ein auf unserer Stiege wohnender, pensionierter Postler, der wegen seiner Präzison und dem konkurrenzlos niedrigen Niveau seines Stundensatzes von den Wohnungsrenovierern des gesamten Viertels wie ein Heiliger verehrt wurde«.

Aufrechte Proletarier und ehrliche Pfuscher –  das wäre die erste Facette der Klassenliebe. Czasny skizziert das den Schimon-Hof unsichtbar durchziehende Netzwerk der ansässigen Arbeiterfamilien, das heisst die Welt der Buchklubhefte und der Bastlerhöhlen, das Bildungsheim der Partei mit dem Sektionslokal, die Konsumfiliale, den Kaufmannsladen und das nahe gelegene Wirtshaus. Die Mutter des Autors fühlte sich allerdings in einem Hietzinger Kaffeehaus wohler. Und Czasys Vater, dessen Jugendfreunde, die den Krieg überlebt hatten, ebenfalls im Block wohnten, liebte das Arbeiterheim mehr wegen der Möglichkeiten, die es bot, als wegen der Möglichkeiten, die er tatsächlich nutzte.

»Auch, wenn er sich aus den sozialen Netzen, die sein Zuhause bildeten, weitgehend ausgeklinkt hatte, stand hier doch alles in Bereitschaft für ihn, schien gewissermassen nur auf ihn zu warten. Er machte keinen Gebrauch davon, weil er sich in seinem Berufsleben als Gewerkschafter vielfältige neue Netzwerke aufgebaut hatte, und weil er sich das, was dabei an sozialer Wärme fehlen mochte, in der Intimität seiner Kleinfamilie holte. Für das Erleben dieser Intimität aber war die Kleinheit unserer Wohnung vermutlich sogar von Vorteil. Hier konnte man einander einfach nicht aus dem Weg gehen. Hier war persönliche Nähe schon aus räumlichen Gründen so gross, dass Nestwärme wie von selbst entstand«.

Eine treffendere sozialpsychologische Darstellung des Gemeindebaulebens als diese haben wir, trotz Tonnen von beschriebenem Papier, bis heute nicht. Die Wiener Superblocks waren keine realisierte städteplanische Utopie von oben, kein »Sozialismus in einer Stadt«, sondern Massnahmen einer kollektiven Notwehr, um den Zinsgeiern der schäbigen Substandardwohnungen mit den weit überhöhten Mieten zu entkommen.

Und nach dem Zweiten Weltkrieg, da blieben die Superblocks schlicht vom ganz normalen Wahnsinn der alltäglichen Stadterneuerung verschont. Auf diese Weise mauserten sie sich zu jenen Oasen, die viele Jahrzehnte lang durchaus besser zum grossstädtischen Lebensstil passten als die mühsam zu beheizenden, mit Gelsen, Laub und Schnee kämpfenden, abseits von öffentlichem Verkehr und Infrastruktur gelegenen Nobelvillen in Hietzing, Währing und Döbling.

© Wolfgang Koch 2022

Fotos (teils Ausschnitt): Gisela Erlacher

Gisela Erlacher: SUPERBLOCKS. Hommage an eine Utopie. 117 Seiten, 318 x 234 mm, Kerber Verlag: Bielefeld 2022, 40,- EUR, ISBN-13: 9783735608109

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