Wenn man anderen einen Text zum Lesen empfehlen will, sagt man, er sei lesenswert.
Und wenn man anderen einen Text zum Streiten, Debattieren, sich damit Auseinandersetzen empfehlen will?
Es gibt da Worte wie „diskussionswürdig“ oder „debattierbar“. In ihnen steckt allerdings für mein Gefühl eine deutliche Distanzierung von der damit beschriebenen Aussage, These oder Aktion. Ein typisches Beispiel hier in der höflich verpackten Kritik eines deutsch-türkischen SPD-Politikers am Umgang mit dem Papstbesuch im Bundestag:
“Auch wenn der Papst nicht für Fortschritt und Offenheit steht, ist es trotzdem nicht unbedeutend, dass der Pontifex im Bundestag spricht. Ob man deshalb die ganze Plenarwoche verschieben musste, bleibt diskussionswürdig.“
Diese Sorte Diskussionswürdigkeit meine ich allerdings nicht, wenn ich den jüngsten Blogbeitrag von Christopher Lauer, Enfant Terrible der Piratenpartei, zum Streiten, Debattieren und sich damit Auseinandersetzen empfehle. In dem ganzen Wust aus Meinungsfetzen und Befindlichkeitssoße, die uns die Vortanzenden dieser Partei zumuten, wirkt „Warum ich den Scheiß mache“ wie die Nadel im Bällebad. Endlich einmal so etwas wie eine Festlegung, so etwas wie eine Standortbestimmung, so etwas wie ein über die eigene Komfortzone hinaus reichender Gedanke. Das ist nicht diskussionswürdig, das ist debattierwert.
Insbesondere eine Passage (orthographisch behutsam angepasst) hat es mir dabei angetan:
„Wir sind eine im besten Sinne sozialliberale Partei. Eine Partei, die ein positives Menschenbild vertritt: Nimm einem Menschen die Existenzangst und gib ihm die Möglichkeit sich frei zu entfalten, dann wird er sich zum Positiven entwickeln und etwas gesamtgesellschaftlich Sinnvolles tun.“
Das ist zwar nicht so sehr Menschenbild als vielmehr Gesellschaftsphilosophie, da das beschriebene menschliche Verhalten hier direkt in Bezug zur Gesellschaft gesetzt wird.
Und es ist auch nicht so sehr ein „Bild“, von dem man ja einfach sagen könnte, ob es die Realität stimmig abbildet oder nicht:
o stimmt
o stimmt nicht
o stimmt manchmal
sondern es ist eher ein politisches Programm, bei dem es vorrangig darum gehen soll, Existenz zu sichern und freie Entfaltung zu ermöglichen.
Es wird dabei wahrscheinlich herauskommen, dass es in erster Linie darum gehen müsste, wie dafür der politische Rahmen so gesetzt werden kann bzw. muss, dass tatsächlich eine positive Entwicklung für die Gesellschaft dabei herauskommt. Aber das schadet ja nichts, bzw. das ist eigentlich schon Teil der Auseinandersetzung, die es sich hier zu führen lohnt.
Ob es sich lohnt, sie mit Lauer zu führen, ist, ähem, diskussionswürdig: Er hat sich von seinem Ehrentitel sowohl den Enfant- als auch den Terrible-Teil redlich verdient. Aber es ist für die Karriere einer Idee bekanntlich ziemlich egal, ob sie mit oder ohne ihren Erzeuger debattiert wird.
Mein Einwurf war nicht so gemeint, dass C. Lauer aus Parteiprogrammen zitiert, sondern mehr allgemein. Somit steht Lauer natürlich, wie wir alle, vor dem Dilemma, das Karl Valentin am besten beschrieben hat: „Es wude schon Alles gesagt, aber noch nicht von Allen.“ Ja, ich hatte mir von den Piraten mehr erhofft. Vielleicht bin ich aber nur zu alt und reflektiere zu sehr eigenes früheres Ungestüm. Mit zwanzig konnte ich die Welt erklären. Mit 60+ beginne ich, sie zu verstehen.
Zur Erinnerung: Vor zwanzig Jahren starb Willy Brandt. Als elitäres Arbeiterkind der Generation „Willy wählen“ und Spät-68er bin ich ja noch immer einer, der mit dem Herzen wählt und schlage vor, dass zusätzlich zum GBE auch noch allen Bürgern ein Potenzialentfaltungscoach beigestellt werden sollte.
http://blogs.taz.de/wortistik/2012/09/03/potenzialentfaltungscoach/