vonzwiespalt 19.10.2020

Zwiespalt der Ordnungen

Von kleinen und großen Herrschaftsverhältnissen, von Zwickmühlen der Realpolitik und den Ambivalenzen ihrer Ordnungsgrundlage.

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Nach dem Motto: „Neue Situationen sind immer auch Gelegenheiten für etwas Neues“, werden immer wieder Versuche unternommen die Coronapandemie nicht nur negativ, zerstörend, als Gefahr, Vernichtungswelle des Lebens und dessen Erhaltungswegen zu verstehen, sondern auch als Gelegenheit, Voraussetzung, oder kreativen Rahmen wahrzunehmen alternative Wege zu gehen. Ich möchte unter den vielen möglichen Gedanken zu diesem Thema vor allem zwei – in gewisser Weise entgegen gesetzte und doch zusammenhängende – Punkte aufgreifen, um gegenwärtige Verschiebungen und zukünftige Bedeutungen der Coronapandemie ins Auge zu fassen: Kosmopolitismus und Rassismus. Zunächst möchte ich in diesem Beitrag auf einen – so würden zumindest einige Menschen sagen (und die Politik bildet das in vielen Fällen beispielhaft ab) – tendenziell konstruktiven, kosmopolitischen Aspekt der Coronapandemie eingehen.

Denkt man wenige Jahre zurück, als im Zuge der sogenannten Migrationskrise inner- bzw. rand-europäischen Grenzschließungen diskutiert und praktiziert wurden, ist es nicht schwer, sich gleichzeitig an das Herantasten an eine (so empfunden) rückwärtsgewandte, politische Wirklichkeit zu erinnern, die begann – wie oft befürchtet und betont wurde – die einigende Errungenschaft des Schengen-Raumes anzukratzen. Damals war nicht nur eine Schwerfälligkeit der Diskussionen und Praktiken zu beobachten, sondern auch eine massive Verunsicherung im Hinblick auf ihre möglichen Folgen. >Zerstören wir jetzt unser Europa?< >Werden sich die Grenzen wieder öffnen?<; >Werden, in Folge der Schließungen, bestimmte Staaten ihre Grenzen geschlossen halten?<; >Und welche Folgen werden Schließungen für die Verbindung oder Einheit Europas haben?< Solche Fragen zirkulierten eine Zeit lang nahezu endlos und immer ausgesprochen kritisch durch die Politik- und Medienlandschaft.

Wendet man seinen Blick in die Gegenwart und betrachtet die (mehr oder weniger) allseitige Praxis der Reisebeschränkungen im Kontext der Coronapandemie-Politik, zeigt sich in einigen Hinsichten ein ähnliches, in vielen Hinsichten aber auch ein sehr anderes Bild. Auch hier gab es ein anfängliches Zögern, was Grenzschließungen bzw. Reisebeschränkungen angeht, aber dieses Zögern wurde mit dem anfänglichen Anstieg der Coronazahlen und der Schließungsmechanismen der Visegrád-Staaten schnell abgebaut, sodass in kurzer Zeit europaweite Reisebeschränkungen in Kraft getreten sind. Die Zeitspanne zwischen den ersten Reisebeschränkungen und heute ist allerdings – und das ist der wichtige Punkt – von einem ausgesprochen wechselhaften Verlauf gekennzeichnet gewesen. Reisebeschränkungen wurden aufgehoben und wieder erlassen, sie haben sich mal auf jene Länder und dann wieder auf diese Länder bezogen – mehr noch, es fand (und findet immer noch) zwischen Regionen oder einzelnen Städten selber eine wechselhafte, oft sehr sporadische, und in unterschiedlichen Abstufungen der Beschränkung forcierte Politik der Abschottung und Freilegung statt.

Hier kann nun eine interessante Verschiebung gegen das Szenario der Migrationspolitik beobachtet werden: Die Coronapandemie-Politik scheint einer anderen Logik zu folgen als die Migrationspolitik, um die Frage der Schließung zu beantworten – gleichzeitig stellt sich die Frage der Grenzen dieses Mal sehr anders. Das ständige Hin-und-Her von Schließung und Öffnung, die unterschiedlichen Abstufungen der Begrenzung und Erlaubnis, die Einbezüge unterschiedlicher Datenlagen, Entwicklungsständen und Risikoeinschätzungen verweisen auf einen außerordentlich pragmatischen und flexiblen Zugang. Orte, Zeiten, aber auch Inhalte der Begrenzung sind nicht vorfestgelegt – sondern werden – je nach Möglichkeit – reguliert, anpasst, geöffnet usw. Einerseits ist diese Praxis, die ihren Umgang mittlerweile so leichtfüßig (und politisch eingeschliffen) zelebriert, befreit vom moralischen Gewicht der Migrationsdiskurse. Auf der anderen Seite trägt sie den sehr veränderbaren Situationen des Infektionsgeschehens (und möglichen Gegenmaßnahmen) Rechnung und ist aus diesem Grund von innen heraus auf eine gewisse Spontaneität hin ausgelegt. Sie unterscheidet sich von einer herkömmlichen Grenzschließungspolitik sowohl in pragmatischer Hinsicht, aber auch in ihrem politischen Horizont – der Aussicht also – auf Schließungen zuzuführen. Wurden im Zuge der Migrationspolitik langfristige Grenzschließungen erwartet und hat diese Sorge auch den Beginn der Corona-Politik begleitet, ist sie, in Verbindung mit letzterer, weitestgehend verschwunden. Einer der Gründe dafür mag der Praxis der Flexibilität, der Doppelseitigkeit der Bewegung geschuldet sein: man sieht nicht nur, dass Grenzen oder Räume geschlossen werden, man sieht auch, dass Grenzen, Räume, Handlungen genauso gut geöffnet und erlaubt werden können, dass also eine flexible, zeitlich und örtlich nicht festgelegte Praxis der Schließung und Öffnung der dosierten Interaktion möglich ist. Gleichzeitig ist diese Logik an vermeintlich objektive Problem- und Sachlagen gerichtet – nicht auf subjektive Willkürkriterien wie Herkunft – und besitzt gegenüber einer flächenweiten Schließung den liberalen Vorteil nach >Augenmaß< zu begrenzen (also nicht mehr Freiheiten einzuschränken, als nötig).

An dieser Stelle kommt der kosmopolitisch-konstruktive Aspekt der Coronapandemie zum Tragen. Man könnte vermuten, dass im Umgang mit Schließungen in der Coronapandemie eine präfigurative Praxis stattfindet, die ein politisches Szenario einsehbar macht, das die Zukunft einer Welt ohne feste Grenzen beschreibt. Präfiguration oder präfigurative Praxis bedeuten, dass in kleinen Vorgriffen auf politische Möglichkeiten, die noch nicht bekannte oder etablierte Praxen sind, Szenarios erprobt, entworfen, phantasiert und gelebt werden, die ihre Implikationen praktisch, in einer erstmaligen Suchbewegung, einem erstmaligen Praxisvollzug, offenlegen. Vielleicht sind die Grenzschließungen in der Coronapandemie ein Vorgriff auf eine Welt ohne klar eingeteilte, staatliche Gebilde, oder ohne räumliche Gebilde überhaupt, die sich in einem nachhaltigen Sinne als feste, stete Gebilde einteilen lassen. Hier würden politische Schließungen nicht apriorisch stattfinden oder fortbestehen und auch nicht entlang quasi-apriorischer Kategorien gezogen werden können, sondern erst entlang pragmatisch-politischer Aushandlungen, die ihre Flexibilität bereits in der Setzung von Grenzen, aber auch in ihrer Dauer oder inhaltlichen Tiefe tragen und daher eher als Begrenzungen, denn als Grenzen zu bezeichnen wären. Natürlich ist das zunächst eine grobe, abstrakte Vorstellung und es bleibt beispielsweise unklar, auf welche andere Politik sich Politiken der Begrenzungen in einer grenzenlosen Welt – abgesehen von Politiken der Gesundheit – beziehen sollten. Trotzdem scheint, zumindest die Politik der Gesundheit, ein Feld zu sein, das dauerhaft ein wichtiges politisches Thema bleibt und gleichzeitig die Kraft besitzt Eingriffe der Begrenzung legitimiert.

Diese Art Grenzen als lokale Begrenzung, Beschränkung auf Zeit und unter Vorbehalt zu denken, geht nun klarer Weise über die Grenzlogik vergangener Staatanordnungen aber auch der heutigen Welt hinaus, die – selbst wenn sie gegenüber der Vergangenheit tendenziell aufgelöst ist – weitere Auflösungen natürlich zulässt. Der Begriff der Begrenzung fasst damit, sofern man die gegenwärtige Anordnung kritisiert, einen liberal-emanzipativen Zug. Gleichzeitig greift sie immer noch auf die Vorstellung einer Abgrenzung zurück und verbindet darin auch ein konservatives Element der sporadischen Unauflösbarkeit von Spaltung. Freilich ist hier, im Hinblick auf das pragmatische Moment des Praxisvollzugs, vielleicht sogar der interessantere und weniger naive Aspekt einer Weltordnung enthalten, die nicht glaubt unter allen Umständen verbunden sein zu können. Die europäische Corona-Politik kann hier präfigurativer Vorgriff auf eine Zukunft sein, die Grenzen, wenn überhaupt, als Mittel des Regierens und nicht als dessen Voraussetzung versteht. Allerdings ist das Regime der Begrenzung sicher nicht von Problemen frei – man muss sich weiterhin die Frage stellen, an welchen Stellen es aus welchen Gründen mit Ansprüchen der (doppelten) Freiheit der Selbstbestimmung, aber auch mit einer problematischen Praxis der Ungleichheit bzw. Diskriminierung konfligiert.

To be continued…

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