vonzwiespalt 26.10.2021

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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Das Labor der Welt – Afghanistan

Die Rettung Afghanistans vor einem wirtschaftlichen Kollaps steht an – Wirtschafts- und Sicherheitsfragen Afghanistans sorgen an unterschiedlichen Gipfel- und Krisentreffen rund um die Welt für Gesprächsstoff. Man könne nicht sehen, wie das Land im Chaos versinkt, betonte Merkel, und weder Mario Draghi, noch die G20 insgesamt sahen das anders – selbst wenn das indirekt bedeutet, das Taliban-Regime zu unterstützen. Einmal mehr wird damit ein interessantes Beispiel der ewig diskutierten und unbeliebten Frage gegeben, ob denn nun die Freiheit oder Sicherheit das erste Paradigma des Staates sei. Auch wenn letzteres im Westen vehement verneint wird und ersteres einer der immer mitlaufenden Gründe für Interventionen in Nahost gewesen ist, scheinen die politischen Spitzen gerade nicht geneigt zu sein, diesem Prinzip nachzukommen. Natürlich stellt sich die Frage, ob nicht im Hintergrund ein Ringen zwischen Ost und West um die Gunst der neuen Staatsherren Afghanistans steht – denn hier ist sicher einiges an Macht- und Wirtschaftsfragen im Spiel auf die auch China und Russland bereits aus sind.

 

>Linke Politik< in Deutschland

Allemal liest und hört man gerade immer wieder einigen Frust und Verwunderung darüber, dass die künftige Ampelkoalition zu wenig >linke Politik< machen könnte. Freilich haben es die Ampel-Parteien klar gesagt – Deutschland hat Aufbruch und Umbruch gewählt, was, angesichts der Stimmverteilung auch bedeutet, Deutschland hat sich dezidiert gegen eine >linke Politik< entschieden. Vielleicht kann man sogar sagen, Deutschland hat sich mehr gegen linke Politik entschieden, als es sich beispielsweise für >grüne< Politik entschieden hat. Das, was man sich >links< erwartet, erhofft man sich vermutlich vor allem von der SPD, die in ihrer Gestalt Namens Olaf Scholz freilich auch nicht sehr >links< werden wird – aber, warum auch? Denn die Koalition kann und wird diese Botschaft – dass man >linker Politik< von >links< nichts zutraut und im Zweifel auch die linken Fragen eher durch die Marktwirtschaft gelöst sieht – wie es die Liberalen immer schon behaupten – sicher verstanden haben und sich zunutze machen.

Natürlich kann man versuchen das allgemeine Misstrauen gegen >linke Politik< auch als Misstrauen gegen Eliten zu deuten, denn es lässt sich sagen, dass hier, entlang einer Skala von Maßnahmen auf dem Feld politischer Ökonomie, die stärksten staatlichen Eingriffe fällig werden würden. Nicht wenige Ängste wurden in diese Richtung vor den Wahlen von vielen, dem Eigenanspruch nach, auch sehr seriösen Blättern geschürt. Teile der bürgerlichen Mitte, denen es finanziell schon gut geht und die ihren Altruismus noch nicht aufgegeben haben, mögen hier verunsichert sein angesichts der Hebel, die staatliche Funktionäre im Zweifelsfall bedienen mögen. Damit wäre freilich nicht nur ein Zweifel an den Eliten, sondern auch an der Demokratie ausgedrückt, die in diesem Fall nicht als die eigene Sache verstanden wird, sondern in >uns< und den >Staat< auseinander fällt. Sollten ähnliche Bedenken wahlentscheidend gewesen sein, ist es unter Umständen angebracht, die Legitimität der anstehenden Regierung nicht zu hoch zu hängen – auch sie lässt sich dann in die Hoffnung auf das kleinere Übel einreihen, das deshalb bevorzugt wird, weil es weniger vermag.

 

Erstarken eines Postindividualismus

Die derzeit erhobene Anklage einer in die Jahre gekommenen ehemaligen KZ- Sekretärin geht auf eine Bekräftigung des BGH 2016 zurück, dass auch Gehilfen sich strafbar machen können – als Teil des organisierten Mordes. Das Argument: nur ein Zusammenwirken hat es ermöglicht, dass Massentötungen zustande kommen konnten. Auch ein kleiner Beitrag (in dem Fall die Arbeitskraft einer Sekretärin) kann – als Rädchen im Getriebe – als schuldkräftige Mitwirkung am Gesamtsystem verstanden werden. Wichtig ist hier zum einen zu sehen, dass die Kausalität der Handlung sehr weit gefasst ist, man im Zweifelsfall zum anderen aber auch bereit wäre, sich vom strikten Anspruch der Intentionalität zu distanzieren (dahin gingen jedenfalls die gerichtlichen Überlegungen). Es zählt vor allem, am Gesamtsystem beteiligt zu sein.

Eine ähnliche Denkbewegung lässt sich mitunter Strömungen feministischer Kritik entnehmen, wenn den Männern insgesamt, dem Mann-Sein, vorerst noch nicht zugetraut wird, aus seinem Jahrhunderte- oder Jahrtausende-langem Herrschaftsverhältnis auszusteigen und es damit insgesamt der Kategorie der Schuld oder Schuldigkeit zugeschlagen wird.

Dass man in beiden Fällen nicht strikt liberal-individualistisch argumentiert, ist klar – denn sollte man den liberal-individualistischen Standpunkt stärker machen, müsste man sich auch viel stärker auf die jeweiligen Willens- und Handlungsverfasstheit stützen; damit wiederum würde das kollektive Schuldkonstrukt gefährdet werden.

Interessant ist an dieser Perspektive, dass sie ganz gut ins zeitgenössische Denken fällt. Zwar ist das Denken nicht ohne Widersprüche, den einerseits stecken wir einer Zeit, in der unsere postmodernen Begriffe sehr sensibilisiert sind gegenüber den Besonderheiten der Welt und einzelner Menschen. Andererseits stecken wir in einer Phase, die fundamentale Krisen und Konflikte durchläuft – und gerade hier sind die Klima- oder Corona-Krise aktuelle Beispiele kollektive Schuldfragen zu stellen, kollektive Handlungsmuster zu identifizieren oder solche in ihrer Handlung, nicht-Handlung oder falsch-Handlung zu problematisieren. Bei beiden Beispielen erleben wir gerade das Absterben einer klassisch liberalen Handlungslogik, denn Fragen der Infektion oder Ansteckung kann man eher im Feld der virtuellen Logik verorten, denn als Zuordnung strikter Kausalitäten – und auch die Krise der Klimakrise ist schwer auf einzelne, unmittelbare Handlungen und Willen zurückzuführen, sondern eher in kollektiven Lebensstilen zu sehen.

Mit solchen Denkfiguren im Rücken ist zu vermuten, dass in Zukunft das Kollektive als Kategorie weiter aufgewertet wird und die Blicke stärker auf Möglichkeiten, Verantwortlichkeiten und Verschuldungen kollektiven Handelns gerichtet werden. Man muss natürlich im Hinterkopf haben, was man damit an liberalen Denkmustern aufgibt und wie weit man gehen will bzw. welche Türen und Tore sich öffnen – der Umgang mit bzw. die Reichweite von kollektiven Kategorien besitzt ja eine durchaus ambivalente Vergangenheit. Gleichzeitig werden aber auch neue Formen politischen Handelns möglich, die notwendig sei können, um politische Herausforderungen in den Griff zu bekommen.

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