vonzwiespalt 29.10.2020

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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Obgleich die vergangenen Jahre politisch turbulent gewesen sind und sich Dinge ereigneten, die man sicher so nicht erwartet hätte – von Annexionen bis zu Chemiewaffeneinsätzen – und jetzt eben Corona – überrascht gegenwärtig doch eine politische Haltung, oder Reaktion auf diese Ereignisse, die nicht viel weniger verstörend ist, als die Dramatik des Ereigneten selber: Es geht um die Negation, Ablehnung oder Distanzierung von einer elementaren Anerkennung des Lebens in Form des Schutzes (eines Rechts auf den Schutz des Lebens), wie sie in Deutschland Anfang April durch Wolfgang Schäuble verkündet wurde und nun durch weitere Stimmen fortgesetzt wird. Vielleicht ist die seltsame Überraschung der Ablehnung oder Distanzierung vom Schutz des Lebens, die mancher gegenwärtig haben mag, deshalb so groß, weil man eigentlich etwas sehr anderes erwartet hätte. Eigentlich hätte man erwartet, dass der Schutz des Lebens für westliche Regierungen die oberste Priorität ist, nachdem despotische Regierungen, Menschenleben vernichtenden Handlungen, rund um die Welt angeprangert und Politiken in die Wege geleitet wurden geflüchteten Menschen eine Zuflucht zu bieten, ihr Leben zu schützen. Dennoch ist es im April diesen Jahres ein Politiker vom Rang Wolfgang Schäubles gewesen, der im Zuge der Coronakrise betonte, die gesellschaftliche Ordnung, die Ordnung der Rechte dem Schutz des Lebens nicht vollständig unterordnen zu können. Diese Ansicht wird heute weiter bestärkt, wenn sich im Zuge der zweiten Infektionswelle starke, öffentliche Stimmen und Gerichte gegen ein Vorrecht auf Gesundheit wenden und auf andere Rechte verweisen, die dabei zu kurz kommen könnten. Die Gegner eines Schutzes des Lebens stellen sich hier vor allem auf die Seite der Freiheitsrechte, deren Einschränkung im Falle eines Lockdowns (in vielen seiner unterschiedlichen Formen), nicht hingenommen werden kann, auch wenn so das Leben anderer Personen geschützt werden würde. Wenn es überhaupt einen universellen Wert gibt, so betonte damals Schäuble – und viele Verfechter der Freiheitsrechte schließen sich hier an – dann sei er in der Würde des Menschen zu finden. In diesem Fall freilich, also dem Vorrang der Freiheitsrechte vor dem Schutz des Lebens, fiele die Würde des Menschen tendenziell mit den Freiheitsrechten zusammen.

Obwohl die Freiheitsrechte natürlich ein wichtiges Kernelement der modernen Staatlichkeit sind, ist die Zurückweisung des Schutzes des Lebens durchaus überraschend. Es ist ja nicht zuerst ein Mangel an Freiheitsrechten gewesen, der die politische Empörung der im Syrienkrieg Getöteten auslöste (vor allem der durch Chemiewaffen Getöteten), sondern die nackte Tatsache ihres bestialischen Getötet-Werdens löste die weitreichende Empörung aus. Auch ist es nicht zuerst ein Mangel an Freiheitsrechten gewesen, der als Grund herangezogen wurde, die Grenzen für syrische, afghanische und andere Flüchtende zu öffnen – die Notwendigkeit des Schutzes ihres Lebens und Überlebens war es, die politischen Aktivitäten Deutschland richtungweisend zu prägen. In beiden Fällen war klar, dass das Leben, das Überleben, die Bedingung oder Voraussetzung weiterer Rechte ist, auch der Freiheitsrechte, und das es zu ihrer Erfüllung bestimmter, unangefochtener Politiken allgemeiner Tragweite bedarf. Schließlich wurde damals (und das bis heute so) nicht vorrangig mit den Freiheitsrechten beispielsweise der inländischen Bevölkerung argumentiert, den Schutz des Lebens oder Überlebens der Geflüchteten zu unterlaufen, so dass sich auch aus dieser Perspektive der Schutz des Lebens als oberstes Gebot zeigte. Umso erstaunlicher ist es, wenn nun im Zuge der Coronakrise nicht nur betont wird, dass der Schutz des Lebens seine Grenzen hat – Grenzen, die derzeit offenbar wieder durch aneinander gerückte Kaffeekränzchen, Urlaubsreisen, Privatfeiern – also der Freiheit des Amüsements erreicht sind, die viele Leute als Gelegenheit nutzen, noch einmal zu genießen, bevor die Lage noch einmal schlimmer wird – sondern auch, dass er nicht mit der Würde des Menschen zusammenfällt.

Ich möchte die Schwierigkeiten, die in einer Reduktion des Schutzes des Lebens stecken, abschließend durch eine Reihe von Fragen hervorheben: Bedeutet es also den Schutz des Lebens heute zu versagen, wie es gerade geschieht, dass der Schutz des Lebens aufgegeben wird, wenn er mit zu hohen Kosten für die Gesellschaft verbunden ist? Stellt der Schutz des Lebens dann aber nicht nur ein Wohlstandsgebot oder einen Wohlfühlanspruch dar? Ist es möglich, dass der Schutz des Lebens als Wohlfühlanspruch in dem Maße abnimmt, in dem wir als Gesellschaft unsere eigenen Wohlfühlanspruche weiter und weiter ausbauen? Könnte es nicht sein, dass der Schutz des Lebens mit hohen Kosten für die Gesellschaft vor allem dann verbunden ist, wenn eine besonders große Schutzbedürftigkeit vorliegt – der Schutz des Lebens und die Würde des Menschen also gerade dann auseinander gehen, wenn er prekär wird? Spricht man mit der Aufgabe eines Schutzes des Lebens nicht vor allem jenen Menschen Schutz ab, die sich nicht selber schützen können und beispielsweise durch Schicksalsschläge auf soziale Sicherungssysteme angewiesen sind? Ist nicht der Schutz vor einem bloßen Sterbenlassen der Armen, Schwachen und Kranken zentraler Anspruch eines gelehrigen Nachkriegsdeutschlands gewesen?

Natürlich sind diese Zusammenhänge vereinfacht dargestellt – auch eine Gesellschaft mit stark ausgebauten Wohlfühlansprüchen kann z.B. einen hohes Maß an sozialen Sicherungssystemen eingerichtet haben. Auf der anderen Seite geht es bei der Beschränkung der Konsumgesellschaft, um eine Krise vieler ökonomischer Existenzen – damit stehen auch die Überleben einzelner Leben im Zweifelsfall auf dem Spiel. Hier müsste man der Kritik eine historische Dimension verleihen: Ist es möglich, dass gerade spätkapitalistische Gesellschaften durch den Abbau sozialer Sicherungssysteme nachhaltige Bedingungen eines Schutzes des Lebens untergraben haben und dann, wenn es darauf ankommt, umfangreichen Schutz für nicht hinreichend möglich und würdig erachten? So oder so – ich denke, man müsste sich viel schwerer tun den Schutz des Lebens politisch zu schwächen, als es derzeit mit der schnellen, oder zumal emanzipativen Geste auf Freiheitsrechte und ihrer legitimatorischen Selbstevidenz getan wird. Die Wohlfühlsphäre der eigenen Freiheiten und Erträglichkeiten besitzt sicherlich einigen Spielraum, dem Schutz des Lebens eine größere Rolle beizumessen. Auch wenn klar ist, dass das eine Leben nicht auf Kosten eines anderen Lebens gerettet werden kann, ist es doch möglich, den politischen Fokus stärker auf die Rettung und den Schutz der Leben insgesamt zu richten (und hier entsprechende Kapazitäten mobilisieren). Natürlich ist das nicht nur eine juridische Frage oder eine Frage der Politik, die durch politische Maßnahmen gelöst werden könnte, sondern auch eine Frage der Gesellschaft, der Lebensformen und der bürgerlichen Haltung, die Einschränkung und Schutz des anderen durch Freiwilligkeit in Freiheit verwandelt und damit der eigenen Freiheit eine sittliche Komponente verleiht. Diese Sittlichkeit ist aber kein seltsamer Zwitter, wie man gemeinhin glaubt, sondern die Fortsetzung der ethischen Logik liberaler Toleranz: im Zweifelsfalle Zurückhaltung.

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