vonMargarete Stokowski 16.10.2015

Buchmesseblog

taz-Autor*innen bloggten live von den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt. Ein Schmöckerladen für Buchliebhaber*innen.

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Ich wollte noch mehr zu „Lasse“ von Verena Friederike Hasel erzählen. Ich kam noch nicht dazu, weil ich heute erst selbst eine Veranstaltung hatte, und zwar hab ich mit Christiane Frohmann im Orbanism Space über die „Kolumne als Netzgenre“ geredet. Das war schön, aber ich hab nichts dazu gebloggt, weil ich nicht nochmal aufschreiben mag, was wir da geredet haben, das wär komisch. Dann hing ich müde in irgendwelchen Ecken ab und freundliche Menschen füllten Espresso in mich rein, und dann war ich auf zwei Veranstaltungen hintereinander, und jetzt erst komm ich zum Schreiben.

„Lasse“ also. Ein Roman über eine Studentin, die ein Kind bekommt. Der Mann, mit dem sie eine Affäre hatte, will das Kind nicht und versucht sie zu einer Abtreibung zu überreden, aber sie will das Kind bekommen. Er verlässt sie, und überhaupt verlassen alle sie, und alles endet schrecklich.

Verena Friederike Hasel ist Journalistin und hat vor einer Weile einen Text auf Zeit Online geschrieben: „Ein Grab für sechs Euro“, über eine Mutter, die zwei tote Kinder in einem Schließfach im Hamburger Hauptbahnhof einschließt. Nun hat Hasel einen Roman geschrieben, der die Figur einer überforderten Mutter aufgreift. Und – vermutlich, unter anderem – weil sie Psychologie studiert hat, mit Schwerpunkt Forensische Psychologie, schafft sie es, unglaublich nah an diese Figur ranzukommen. Obwohl sie selbst glückliche Mutter dreier Kinder ist. Zum Gespräch auf der ARD-Bühne kommt sie mit Mann und Baby. Auf der Bühne spricht Hasel über das „Glücksdiktat“ für Mütter, hinten gluckst die kleine Tochter.

Sie habe die Geschichte bewusst als normale Liebesgeschichte beginnen lassen, sagt Hasel. Eine Studentin liegt im Krankenhaus und verliebt sich in den operierenden Arzt, sie beginnen eine Affäre. Mit der Zeit wird die Beziehung immer obsessiver. Der Arzt will zurück zu seiner Exfreundin, und die Studentin, Nina, träumt von einer Familienidylle mit ihm. Er verlässt sie mitten in der Schwangerschaft, sie entwickelt stalkermäßige Züge. Gleichzeitig ist sie fasziniert von der Klugheit ihres Körpers während der Schwangerschaft. Ganz benebelt kauft sie einen teuren Kinderwagen, Bio-Strampler und massenhaft Ratgeberbücher. Alles soll perfekt sein und sanft und harmonisch.

Dann kommt das Kind, die Geburt ist furchtbar, und ab da geht es nur noch bergab. Nina glaubt, dass ihr Kind vertauscht wurde. „Ich weiß, dass jetzt das Bonding passieren muss“- aber es passiert nicht. Das Kind ist ihr zu dick, seine Hände sehen aus wie Krallen, und sie versteht nicht, warum es brüllt.

Von Müttern wird erwartet, dass sie ihr Kind instinktiv und immer lieben, sagt Hasel. In allen anderen menschlichen Beziehungen gestatten wir uns Ambivalenz, bei der Mutter-Kind-Beziehung nicht. Nina, die unglückliche Mutter, gestattet sie sich auch nicht. Sie vereinsamt mit ihrem Sohn, den sie nicht annehmen kann, fliegt aus dem Mutter-Kind-Café, weil sie geklaut hat, und verliert immer mehr die Kontrolle. Am Ende ist das Kind tot.

Viele, die das Buch lesen, sagen, sie hätten es an einem oder zwei Tagen ausgelesen, weil es so einen starken Sog entwickelt. Andere wollen es gar nicht erst anfangen, erzählt Verena Hasel. Mehrere Freundinnen hätten ihr gesagt, sie würden es nicht lesen, ganz bewusst nicht. Die Angst, sich in den Kopf einer Kindsmörderin auch nur für rund 200 Seiten einzufühlen, scheint zu groß.

Dabei könnte ein Buch wie „Lasse“ gerade gut sein, sich mit dem Thema zu beschäftigen, weil man es am Ende auch wieder weg legen kann. Ninas Fall ist eine Art Worst-Case-Szenario, aus dem es irgendwann keinen Ausweg mehr gibt. Sie ist schon während der Schwangerschaft immer wieder vollkommen allein und mit dem Kind am Ende noch einsamer als je zuvor. „Ich wollte es radikal haben“, sagt Hasel, und das ist ihr sehr gut gelungen.

Verena Friederike Hasel: Lasse. 208 Seiten, Ullstein 2015

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https://blogs.taz.de/buchmesse/2015/10/16/verena-hasel-gegen-das-gluecksdiktat/

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kommentare

  • Kann es sein, dass das Buch demnach dasselbe Thema wie Charlotte Roche’s „Mädchen für alles“ aufweist? Dass Frauen/Mütter auch unglücklich mit ihrem Baby werden können? Wie fasst man das? Es ist einfach falsch. Das können Mütter sich unter normalen Umständen nicht aussuchen. Das Bonding „passiert“ nicht, weil von dem Baby irgendein Reiz ausgeht. Das Baby (und alles, was es tut) IST der Reiz!

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