vonfini 27.06.2020

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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Am 29.06.2020 wurde der Oromo-Aktivist und Sänger Hachalu Hundessa erschossen. Ein Ereignis, das erneut politische Kämpfe in Addis Abeba (Äthiopien) hervorgerufen und es tatsächlich in die internationale Berichterstattung geschafft hat. Beim Soziologen und Philosophen Zygmunt Baumann findet sich folgender Schraubenzieher, dessen Wirkung wir an diesem Ereignis beobachten können:

„Es gibt kein globales Recht, gegen das man verstoßen könnte. […] Und es gibt kein irgendwie geartetes globales Politikkonzept, das dafür geeignet wäre, die Einführung global bindender Spielregeln auch nur zu postulieren, und schon gar keines, das auch noch den Versuch unternehmen würde, solche Regeln wirklich umzusetzen.“
(Baumann, Zygmunt: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Bonn: Hamburger Edition, 2005, S.92.)

Ich habe während meiner Zeit beim Netzwerk Menschen aus Äthiopien, aus der Region Oromia, kennen gelernt, deren Familien von ihrem Ackerland vertrieben und durch die Zentralregierung zwangsumgesiedelt wurden, im Bestreben den wirtschaftlichen Interessen internationaler Unternehmen zu genügen. Die Oromo haben dagegen demonstriert, haben versucht, auf ihre Situation aufmerksam zu machen, haben gekämpft, geschrieben und veröffentlicht – mit der Folge, dass sie verfolgt, gefoltert oder bis auf weiteres in Gefängnisse verschleppt wurden. Sie tun das immer noch ohne nennenswerte Erfolge, sodass viele die letzte Möglichkeit der Flucht ergreifen. Nur um diese aktuelle Fluchtursache kurz anzureißen – die Geschichte Äthiopiens ist ein Paradebeispiel für das Baumann Zitat.

Schon mal was von den Oromo gehört?

Im Gegensatz zu anderen Konflikten ist bzw. war der in Äthiopien herrschende Bürgerkrieg nie sonderlich präsent. Gelegentlich entdeckt man ein „Herkunftsland: Äthiopien“ auf einem Produkt, das man gerade gekauft hat. Insbesondere Deutschland unterhält auch weiterhin solide Beziehungen mit der äthiopischen Zentralregierung durch verschiedene Projekte der GIZ, u.a. im Bereich Hochschulentwicklung und den Ausbau der Grenzsicherung. Geflüchtete aus Äthiopien haben deswegen erhebliche Schwierigkeiten Asyl in Deutschland zu bekommen: Es dauert teilweise bis zu 3 Jahren bis ihr Fall entschieden wird – und da Äthiopien als Demokratie gilt, werden sie nicht selten zurückgeschickt. 

Durch Feyisa Lilesa erschien 2016 der Konflikt um die Gebiete der Oromo-Bevölkerung das erste Mal im internationalen Medienbewusstsein. Der Marathon-Läufer kreuzte beim Zieleinlauf für die Silbermedaille bei den olympischen Sommerspiele in Rio die Arme über dem Kopf. Eine Geste der Solidarität mit den kämpfenden Oromo. Das Bild wurde sowohl von herkömmlichen Medien als auch von sozialen Medien innerhalb von wenigen Stunden aufgegriffen und weiter verbreitet. Mit der Folge, dass Feyisa Lilesa natürlich nicht mehr nach Äthiopien zurückkehren konnte und um Asyl bitten musste. Und der Folge, dass der Konflikt der Oromo in Äthiopien plötzlich auch bei denjenigen präsent war, die keinen direkten Kontakt mit äthiopischen Geflüchteten haben oder sich grundlegend mit internationalen Beziehungen beschäftigen. Der politische Konflikt erschien ohne Vorwarnung und Kontext im gesellschaftlichen System „internationale Sportwettkämpfe“. Das war unerwartet. Und außerdem unrechtmäßig, da die Statuten der olympischen Spiele visuelle, politische Botschaften verbieten. Der mediale Gerichtsraum war eröffnet, die Zeugen wurden geladen. Der Beginn des Konflikts wurde auf 2015 datiert, obwohl er schon seit vielen Jahren existiert, und Journalisten überall auf der Welt versuchen die Gründe des Konflikts historisch und sozial zu rekonstruieren. Lilesa wurde interviewt und zitiert, andere äthiopische Geflüchtete zu ihren Ansichten befragt und natürlich „Afrika-Experten“ herangezogen. 

Grievability is a presupposition for the life that matters

Ein weiteres Werkzeug dazu, welches Leben matters, liefert Judith Butler. Es ist das Werkzeug, das die gesellschaftliche Grenze zwischen lebenswertem und nicht-lebenswertem Leben offenlegt. Und zwar anlässlich des Todes dieses Lebens:

“Precisely because a living being may die, it is necessary to care for that being so that it may live. Only under conditions in which the loss would matter does the value of the life appear. Thus, grievability is a presupposition for the life that matters.“
(Butler, Judith: Frames of War. When is Life Grieveable?, London: Verso, 2009, S. 14.)

Butler liegt mit dieser Annahme auf der Linie Michel Foucaults, nach der die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur darauf zielt, wertvolles Leben aktiv zu erhalten, überflüssiges Leben hingegen sterben zu lassen. Nach Foucault fand eine Entwicklung statt von der Macht des Souveräns, der die Macht hatte, zu töten oder leben zu lassen, hin zur Biomacht bzw. Biopolitik. Eine Regierungskunst, die Leben macht oder in den Tod stößt. Die Macht erstreckt sich nun nicht mehr auf einzelne Rechtssubjekte, sondern auf eine Bevölkerung. Sie wird nicht mehr vorrangig durch das Recht organisiert, sondern durch gouvernementale Praktiken: Die Bevölkerung wird als Ganze reguliert und die Bürger als Einzelne diszipliniert. Foucault spricht hier von einem „politischen double bind, das die gleichzeitige Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen bildet“ (Foucault, Michel: ‚Omnes et singulatim‘: zu einer Kritik der politischen Vernunft). Durch verschiedene Regulierungs- und Disziplinierungstechniken – bspw. Bevölkerungsstatistiken, medizinische Regularien oder Sicherheitssysteme – wird der Bürger ,leben gemacht‘, also hinsichtlich eines biologischen (und neoliberalen) Effizienzdispositivs bestmöglich gepflegt und gefördert als Teil der zu regulierenden Bevölkerung. Der Bürger wird dadurch, aber auch als Akteur gouvernementaler Praktiken subjektiviert. 

Subjekt oder Nicht-Subjekt?

,Das Subjekt‘ steht in dieser Theorieströmung nicht für eine qualitative Entität, ein Ich, eine Seele oder ähnliches, sondern für das sozialisierte Selbst, das nur in und durch die aktuelle Gesellschaft existiert. Es ent-steht und be-steht in dem Zusammenspiel von Macht und Subjektivität durch die Unterwerfung unter die Macht im Zuge seiner Disziplinierung. Man könnte sagen, ein Subjekt ist der Prozess, wie ein regulierbares, diszipliniertes, sich weiterhin disziplinierendes menschliches Wesen als solches gesellschaftlich erscheint und durch diesen Prozess der Disziplinierung seine Handlungsmacht erhält. 

Auf diese Weise entsteht über den Einschluss bzw. den Ausschluss aus der Bevölkerung und der Subjektivierung eine Grenze zwischen dem Leben, das gefördert wird, und Leben, das nicht gefördert und insofern sterben wird. Disziplin bedeutet nicht mehr die Androhung von physischen Schmerzen, sondern psychischer und totaler Ausschließung aus der menschlichen Bevölkerung.
Mit dem Butler-Werkzeug wird diese Grenze klarer und einfacher erkennbar, als es die Analyse lebensfördernder Maßnahmen oder Kontrollmechanismen ermöglicht. Denn sie verbindet den Wert des Lebens mit seinem Tod: War das Leben von Wert – ist also ein Subjekt gestorben -, dann ist es betrauerbar. War es das nicht, dann ist es nicht betrauerbar, sein Verlust wird nicht als schmerzhaft empfunden bzw. wird sein Verlust noch nicht mal erkennbar, weil auch das Leben gesellschaftlich nicht sichtbar sondern ausgeschlossen war. Das Werkzeug der Betrauerbarkeit/Nichtbetrauerbarkeit ermöglicht außerdem einen globalen Blick, da nicht nur die subjektivierenden Mechanismen innerhalb westlicher Staaten thematisiert, sondern die rassische Dimension des Lebens von Wert anlässlich der Betrauerbarkeit offensichtlich werden.

Unsichtbare Grenzen mit tödlicher Wirkung

Ein simples und sehr übliches Beispiel für die Grenze der Betrauerbarkeit verläuft entlang unserer Pässe: Inhaber*innen deutscher Pässe führen innerhalb der Weltbevölkerung von vornherein ein lebenswertes Leben – solange wir uns nicht völlig daneben benehmen: Wir werden mit dem Hubschrauber von indonesischen Inseln abgeholt, wenn wir uns Dengue eingefangen haben und wenn wir mit dem Flugzeug auf dem Weg dahin abstürzen, dann gibt es vielleicht sogar eine deutschlandweite Schweigeminute – aber mindestens werden wir in den Nachrichten erwähnt „…80 Tote, davon 3 Deutsche.“. Für Inhaber äthiopischer Pässe oder Menschen ohne Pässe, die auf ihrer Flucht durch den Sudan von Organhändler*innen ausgenommen werden, gibt es keine Schweigeminuten. Sie sterben ganz einfach so, ohne dass der Verlust ihres Lebens irgendwo erscheint und betrauert wird.

Zusätzlich zur Nationalität verläuft die Grenze allerdings auch an unserem äußeren Erscheinungsbild, das Auskunft über unsere Diszipliniertheit im Sinne von „Angepasstheit“ liefert: George Floyd, den „Randalierer*innen von Stuttgart“ und anderen Opfern rassistischer Polizeiarbeit hat es nicht geholfen, dass sie womöglich einen entsprechenden Pass hätten zücken können – sie waren nicht weiß, dazu auch noch teilweise undiszipliniert und damit „minderwertiges Leben“. Leben, das es nicht Wert ist geschützt und betrauert zu werden. Leben, das im Kontext internationaler Wirtschaft ausschließlich zur Produktion von Mehrwert einen Wert erhält – wieso sollte es also plötzlich schützenswerter sein, nur weil es hier vor uns steht, anstatt für unseren Wohlstand zu arbeiten?

Schützt uns nicht, benutzt uns!

Wir haben in den letzten Monaten erlebt, was alles in die Wege geleitet wird, um weißes Leben zu schützen: „Solidarität“, Verzicht, persönliche und wirtschaftliche Einschränkungen in einem Maß, dass Generationen für den „Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft“ werden arbeiten müssen. Und das alles im Namen des Lebens und der Gesundheit. Covid-19 ist ein Virus, das vor weißen Nasen keinen Halt macht und dem deswegen Einhalt geboten werden muss. Denn das weiße Leben ist subjektiviertes Leben und damit betrauerbar, das der Oromo vor Ort oder in den Lagern auf Lesbos und in Libyen nicht. Wer #stayhome sagt, muss auch #leavenoonebehind sagen. Wem es das Leben der eigenen Großeltern und der Deutschen mit Vorerkrankungen wert war, während der ersten Corona-Welle zuhause zu bleiben, muss anschließend Fluchthilfe für die Insassen aus Moria leisten und mindestens dazwischen gehen, wenn die Polizei aus Hygieneschutzgründen Parks von PoC und wohnungslosen Menschen säubert. Andernfalls offenbart sich der Rassismus der Biopolitik: Betrauerbares Leben ist weißes, diszipliniertes Leben – jedes andere Leben wird vielleicht nicht aktiv getötet, aber im Zweifel sterben gelassen. Wir können als Individuen nun verzweifeln oder das eigene Subjekt in die Waagschale werfen: Meinen Pass kann ich nicht weitergeben, aber meine Privilegien und mich können diejenigen nutzen, die ansonsten sterben gelassen werden.

 

Mehr zur Theoriebasis von Michel Foucault in den folgenden Analysen aus dem Corona-Reallabor: Für die Gesundheit, für das Leben.

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