Im Folgenden handelt es sich nicht um eine umfassende Rekonstruktion der Arbeit und Methodik Michel Foucaults, statt dessen behandle ich seine vielfältigen Ansätze – wie es ihm selbst vorschwebte – weiterhin als Werkzeugkiste:
„Alle meine Bücher, sei es ‚Wahnsinn und Gesellschaft‘ oder dieses da, sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten. Wenn die Leute sie aufmachen wollen und diesen oder jenen Satz, diese oder jene Idee oder Analyse als Schraubenzieher verwenden, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu demontieren oder zu sprengen, einschließlich vielleicht derjenigen Machtsysteme, aus denen diese meine Bücher hervorgegangen sind – nun gut, umso besser.“
(Foucault, Michel: Von den Matern zu den Zellen. Ein Gespräch mit Roger-Pol Droit, in: Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Berlin : Merve, 1976, S. 53.)
Michel Foucault befasst sich in den 60er- und 70er-Jahren mit den Organisationstechniken der Gesellschaft, vor allem untersucht er die Genealogie der Macht. Grundlegend sieht er einen historischen Bruch im 18. Jahrhundert, in dem sich die Form der Macht und der Regierungstechnologien ändert. Von der Macht des Souveräns, der die Macht hatte, zu töten oder leben zu lassen, fand eine Entwicklung statt, hin zur Biomacht bzw. Biopolitik, die Leben macht oder in den Tod stößt. Die Macht erstreckt sich nun nicht mehr auf einzelne Rechtssubjekte, sondern auf eine Bevölkerung. Sie wird nicht mehr vorrangig durch das Recht organisiert, sondern durch gouvernementale Praktiken: Die Bevölkerung wird als Ganze reguliert und die Bürger als Einzelne diszipliniert. Durch verschiedene Regulierungs- und Disziplinierungstechniken werden sie ,leben gemacht‘, also hinsichtlich eines biologischen und neoliberalen Effizienzdispositivs bestmöglich gepflegt und gefördert. Der Körper ist für beides von zentraler Bedeutung: der gesamte Körper der Bevölkerung auf der einen Seite, der – seiner Individualität beraubte – Körper der menschlichen Gattungssubjekte auf der anderen Seite.
Das Dispositiv: Woher wir wissen, was ‚wahr‘ und ‚falsch‘ ist
Regulierungstechniken sind in diesem Kontext beispielsweise statistische Erhebungen der Geburten- und Sterbezahlen, epidemiologische Forschung, politische Ökonomie sowie die Sicherheitsdispositive als technisches Instrument. Ein Dispositiv ist nach Foucault
„ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes eben sowohl wie Ungesagtes umfasst.“
(Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978, S.119.)
Es umfasst jedes bewusste und unbewusste Wissen über einen Gegenstand, ein Ereignis oder eine Idee – es ist das, was denkbar, was machbar ist. Ein Gesamtdispositiv kann in seine einzelnen Elemente zerlegt werden, um zu erfassen, wie diese auf das alltägliche Leben Einfluss nehmen. Darüber hinaus hat es eine zeitlich begrenzte Lebensdauer: Dispositive, die in archäologischen Funden zum Ausdruck kommen, können von uns nicht mehr verstanden werden, da sie ihren Relevanzrahmen verlassen haben. Ein Dispositiv regelt das, was als ,wahr‘ oder ,falsch’/ ,sinnvoll‘ oder ,nicht sinnvoll‘ anerkannt werden kann.
Sicher ist sicher.
Sicherheitsdispositive bezeichnen beispielsweise die Fülle von Mechanismen, Techniken und wissenschaftlichen Methoden, die nötig sind, um ,Sicherheit‘ herzustellen, zu garantieren und zu empfinden. Sicherheit ist jedoch nicht in einem rein staatlichen Sinne zu verstehen, sondern auch hinsichtlich der Gesundheit, Lebensfähigkeit und Regulierbarkeit der Bevölkerung. Ein Teil der im urbanen Raum herrschenden Sicherheitsdispositive wird beispielsweise von der Stadt- und Raumplanung übernommen: Hier wird ein Milieu innerhalb eines begrenzten Raumes derart gestaltet, dass es als ,sicher‘ betitelt werden kann. Hierzu gehört die Installation von Beleuchtung, die Mobilität, das Patrouillieren von Sicherheitskräften sowie die grundsätzliche Annahme, gewisse Stadtviertel seien ,sicher‘ im Gegensatz zu anderen. Ein Dispositiv sortiert also im umfassendsten Sinne das, was ein Subjekt tun, denken und fühlen kann – es ist ein Gesamtkonzept von Normen, dessen es sich in den seltensten Fällen bewusst ist.
Was ist gesund?
Ein grundlegendes neben dem Sicherheitsdispositiv ist das Gesundheitsdispositiv: Wie groß, klein, dick, dünn ist ein gesunder menschlicher Körper? Was darf er zu sich nehmen und was nicht? Wie und wo muss er gefördert werden, um seine Kraft zu erhalten? Wo endet die Entscheidungsgewalt über den eigenen Körper und wo fängt das gesellschaftliche Interesse darüber an? All diese Fragen werden im Rahmen von Body Politics seit einigen Jahren diskutiert und verhandelt. Denn das Dispositiv klärt und organisiert von vornherein für jede*n Einzelnen, was gesund ist und was nicht. Die Basis für architektonische Anordnungen in Treppenhäusern, ärztliche Hinweise bei Regeluntersuchungen oder medial transportierte Schönheitsideale sind hier ebenfalls statistische, generalisierbare Daten.
Das Individuum wird als Exemplar der Spezies ‚Mensch‘ verstanden, das aufgrund seiner Zugehörigkeit zu dieser Spezies dieselben körperlichen Bedürfnisse, Voraussetzungen und Beschränkungen hat wie jedes andere Exemplar. Mit ballaststoff- und vitaminreicher Ernährung, einem ausgewogenen Schlafrythmus (nicht zu viel!) und regelmäßiger körperliche Betätigung kann also eigentlich nichts mehr passieren. Denn ein gesunder Mensch ist aktiv und kraftvoll. Depressionen oder Suizid werden auf diese Weise quasi ‚wider die Natur‘, denn sie hindern den Menschen ja ganz offensichtlich daran, das zu sein, was er als Mensch ist.
Da ein Virus wie Covid-19 die Bevölkerung als Ganzes und nicht nur einzelne Exemplare bedroht, sind die staatlichen Regulierungen innerhalb des Gesundheitsdispositivs im Rahmen der Corona-Krise 2020 an eine weitere Spitze getrieben worden. Außerdem wurde das Gesundheitsdispositiv erweitert um Wissen über Aerosole, Lungenvolumina und die Ziffer R. Das Dispositiv wird insofern nach Corona ein anders sein als vorher und bestimmte Hygienestandards werden bleiben, auch wenn das Virus behandelbar wird. Wo es vorher Anstoß erregte, ohne gewaschene Hände von der Toilette zu kommen, wird ’nach Corona‘ jedes Kleinkind ganz selbstverständlich in seine Armbeuge husten.
Von der Regierung zur Governmentalität
Bei den Disziplinierungstechniken spielen Techniken zur Selbstdisziplinierung eine entscheidende Rolle, hier wird versucht, die Fremdbestimmung in die Selbstbestimmung zu integrieren. Diese beiden Machttechniken der Regierung – Regulierungstechniken und Disziplinierungstechniken -, die die Bevölkerung zum Subjekt und Objekt haben, sind die neue Regierungskunst: Die Gouvernementalität. Die Gouvernementalität beschreibt eine bestimmte (,gute‘, s.h. richtige) Art des Regierens, in der ein Netz von Macht und Wissen nicht nur in Institutionen etabliert wird, sondern auch zwischen und in den Subjekten als Techniken zur Selbstregulierung. Die Regierung braucht durch die Gourvernementalität keinen Akteur, die die Subjekte zu diesem oder jenem Handeln auffordert, die Subjekte tun dies völlig selbst- ständig und etablieren sich so in der Matrix der Biomacht. Der Begriff der Gourvernementalität ermöglicht es, dieses Zusammenspiel von Macht und Subjektivität zu beschreiben, „auf diese Weise wird es möglich zu untersuchen, wie Herrschaftstechniken sich mit «Technologien des Selbst» verknüpfen“ (Lemke, Thomas: Gouvernementalität, in: Kleiner, Marcus S.: Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2001, S. 109.).
Das Subjekt als Träger*in der Macht
,Das Subjekt‘ steht in dieser Theorie nicht für eine qualitative Entität, ein Ich, eine Seele oder ähnliches, sondern für das sozialisierte Selbst, das nur in und durch die aktuelle Gesellschaft existiert. Es entsteht und besteht in dem Zusammenspiel von Macht und Subjektivität durch die Unterwerfung unter die Macht im Zuge seiner Disziplinierung. Man könnte sagen, ein Subjekt ist der Prozess, wie ein regulierbares, diszipliniertes, sich weiterhin disziplinierendes menschliches Wesen als solches anerkennbar wird und es durch diesen Prozess der Disziplinierung Handlungsmacht erhält:
„Das Foucaultsche Subjekt wird nie vollständig in der Unterwerfung konstituiert; es wird wiederholt in der Unterwerfung konstituiert, und es ist diese Möglichkeit einer gegen ihren Ursprung gewendeten Wiederholung, aus der die Unterwerfung so verstanden ihre unbeabsichtigte Macht bezieht.“
(Butler, Judith: Psyche der Macht – das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 90.)
Sämtliche Regierungspraktiken von modernen Gesellschaften zielen darauf ab, dieses Subjekt immer wieder hervorzubringen, zu stabilisieren und es im Zentrum der Gesellschaft zu halten. Subjektivierung ist insofern nicht nur Unterwerfung, sondern auch Ermächtigung und Fähigkeit. Durch kontinuierliche Gewöhnung entsteht eine Entität – das Subjekt -, das in der Lage ist, sich selbst zu führen, die Fähigkeiten der entsprechenden Handlungen zu erwerben und auf diese Weise Handlungen auszuführen:
„Subjektivität ist das praktische Selbstverhältnis des Sich-Führens, das seinen Ort im Etwas-Ausfüh- ren hat. Ein Subjekt zu sein und (in dem erläuterten Doppelsinn) etwas zu können ist daher dasselbe. […] Subjektsein heißt Machthaben – im genannten doppelten Sinn: das Gut einer Tätigkeit oder Praxis erwirken zu können, weil man seine eigenen Bewegungen entsprechend zu führen vermag.“
(Menke, Christoph: Zweierlei Übung – Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz, in: Honneth, Axel (Hrsg.): Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, S. 286.)
Etwas zu Können bedeutet die Fähigkeit des Ausführens und des sich selbst Führens zu erlangen. Beides wird im Laufe der Subjektivierung geübt und erlernt, sodass das Subjekt als Subjekt Träger*in und Tradierer*in dieser Handlungsmacht ist.
Macht und Herrschaft
Zu Beginn verwendet Foucault die Begriffe Macht und Herrschaft hauptsächlich synonym, bis er sie in den 80ern klar voneinander abgrenzt. Macht ist nicht an einen Akteur gebunden, sondern besteht wie ein Netz überall dort, wo Interaktion geschieht. Foucault begreift sie als strategische Spiele, die in jedem sozialen Feld vorhanden sind und das Handeln und die Kommunikation von Menschen durchdringen. Sie ist nichts Äußerliches, sondern bildet erst die Möglichkeit für das gesellschaftliche Zusammenleben.
Herrschaft hingegen ist die verknöcherte und starre Form dieser Spiele, wenn also kein Spiel mehr stattfindet, sondern die Machtverhältnisse fest installiert und unbeweglich sind. Wenn Machtspiele zur Herrschaft werden, „sind die sozialen Kräfteverhältnisse in Institutionen stabilisiert, ihre Mobilität und Reversibilität ist eingeschränkt, ihre Asymmetrie kristallisiert“ (Lemke, Thomas: Gouvernementalität, S. 118). Allerdings ist Herrschaft nicht selbstständig, sondern selbst ein Effekt von sogenannten Regierungspraktiken. Diese sind „systematisierte, regulierte und reflektierte Formen der Machtausübung“ Lemke, Thomas: Gouvernementalität, S. 119) und vollziehen durch den Einsatz von bestimmten Technologien den Wandel von chaotischen Machtspielen hin zu starren Herrschaftszuständen. Diese Technologien gilt es in der Machtanalyse zu untersuchen.
Was regiert hier wen?
Nach Foucault bedienen sich Regulierungstechnologien der Technologien der Selbstführung. Sie integrieren die Form der Selbstregulierung und -führung in die Herrschaftsordnung, sodass kaum mehr Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdführung gefunden werden können. Für diesen Vorgang ist die konsequente Regierung der Selbste – also des qualitativen Empfindens ein Subjekt zu sein – zentral, denn je besser die Selbstdisziplinierung, umso effizienter die Disziplinierung und Regulierung der Bevölkerung. Schwer zu unterscheiden bleibt dann auch der Akteur: Wo höre Ich auf und wo fangen die Anderen an?
To be continued.