vonWolfgang Koch 20.07.2022

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Knapp vor der Jahrtausendwende bilanzierte der 2001 verstorbene italienische Romancier Francesco Biamonti seine Epoche, und es ist im Rückblick erstaunlich, wie dieser Autor damals von seiner selbstgewählten Eremitage in Ligurien aus den Aufbruch der 1990er-Jahre wahrgenommen hat. »Die Zeit scheint zu schwanken«, schrieb der Italiener. »Etwas Neues scheint in Westeuropa zu entstehen und gleichzeitig kehrt ein verstümmeltes Russland in die Asche des Sowjetimperiums zurück. Die Erde begleitet von ihrer eigenen Kindheit und ihrem eigenen Schatten.«

Besass dieser lyrische Erzähler, der ganze Romane hindurch vor allem vom Wind und von den Wolken, von Licht und von Schatten sprach, dieser Autor, der wie besessen Schönheit und Eigensinnigkeit von Atmosphären schilderte, auch ein besonderes Gespür für die Zeitenwende, die sich nunmehr zwei Jahrzehnte später vollends entfaltet? Schwer zu glauben, aber durchaus im Bereich des Möglichen der Literatur, so sie tatsächlich Literatur ist und nicht bloss Unterhaltungsware, in der zwar alles möglich ist, aber nichts Folgen hat.

2022 wurde in der Ukraine das Leben von Millionen von Menschen auf den Kopf gestellt. Europa erlebt den seit einer Generation grössten Krieg in seinem sechstgrössten Land, und die Schmerzen und Verwerfungen, die er verursacht, erstrecken sich auch auf Menschen in fernen Ländern, wo durch die Klimakrise auch so schon eine Menge falsch läuft.

Wir erleben heute in Ost und West gegenseitige Feinderklärungen von einer Intensität, wie sie nicht einmal in der heissen Phase des Kalten Krieges möglich waren. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, das einstige Organ der sprachführenden Intelligenz in Deutschland, verkommt zu einem Echoraum der ukrainischen Nato-Propaganda. Es vergeht kein Tag, an dem dort der Pazifismus nicht mit Häme überzogen wird; die Medienredaktion bejubelte den aggressiven Botschafter Andri Melnik; ein Gastkommentator verglich das Butscha-Massaker mit dem Massenmord von Auschwitz; und Konfliktforscher deutscher Universitäten warnen in der finsteren Manier von Winkeladvoktaten vor dem sofortigen Waffenstillstand in einem Krieg, in dem Tag für Tag rund einhundert Männer der russischen und der ukrainischen Streitkräfte fallen.

Die Kriegsparteien dürfen auf keinem Fall zu einem Frieden gedrängt werden, sagen der Polemologe Thorsten Becker (Marburg) und der Politikwissenschafter Andreas Gawrich (Gießen), das Gemetzel müsse sich erst »in einer Pattsituation« militärisch erschöpfen; an der »robusten Antwort des Westens« müsse so lange wie möglich festgehalten werden. Denn wer sich zu einer Feuerpause gedrängt fühle, der könne nicht das für die späteren Verhandlungen notwendige Vertrauen in die Bereitschaft der anderen Seite aufbauen.

Ach herje! Mit diesem akademischen Blutschaum werden heute in den Leitmedien die Köpfe der Insitutionengläubigen und der Autoritätsbedürftigen vernebelt, mit solchen »Forschungsweisheiten« sträuben sich die Kriegstreiber im ukrainischen Lager gegen die Einsichten, a) dass das umkämpfte Land in Zukunft geteilt werden muss, b) dass in dem kommenden Friedensprozess die Bevölkerung über die territoriale Zugehörigkeit entscheiden muss, und c) dass Frieden grundsätzlich und überall nur mit Hilfe einer von beiden Streitparteien anerkannten überparteilichen dritten Kraft hergestellt werden kann – sei das die UNO, seinen es die Neutralen und Allianzfreien –, weil noch keine ehrliche Verhandlungsoption je wo durch die Kriegsparteien selbst auf den Tisch kam.

Man kann im Frankfurter Intelligenzblatt heute Sätze lesen wie: »Die Schuld an der Gasnot trifft jedenfalls nicht die aktuelle Regierung, sondern ist die Folge von Putins Politik«. Das steht nicht in den Leserbriefspalten, sondern im Leitkommentar. Na, hallo: Wer hat den die vollkommen überzogenen Wirtschaftsanktionen gegen die Russische Förderation beschlossen und sich selbst damit zur Kriegpartei gemacht? So vergesslich sind wir alle noch nicht.

Was dem europäische Gesamtinteresse heute rundum fehlt, was ihm fehlt wie lebensnotwendige Atemluft, ist Ideologiekritik, also die Fähigkeit das Argumentationswirrwarr der Falken in diesem Krieg beiseite zu schieben und die dramatischen Fehlgriffe des politischen Handels in den Blick zu nehmen. Die Kommentatoren unserer Leitmedien behaupten unisono, dass eine neue geostrategische Auseinandersetzung zwischen Russland und China auf der einen Seite und dem demokratischen Westen auf der anderen Seite die Weltpolitik präge und noch über Generationen prägen werden. Aber einen »demokratischen Westen« gibt es überhaupt nicht.

Es sind nicht die Werte, und schon gar nicht die demokratische Werte Meinungsfreiheit, pluralistische Perspektive und Minderheitenschutz, die die Nato-Staaten miteinander verbinden, sondern die handfeste strukturellen Interessen ihrer Wirtschaften, inbesondere die Sicherung von Produktionsstätten, Rohstoff- und Absatzmärken. Der »demokratische Westen«, der auf höchster Regierungsebene andersdenkende Äusserungen zum Kriegsgeschehen verbietet und bedenkenlos internationale Abkommen über den Kapitalverkehr bricht, um russisches Privateigentum im Ausland zu konfiszieren, dieser »demokratische Westen« steht keineswegs einem Globalen Süden gegenüber, der böswillig seine eigene Interessenpolitik betreibt.

Nein, wir haben es seit Syrien und Afghanistan mit einer Serie von katastrophenhaften militärischen Niederlagen der westlichen Allianzen zu tun, vergleichbar dem Vietnam-Trauma der USA ab Mitte der 1970er-Jahre. Der von drei Seiten mit politischem Kalkül herbeigeführte Krieg in der Ukraine dient im Westen wie im Osten dazu, alle finanziellen Schranken und öffentlichen Bedenken gegenüber der militärischen Hochrüstung wegzuräumen und die Gegenwart als jenen Ort von Durchhalteparolen einzurichten, in dem sich die Jugend um den Heldentod bewirbt.

Das Sterbenmachen in der Ukraine hat von keiner Seite eine moralische Berechtigung, weder von der Russischen Föderation noch von der Ukraine, und schon gar nicht von Seiten der Unions- und der Nato-Staaten. Ich sage darum: Das Danebenhauen, die hochgezüchtete Technik der Heuchelei und das tägliche Versteckspiel mit der Wahrheit sollte den Mainstream-Medien nicht mehr einfach als Berufsschwäche der Journalisti*innen vergeben werden.

»Krieg ist wirklich eine Gelegenheit ohnegleichen, sich selbst zu übersteigen«, schrieb die französische Dichterin Laure (Colette Peignot) in ihrer autobiographischen ›Geschichte eines kleinen Mädchens‹. Der Text hat schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel, aber er erklärt die Fehlgriffe, Fallstricke und die Schadenfreude der Meinungführer wahrscheinlich tiefgründiger als die meisten Analysen der Gegenwart. »Sie brauchen Tanks und Leichen, um sich lebendig zu fühlen, grosszügig und tranzendent«, notierte Laure über die Informationselite ihrer Zeit. »Das graue und glanzlose Leben wird blutrot und morgen noch tauschen sie die im Büro ausgemerzte Jacke für eine Kreuzfahrerausrüstung mit Unteroffizierstressen ein«.

Getötete Menschen, vertriebene Bevölkerungen, zerstörte Siedlungen, vernichtete Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften – es gibt im dichtbesiedelten Europa keine militärische Defensivstrategie, die ein lebenswertes Leben zu schützen vermag. Jeder militärische Widerstand zerstört heute, was er zu verteidigen vorgibt. »Verteidigungsarmeen« sind kompromitierende Illusionen der politischen Klasse im Schmelz der Paraden, die allein den Interessen der Rüstungsunternehmen und den Arbeitsplatzgarantien der Metallergewerkschaften dienen.

Die Soldaten an der Front, die jeden Tag verrecken, sie verrecken umsonst. Die Staatsspitzen Europas schlagen die ganze Ordnung der Dinge kurz und klein, während dahinter längst nicht mehr alles beim Alten ist. Sehenden Auges fegen die Staatsspitzen Europas Frieden und Wohlstand von der Erde. An jedem Handymasten ein Schweinehund! Klimapolitisch hätten wir ja niemals einen Grund, über eine Dezimierung der Menschheit zu klagen. Aber derart zynisch ist die Moral im russisch-nordatlantischen Ukrainekrieg gar nicht beschaffen. Es ist das moderne Gemüt, sich blindlings der Mehrheitsmeinung anzuschliessen, die Lust, Helden zu bewundern – das gibt den Ton an.

Generäle sind eher ungünstige Grundlagen des Lebens, aber diese Leute wissen wenigstens genau, mit welchen Gefahren sie spielen. Anders als ihre vorgesetzten Regierenden leben sie nicht in einem bonapartistischen Augenblick, in dem alles möglich ist, aber nichts Folgen hat. Militärs kennen die Eskalationspiralen in einem Konflikt, die Vorposten im Trichtergelände, den Stapel von Leichensäcken.

Die politische Klasse hingegen kapert in Schockwellen die öffentliche Meinung; während die Waren in der Fetzenwelt immer freier zirkulieren, errichten die gesetzgebenden Versammlungen Mauern, die die Menschen voneinander trennen, sie beschliessen Ausnahmezustände bis hin zum offenen Krieg.

Das ist allerdings nichts Neues. Deutsche Sozialdemokraten haben noch in jedem grossen Gefahrenmoment der Geschichte politisch fatal reagiert, sie haben, um nicht als schlechte Patrioten (sprich als »Vaterlandsverräter«) dazustehen, 1914 gigantische Kriegskredite der imperialen Regierung bewilligt. Deutsche Sozialdemokraten haben in den 1930er-Jahren, wie einer ihrer mutigsten, Carlo Mierendorff, festgestellt hat, »anstelle einer Widerlegung des Nationalsozialismus der NSDAP sich in eine Konkurrenz darum begeben, ob Nationalsozialisten oder Sozialdemokraten die besseren Deutschen sind«.

Und heute, in der angeblich geläuterten Gegenwart von 2022, wünscht sich SPD-Kanzler Olof Scholz »einen Schulterschluss der Demokraten gegenüber den autoritär geführten Regimen der Welt«. Ein wohliges Schaudern gleitet durch die Reihen. Konflikte lösen, bevor sie in Gewalt münden – das war einmal. Die Demokratie verkommt in dieser Lage zu einem Kampf zwischen Trollen und Lügnern.

Es gibt im Grunde nur einen einzigen Namen, auf den die deutsche Sozialdemokratie heute ein Recht hätte, stolz zu sein, und das ist der von Genosse Fritz Kunert (1850-1931). Fritz Kunert war der einzige Abgeordnete, der sich im Deutschen Reichstag im August 1914 beim Beschluss der Kriegskredite seiner Stimme enthielt. Von soviel Abweichung von der Parteilinie, von soviel Mut zum Selberdenken können die Genossen und Genossinnen heute nur träumen.

Gemeinsam mit den deutschen Atom-Grünen beschwören sie lieber die Verkriegerung des Kontinents und versuchen die Gewaltsaat mit moralischer Rhetorik zu bewältigen. Die Koalitionsregierung in Berlin bedenkt keine Institutionen mit Misstrauen, nicht die Nato, nicht Washington, nicht die Rüstungslobby, nicht die Medien, sie schürt bloss die kollektiven Ängsten vor dem sozialem Abstieg, multipliziert die Massenfurcht vor eingeschränkten Mobilität, vor der Hitze, vor der Pandemie und der Verwandlung der Welt in ein Flüchtlingscamp.

»Alles nichts gegen den Schrecken der Front!«, könnte man einwenden. Es ist doch immer noch besser unter der Verherrlichung eigensinniger Lügen, mit Sanktionspaketen und Waffenlieferungen, zu leben, als behelfsmässige Gräber in der Nähe von Mariupol zu schaufeln. Das ist natürlich richtig. Historisch aber ist es unvernünftig und falsch, sich von der Öffentlichkeit ständig Angst einjagen zu lassen. Denn ohne die elf Millionen sowjetrussischer Soldaten, von denen acht Millionen in Kampfhandlungen für die Freiheiten der Gegenwart gefallen sind, existierte diese Grossmäuligkeit von Kanzler Scholz und seiner Regierung doch gar nicht. Ohne die kollektive Rettungsaktion der Russen, ohne die von einem autoritären Regime in den deutschen Tod geführten Vater und Grossväter der neuen Feinde, wäre die Arbeiter*innen-Partei von Fritz Kunert aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges überhaupt nicht wieder auferstanden.

Die beiden Deutschlands mögen sich nach 1945 ehrlicher entnazifiziert haben als Österreich, dessen Nachkriegsgeneration sich an einen Entlastungsmythos (»Hitlers erstes Opfer«) klammerte. Aber das wiedervereinigte Deutschland hat nie Sühne für den Tod, für die im Zweiten Weltkrieg hingemordeten, gewaltsam ums Leben gebrachten Soldaten der russischen Nation geleistet, es hat bloss die Vaterlandsidee der Vorgestrigen vertauscht gegen den nebulosen Begriff der »westlichen Allianz«, deren grandiose Arbeitsergebnisse wir aktuell in den Ruinenlandschaften Syriens, den verhüllten Frauen Afghanistans und den Kaputtstädten am Schwarzen Meer bewundern dürfen.

Wie soll in Europa wieder Frieden entstehen, wenn selbst der deutsche Kanzler und seine Ampelregierung keinerlei Anstalten machen, den Krieg durch Verhandlungen zu lösen? Diese Leute giessen ständig Öl ins Feuer, indem sie keine andere Erzählung zulassen als die tyrannophobische, dass ein irrer Widergänger von Hitler namens Putin grundlos oder aus Freiheitshass heraus die vollkommen unschuldige Ukraine überfallen hat und dort aus purer Mordlust ein monstöses Kriegsverbrechen nach dem anderen begeht.

Verhetzung, Verfeindung, Verkriegerung lautet die einzige Agenda der freiheitsliebenden Welt. Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, hat schon im April in deren Namen vollends die Maske der demokratischen Kultur abgelegt. Damals liess dieser »Held« den russischer Bronzearbeiter im Denkmalensembles in der ukrainischen Hauptstadt symbolträchtig köpfen.

Auf die Demontage dieses Monuments der ukrainisch-russischen Völkerfreundschaft mit sechzig Metern Spannweite aus Titanblech folgte das Verbot russischer Musik in der Ukraine. Inzwischen werden auch Wehrdienstverweigerer in dem Staat, der angeblich die Wertgemeinschaft gegen das Besatzungsregime verteidigt, entgegen den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verhaftet und zu horrenden Geldstrafen verurteilt.

Ein Friedensdenkmal köpfen! Verteidigt sich so das freie Auge gegen den autokratischen Zynismus? Russische Musik verbieten! Verteidigt sich so das freie Ohr gegen die autokratische Lüge? Deserteure einsperren! Verteidigt sich so die Ordnung der Freie Welt gegen autokratische Gewaltbereitschaft? Das glauben doch nicht einmal die Bären.

Auf der Gegenseite läuft es kaum besser. Auch dort pflegt man die entsetzliche Bildsprache des Absoluten. Eine satte Mehrheit der 144 Millionen Bürger*innen der Russischen Föderation erkennen im gegenwärtigen Konflikt eine Wiederholung des Befreiungskriegs gegen Hitler-Deutschland und seine Vasallen, welche die Vernichtung Russlands zum erklärten Ziel der deutschen Politik gemacht haben.

Die Russische Förderation verlautbart regierungsamtlich, dass jede Vertrauensbasis mit dem Westen irreversibel zerstört sei. In dieser Situation wird sich das Regime kaum noch mit den Unionseuropäern zusammen setzen, sondern zu gegebener Zeit – über unsere Köpfe hinweg – direkt mit den USA verhandeln.

Der eingangs zitierte Schriftsteller Francesco Biamonti meldete sich übrigens im Dezember 2000 noch einmal mit einem Text in der Zeitung La Stampa zu Wort. Zehn Monate vor seinem eigenen Tod stellte er die alle Millennials in ihrem Innersten bewegende Frage: »Was bleibt von diesem sterbenden Jahrhundert?«.

Damit war das 20. Jahrhundert gemeint, und Biamonti erteilte auf seine Frage gleich die allerbitterste der möglichen Antworten: »Mare, cielo, antichità della pietà, antichità della grazia«. Was uns Bewohner*innen eines neuen Jahrtausends vom Jahrhundert der Lager und der demokratischen Umbrüche bleibt, das sind: »Meer, Himmel, Altertum der Frömmigkeit, Altertum der Gnade. Der Rest sieht aus wie eine verlorene Welt, verlassen von staubigen, blutbefleckten Geistern«.

Stop the war! Остановите войну!

© Wolfgang Koch 2022

Abbildung: Weltkriegsspazifismus, Archiv Pax in bello, Athens

 

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