vonfini 29.09.2020

Finis kleiner Lieferservice

Eine philosophische Werkzeugprüfung anhand gesellschaftlicher und politischer Phänomene.

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In den EU-Staaten muss die Staatsbürgerschaft entweder durch Vererbung oder durch Aufenthalt und Arbeit im Staatsgebiet erworben werden. Auch die Gewährung von Asyl ist an europäischen Boden gebunden – ohne, dass es sichere Fluchtrouten gibt, über die dieser Boden überhaupt zu erreichen wäre. Grenzstaaten wie Malta sind deswegen bemüht, ihre Grenzen dicht und die Fluchtrouten so gefährlich wie möglich zu halten.

Fall 3: Ein Seenotfall bleibt ein Notfall, auch wenn man ihm Rettungswesten hinterher wirft

Am 11.08.2020 entdeckte die Moonbird-Crew von Sea-Watch 25 Menschen in einem kleinen Holzboot, die in der maltesischen SAR-Zone trieben. Keiner der Menschen trug eine Schwimmweste, sie paddelten mit ihren Händen, da offensichtlich der Motor ausgefallen war.  Sobald sie das Flugzeug entdeckten, winkten sie verzweifelt um Hilfe. Die Moonbird-Crew informierte umgehend Malta über den Seenotfall und schickte einen Notruf über Funk.

Am nächsten Morgen suchte die Moonbird-Crew das Holzboot, um festzustellen, was mit den Menschen passiert war. Sie fand es in unmittelbarer Nähe eines Tankers: Einige der Menschen trugen inzwischen Rettungswesten, die Armed Forces of Malta (AFM) waren ebenfalls vor Ort und gerade dabei, ein eigenes Schnellboot zu Wasser zu lassen. Auf Nachfrage bestätigte die Besatzung des Tankers, dass sie vom RCC Malta angewiesen worden seien, in der Nähe des Notfalls zu bleiben.

Das Schnellboot der AFM fuhr zu dem Holzboot in Seenot und umkreiste es eine Weile. Die Moonbird-Crew versuchte erfolglos Kontakt zu den zwei Booten der AFM herzustellen. Nach 20 Minuten verließ das Schnellboot das Holzboot mit den 25 Menschen darauf wieder und kehrte zum Patrouillenboot zurück. Sowohl der Tanker als auch die AFM entfernten sich und ließen das Holzboot in derselben Verfassung wie zuvor – mit ein paar Rettungswesten und ohne Antrieb – auf dem Meer zurück.

Sorry, we are never available.

Die Air Liaison Officer (ALO) der Moonbird versuchte derweil immer wieder beim RCC Malta anzurufen, um herauszufinden, was mit dem Notfall passieren würde. Das RCC Malta war allerdings – wieder einmal – unerreichbar: Minutenlang ertönte Warteschleifenmusik und wenn die Anrufe doch durchkamen, wurde direkt wieder aufgelegt. Die Moonbird-Crew konnte auch über den Tanker nichts mehr über den Verbleib des Notfalls herausfinden, denn auch der reagierte nicht mehr auf Anfragen.

Mithilfe von Informationen über einen Funkkanal fand die Crew das Holzboot später am Tag wieder: Ein Fischerboot hatte dort wegen eines “Migrantenbootes” angerufen und die Position angegeben. Als die Moonbird das Holzboot wiederfand, trugen alle Menschen an Bord plötzlich Rettungswesten und der Motor lief. Auch ein Flugzeug der italienischen Küstenwache war inzwischen am Notfallort eingetroffen und umkreiste die Szene ebenso wie die Moonbird. Auf Nachfrage gab die Besatzung des italienischen Flugzeugs an, dass sie derzeit nicht vom RCC Malta in die Rettung einbezogen wären. Das AFM Patrouillenboot befand sich ebenfalls noch vor Ort.

Rassismus macht erfinderisch

Der Motor des Holzbootes lief währenddessen nicht besonders lange, sodass sich bald wieder ein Schnellboot der AFM näherte. Die Moonbird-Crew konnte beobachten, dass sich die Mitarbeitenden der AFM mit dem kaputten Motor des Bootes beschäftigten, als sie das Holzboot erreicht hatten. Nicht etwa mit der Rettung der Menschen. 10 Minuten bastelte die AFM an dem Motor herum, bis dieser wieder lief. So setzten die 25 Menschen auf dem Holzboot ihren Weg fort, durch Malta mit Rettungswesten und einem funktionierenden Motor ausgestattet. Sie fuhren nicht nach Malta sondern Richtung Lampedusa, Italien. Am späten Abend wurden sie dort von der italienischen Küstenwache gerettet und in Lampedusa an Land gebracht.

Über 24 Stunden begleiteten das RCC Malta und die maltesischen Streitkräfte die 25 Menschen auf dem Holzboot von Fall 3. Der Motor des Bootes wurde “repariert” und die Menschen mit Rettungswesten ausgestattet. Gerettet wurden sie allerdings nicht – ganz im Gegenteil wurden die 25 Menschen durch diese Aktion wissentlich akuter Seenot ausgesetzt und die Pflicht zur Hilfeleistung von Malta an Italien delegiert.

Das Privileg auf Leben 

Ein Privileg ist ein Vorrecht und vom Begriffsursprung bezogen auf Rechte, die nur für Einzelpersonen oder bestimmte Gruppierungen gelten. In Deutschland sind Privilegien juristisch größtenteils durch Artikel 3 des Grundgesetzes ausgeschlossen, nach dem jeder Mensch vor dem Gesetz gleich ist und niemand beispielsweise aufgrund seiner Abstammung benachteiligt werden darf. Auch in Artikel 20 der Charta der europäischen Grundrechte findet sich eine entsprechende Formulierung.
Erinnern wir uns nun an die Problematik eines Asylsuchenden aus meinem ersten Artikel zu den #CrimesOfMalta:

“Dank der Genfer Konvention und konkreter gefasst in Artikel 18 der Charta der europäischen Grundrechte haben in der EU Menschen auf der Flucht das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen, sobald sie einen Fuß auf europäischen Boden setzen. Da ein Asylantrag persönlich gestellt werden muss, können sie den Antrag nur in dem Staat stellen, in dem sie sich gerade befinden. ”

Es ist insofern die einfachste Möglichkeit, Menschen das Recht auf Asyl streitig zu machen, indem man sie daran hindert einen Fuß auf europäischen Boden zu setzen. Malta tut genau dies, wenn die AFM 25 Menschen mit notdürftig geflicktem Motor und Schwimmwesten ausgestattet Richtung Italien schickt. Vor dem Gesetz sind die Menschen an dieser Stelle immer noch gleich und insofern berechtigt Artikel 18 in Anspruch zu nehmen, es ist nur leider kein Gesetz vor Ort: Malta will keine weiteren Anträge auf Asyl und vor allem niemandem Asyl gewähren, der über das Mittelmeer flieht. Da Malta eine Inseln ist und ein Ankommen vor Ort demnach nur über das Mittelmeer passieren kann, gibt es insofern de facto kein Asylrecht mehr in Malta. Malta ist damit ein weiterer Staat in der EU, der Schutzsuchenden keine Möglichkeit mehr gibt, Schutz zu finden. Das Recht auf Asyl bleibt eine Farce, denn es werden weder sichere Fluchtwege organisiert noch Menschen in Seenot gerettet, sodass sie europäischen Boden betreten und dieses Recht in Anspruch nehmen könnten.

Stattdessen werden Schutzsuchende zwar nicht direkt getötet, allerdings bewusst einer tödlichen Situation überlassen, womit sich auch Artikel 20 erledigt hat: Pech, wenn Du kein*e EU-Bürger*in bist, denn für die gibt es ein Privileg auf Leben.

Siehe auch:

#CrimesOfMalta: Menschenrechtsverletzungen in der EU

#CrimesOfMalta I: RCC Malta – zu busy für Seenotrettung

#CrimesOfMalta II: Wie viele Zeichen ist ein Menschenleben wert?

#CrimesOfMalta IV: I will stay with you, no problem.

#CrimesOfMalta V: Zurück zur „Müllhalde“ Europas

#CrimesOfMalta VI: Schleusung von Menschen ist Staatssache

#CrimesOfMalta VII: Menschenrechte oder Heldentum?

#CrimesOfMalta VIII: Seid Ihr endlich tot?

#CrimesOfMalta IX: Glück auf Leben

#CrimesOfMalta X: Wofür es zivile Seenotrettung braucht

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