vonzwiespalt 17.02.2021

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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+ Kann Myanmar zur Demokratie zurückkehren?

In der letzten Zeit hörte man, zunächst vor allem in der internationalen Presse, nun auch in der deutschen Presse, immer wieder diese Frage: Kann Myanmar zur Demokratie zurückkehren? Nach der militärischen Entfernung von Aung Sang Suu Kyi wird das Ende der Demokratie und, auf die eine oder andere Weise, die Wiedereinsetzung der Militärherrschaft bzw. -Diktatur erwartet. Ob sich das nach einem Jahr, wie angekündigt, ändert, wird bezweifelt. Es ist freilich ein bisschen seltsam dabei von >der< Demokratie zu reden, da sich immer alles um Aung Sang Suu Kyi gedreht hat. Wenn man den Punkt zuspitzt, müsste man fragen: geht es um eine Demokratie, wenn sie an einer einzigen Person hängt? Kann man von einer Demokratie, von ihrem Verlust und ihrem Bestehen sprechen, wenn sie mit der Herrschaft eines Menschen steht und fällt? In unserem üblichen Verständnis von Demokratie ist das sicher nicht der Fall. Hier hängt die Demokratie an der Menge, die die Institutionen trägt und sich politisch realisiert, sie hängt an den Institutionen und Verfahren, die sich gegenseitig stützen und begrenzen. Die Demokratie zeichnet sich nicht nur nicht durch die Herrschaft einer Person aus, egal wie diese Person gesinnt ist, sondern grenzt sich geradezu dezidiert davon ab. Dass >die< Demokratie an einer Person hängt, ist aus dieser Perspektive untragbar.

In den neueren Berichterstattungen nehmen die Medien freilich mehr und mehr die Bewegungen von unten in den Blick. Plötzlich gibt es Menschen, die für die Demokratie auf die Straße gehen, plötzlich erhält die Demokratie mehr und mehr ein demokratisches Gesicht. Allerdings hat es mich doch überrascht, wie lange und wie hartnäckig die Medien Myanmars Demokratie an Aung Sang Suu Kyi gebunden haben. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, wie Demokratien geboren werden. Die Frage nach den Gründungsfiguren von Staaten ist in der politischen Theorie beliebt, wichtig und umstritten. So hat mitunter Rousseau Überlegungen zum weisen Gesetzgeber angestellt, der der Menge eine demokratische Verfassung gibt und sie schrittweise zu Demokraten macht – dafür wurde er freilich immer wieder kritisiert. Aber wie funktioniert es denn nun? Wofür stehen unsere Hoffnungen und unser Blick auf Myanmar?

 

+ Sputnik V und Mutante, Nawalny

Ärgerlich das mit Nawalny – gerade jetzt. Hätte er nicht noch ein bisschen werten können, um den unvermeidlichen Konflikt mit dem Kreml hinauszuzögern, damit Europa oder zumindest Deutschland einen Deal für den Impfstoff machen kann? Jetzt ist dieser Deal natürlich durch die autoritäre Logik Russlands belastet, die zwar auch ohne Nawalny bestanden hätte, aber man bekommt doch das Gefühl, dass sie deutlicher wird, wenn sie sich (für die zivile Öffentlichkeit sichtbar) aktualisiert. Nun ist freilich die andere Option auch nicht prickelnd – mittlerer Weile ist klar, dass das Risiko groß ist, dass wegen dem Impfstoffmangel ohne Russland die bösen Mutationen in Deutschland vor hinreichend vielen Impfungen Platz greifen. Sollte man also hier ein Zeichen gegen Russland setzten wollen, ist auch klar, dass man damit die Gesundheit vieler Menschen aufs Spiel setzt. In solchen Situationen frage ich mich immer, wer wie und wo durch wen instrumentalisiert wird. Für mich fallen die Antworten irgendwie nie eindeutig aus.

 

+ Ethikrat und Sonderrechte

Ich erinnere mich an eine Diskussion zwischen Michel Friedman und Christiane Woopen (seit 2017 Vorsitzende des >Europäischen Ethikrats<) im April letzten Jahres, in der Friedman Woopen auf eine Beurteilung des jahrzehntelangen Abbaus von Versorgungskapazitäten (v.a. in Krankenhäusern) gedrängt hatte, die nun, im Falle zunehmender Infektionen und schwerer Krankheitsverläufe das prekäre Moment der >Triage< heraufbeschwören. Woopen ist der Frage immer wieder ausgewichen, was mein Vertrauen in Ethikräte irgendwie untergraben hat (auch wenn das vielleicht kleinlich von mir sein mag).

Jetzt ist die Diskussion um Impfungen und Sonderrechte entbrannt, die der >Deutsche Ethikrat< kürzlich als ungerecht ausgewiesen hat. Immer wieder fällt auch der Begriff der >Privilegien< in öffentlichen Diskussionen, um deutlich zu machen, was Sonderrechte eigentlich bedeuten und um vermutlich einen Vergleich mit der Feudalgesellschaft zu ziehen, in der bestimmte Vorrechte für nur bestimmte, eng umgrenzte und nicht-transparente Gruppen galten. Ohne das Problem hier lösen zu wollen muss man im Hinterkopf haben, dass das Dilemma heute sich in gewisser Weise anders darstellt, als es ein demokratischer Blick auf feudale Verhältnisse suggerieren würde. Man kann ja schon sagen, dass es in der Pandemie um ein Vorenthalten universeller Freiheitsrechte unter der Bedingung der gegenseitigen Freiheitseinschränkung geht, also unter der Bedingung, dass die eigene Freiheit mit der Freiheit anderer kompatibel ist. Wenn alle gegenseitig ihre Freiheit durch das Virus gefährden, muss der Freiheitsbereich für alle heruntergefahren werden. Man kann sagen, dass ist die liberale Grundgleichung für Freiheiten seit der Aufklärungsphilosophie, die bis heute für weite Teile des politischen Selbstverständnisses westlicher Demokratien nach wie vor elementar bleibt – in diesem Sinne ist das nicht eigentlich ein Freiheitsverlust, sondern eine gemeinsame Reaktion auf die praktischen Bedingungen und Möglichkeiten gegenseitiger Freiheitsgefährdung. Wenn aber für eine Gruppe von Menschen die praktische Bedingung der Gefährdung anderer wegfällt, muss sich notwendig auch die Gleichung der gemeinsamen Freiheiten verschieben und die Erweiterung bestimmter Rechte möglich sein.

Aus dieser Perspektive kann man sich zwar, rein empirisch, auf ein Ansteckungsrisiko dieser Gruppe berufen, das den Anspruch einhegt. Es bleibt aber schwierig einfach von Gerechtigkeit zu sprechen, die sich über die Formel der gleichen Freiheiten legt. Auch bleibt es unplausibel, gewollt oder ungewollt, direkt oder indirekt, diesen Anspruch mit einem Bild feudaler Gesellschaften zu verbinden. Natürlich kann man liberale Ordnungen mit einem weiteren Gerechtigkeitsprinzip verrechnen, das bedeutet aber einigen Argumentationsaufwand und drängt vielleicht dazu, die eigene liberale Position ihrerseits weiter anzupassen, um mit so einer Forderung der Gerechtigkeit konsistent zu sein. Ich bin mir nicht sicher, wie und wo der Ethikrat bzw. die vielen Ethikräte dieser Welt hier stehen.

 

+ Mario Draghi und die Demokratie

Mario Draghi, wirklich? Dieser Mann von >BlackRock< und der >Europäischen Zentralbank< soll jetzt die italienische Übergangsregierung bilden und künftig, auch über die Übergangsregierung hinaus, in hohen politischen Ämtern das Land retten? Dann darf man sich nicht wundern über die mit der Demokratie verbundenen Enttäuschungen, eine bestimmte Form der Politik fortzuschreiben und zu vertiefen – nämlich eine Neoliberale. Wer glaubt, dass Leute wie Friedrich Merz oder Mario Draghi, nicht ganz bestimmte, ökonomische Strukturen vertiefen und damit die Gesellschaft und ihre politischen Prozesse davon abhängig machen, der sei an den Hinweis von Merz erinnert, man solle für seine Altersvorsorge in die Finanzwirtschaft investieren. Was man hier kritisieren kann, ist, dass Leute mit bestimmten wirtschaftlichen Interessen, Verbindungen und Denkmustern die Strukturen der Gesellschaft so verschieben, dass weitere Veränderungen in diese Richtung mit weniger Kosten verbunden sind, als ihre Alternativen. Damit neigen auch politische Entscheidungen immer wieder einer bestimmten Richtung zu, weil sie hier nicht nur einfacher etwas bewegen können, sondern in Teilen auch gerade deshalb auf mehr vertrackte Akzeptanz stoßen. Das ist nun einerseits gut, weil man zumindest irgendwie Verbesserung denken kann, es ist aber auch schlecht, weil es beispielsweise im Rahmen neoliberaler Verschiebungen mit dem Abbau von Sozialstrukturen einhergeht, die dann privatwirtschaftlich eingeholt werden und irgendwann nur noch mit großer Mühe gesamtgesellschaftlich zu reaktivieren sind. In Bezug auf elementare Leistungen wird jedenfalls – das ist zumindest die langanhaltende Tendenz neoliberaler Verschiebungen – entweder eine elementare Ungleichheit erzeugt, oder Menschen werden in Jobs gedrängt, die ihre Arbeitsqualität, Arbeitssicherheit etc. runterfahren können, weil diese Menschen (durch den Abbau der Sicherungssysteme) in größere Not geraten, jeden Job überhaupt zu nehmen.

 

 

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