Omar El Manfalouty promoviert an der Goethe-Universität in Frankfurt in Alter Geschichte. Daneben ist er Stiftungsrat der Humanitarian Pilots Initiative (HPI) aus der Schweiz und fliegt seit 2018 mindestens einmal im Monat ehrenamtlich als Pilot von Moonbird/Seabird, die gemeinsam von HPI und Sea-Watch e.V. betrieben werden. Anfang Juli testete er zum ersten Mal Seabird und war Zeuge eines Falles, der den Wert des neuen Flugzeugs nicht besser hätte zeigen können: “Seabird ist zwar etwas teurer im Betrieb, kann aber deutlich länger in der Luft bleiben und hat mehr Aktionsradius; mit Moonbird hätten wir diese Mission nicht fliegen können. Weitere 52 Menschen wären im Mittelmeer ertrunken.”
Fall 7: Wir gehen hier nicht weg
Am 01. Juli 2020 starteten 52 Menschen in einem blauen Fiberglasboot von Castelverde in Libyen Richtung Europa. Zwei Tage später riefen sie bei Watch the Med Alarmphone an: Wegen des hohen Wellengangs waren sie gezwungen gewesen ihren Motor auszuschalten, da das Boot sonst gekentert wäre und dümpelten nun seit 2 Tagen ohne Antrieb auf dem Mittelmeer herum. Inzwischen trieben sie in der maltesischen Rettungszone, mindestens 4 Menschen waren verletzt, Essen und Wasser aufgebraucht. Alarmphone schickte die Koordinaten des Seenotfalls umgehend sowohl an das maltesische Rescue Coordination Center (RCC) – per Mail, da Anrufe nicht angenommen wurden – als auch an das italienische, da das RCC Malta nicht auf Anrufe und selten auf E-Mails reagiert.
Die Seabird von Sea-Watch e.V. war in dieser Woche erstmals voll im Einsatz gewesen und dann wegen einer Gutwetterperiode (besseres Wetter = mehr Boote, die starten) direkt jeden Tag. Da der 03. Juli der letzte gute Tag dieser Periode sein sollte und am nächsten Tag ein Unwetter nahte, flog Seabird zu den angegebenen Koordinaten: Das Boot trieb antriebslos umher und lief langsam mit Wasser voll. Die Menschen an Bord trugen keine Rettungswesten und winkten panisch nach Seabird, um auf ihre verzweifelte Situation aufmerksam zu machen. Omar war völlig klar: “Die Menschen in diesem Boot überleben den nächsten Tag nicht.”
Hilfe ist ganz in der Nähe!
Die Seabird-Crew setzte einen Notruf über Funk ab, um Schiffe in der Nähe zu erreichen und zur Rettung zu bewegen. Der unter libanesischer Flagge fahrende Viehtransporter Talia war das einzige Schiff in der Nähe, es fuhr leer von Tripolis nach Barcelona. Die Blockadeversuche der europäischen Behörden und ihrer Mitgliedsstaaten treffen auch die Handelsschifffahrt, was viele Handelsschiffe einschüchtert und klar zur Folge hat, dass sie es eher vermeiden, in Seenotfälle involviert zu werden. Dennoch flog die Seabird im Tiefflug über den Transporter, um Kontakt aufzunehmen und die Dringlichkeit des Anliegens zu verdeutlichen. Für Omar kam die Antwort des Kapitäns der Talia völlig überraschend: Er willigte ein, zu dem Seenotfall zurück zu fahren! Der Kapitän der Talia war Mohammad Shaaban, ursprünglich aus Syrien und sich insofern vermutlich sehr bewusst, weswegen Menschen gezwungen sein können, ihre Heimat zu verlassen. Für Omar, der ähnliche Fälle aber mit anderem Ausgang erlebt hat, ist es neben der rechtlichen Verpflichtung eine sehr persönliche Frage, ob ein Kapitän die Entscheidung trifft, einem Seenotfall zu helfen oder nicht: “Du musst Dich dann halt fragen, ob Du damit leben kannst, dass diese Menschen sterben, weil DU ihnen nicht geholfen hast.”
…wird aber nicht koordiniert
Der Air Liaison Officer (ALO) der Seabird rief unterdessen das RCC Malta an, um die neuen Koordinaten des Seenotfalls durchzugeben und die Anwesenheit der Talia zu kommunizieren, damit das RCC die Rettung koordinieren könnte. Die diensthabenden Offiziere weigerten sich allerdings, Informationen entgegenzunehmen und legten mit den Worten „Wir sprechen nicht mit NGOs“ auf. Alarmphone rief daraufhin erneut beim RCC Italien an, um anzuzeigen, dass das RCC Malta seiner Pflicht zur Rettung nicht nachkomme und Italien deswegen einspringen müsse. Das RCC Italien weigerte sich, eine Rettung für einen Seenotfall in der maltesischen Rettungszone zu übernehmen und empfahl Alarmphone eine E-Mail an das RCC Malta zu schicken. Obwohl Alarmphone weiter insistierte, dass das RCC Malta weder auf E-Mails noch auf Anrufe reagiere, weigerte sich das RCC Italien bei Malta direkt nachzuhaken: Sie wären nicht diejenigen, die die Informationen über den Seenotfall hätten (sondern eben Alarmphone und Sea-Watch), deswegen könnten sie das nicht tun.
Wer bewegt sich zuerst?
Über Funk versuchte die Talia das RCC Malta zu erreichen und weitere Anweisungen zu erhalten. Die verblüffende Antwort eines nahenden maltesischen Militärflugzeugs: “Bitte bleiben Sie vor Ort und überwachen Sie das Boot. Erlauben Sie dem Boot, seine Fahrt nach Norden fortzusetzen. Wenn sich das Boot in Seenot befindet, führen Sie eine Rettungsaktion durch.” Statt – wie üblich – illegalerweise die sogenannte libysche Küstenwache zu einem Seenotfall zu führen, wurde hier zunächst das getan, wozu ein Rescue Coordination Center rechtlich verpflichtet ist: Rettung koordinieren.
Die Talia hatte das Boot inzwischen erreicht, die Menschen mit Essen und Wasser versorgt und schützte es vor allzu starkem Wellengang. Ungünstigerweise war das Satellitentelefon der Talia defekt, sodass das Schiff von seiner neuen Position aus weder direkt mit dem RCC Malta noch mit der heimischen Reederei in Beirut kommunizieren konnte (die Rettung war immerhin mit einem erheblichen finanziellen Risiko verbunden). Die Position zum Funken zu verlassen, würde jedoch bedeuten, die Menschen in Seenot endgültig sich selbst zu überlassen. Ein klassisches Dilemma. “Das war wirklich eine schwierige Situation. Wir haben uns dann allerdings gesagt: Gut, dann nutzen wir unser neues Flugzeug eben als fliegende Telefonzentrale”, schildert Omar.
Die Seabird kreiste also langsam über der Talia, empfing über Funk Nachrichten vom RCC Malta und von der Reederei des Handelsschiffs und leitete sie an den Kapitän weiter. So eine enge Verbindung schafft Vertrauen. Um Treibstoff zu sparen flog die Crew zwischendurch nach Lampedusa, kehrte jedoch 2 Stunden später zurück und versuchte weiter, Mohammad Shaaban durch die Vermittlung der Kommunikation in seinem Vorgehen zu unterstützen. “Die Kapitäne sind in ihrer Eigenverantwortung voll gefordert, wenn sie einerseits einem dringlichen Seenotfall Hilfe leisten müssen und andererseits Millionenbeträge der Reedereien und damit ihren Job in Gefahr sehen – dazu kommt dann noch der politische Druck”, so Omar.
Über mehrere Stunden gingen unkonkrete Anweisungen vom RCC Malta ein, begleitet mit dem Versprechen, in ein paar Stunden würde Rettung geschickt – was jedoch nicht geschah. Erst am Abend befahl das RCC Malta der Talia, die Menschen an Bord zu holen, da es dunkel wurde und sich das Wetter deutlich verschlechterte. Malta versprach, die geretteten Menschen zeitnah auf ein Schiff der maltesischen Streitkräfte umzuladen; dem Versprechen folgten jedoch keine Taten. Die Crew der Talia versorgte die 40 Männer und 12 Frauen mit Essen und fuhr deswegen in Richtung Lampedusa.
Ping Pong spielen mit Menschenleben
Die italienischen Behörden verweigerten der Talia allerdings die Einfahrt in die italienischen Hoheitsgewässer und wiesen das Schiff an, nach Malta zu fahren. Auch das maltesische RCC verweigerte dem Schiff zunächst die Einfahrt in die eigenen Hoheitsgewässer. Erst am nächsten Tag (04.07.2020) erlaubte das RCC Malta dem Handelsschiff immerhin, in den Hoheitsgewässern vor Anker zu gehen, so dass es Schutz vor dem immer schlechter werdenden Wetter und damit einhergehenden starken Wellengang suchen konnte. Im Verlauf der nächsten Tage akzeptierten weder die italienischen Behörden noch das RCC Malta sich für diese Rettungsaktion als „zuständige Behörden“ zu erklären. Obwohl die gesundheitliche Situation der Geretteten schlecht bis katastrophal war und ein massiver Sturm durch das zentrale Mittelmeer fegte, mussten sie erst einmal auf dem Viehtransporter ausharren.
Sieben der geretteten Menschen zeigten massive Krankheitssymptome (unter anderem mehrere Schlaganfälle), woraufhin der Kapitän der Talia immer wieder an die RCC Malta und Italien appellierte, dass er an Bord keine Möglichkeit habe, den Menschen medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Erst am nächsten Tag (05.07.2020) schickte das RCC Malta einen Arzt zur Talia, der zwei der verletzten Personen nach Malta evakuierte. Eine der evakuierten Personen war der 16-jährige Yaakouba Barry, der vor seiner Überfahrt 14 Monate lang in einem inoffiziellen Gefängnis in der libyschen Stadt Bani Walid inhaftiert wurde und an den Folgen der dort stattgefundenen Folter litt.
“Dies ist ein Ort für Tiere!”
Der Arzt, der die zwei Menschen evakuierte, konnte sich vor Ort ein Bild der menschenunwürdigen Unterbringung auf der Talia machen: Wegen des immer noch anhaltenden Sturms waren die Menschen inzwischen unter Deck gebracht worden, wo zwar nicht mehr die Gefahr bestand, dass sie über Bord geworfen wurden, aber dennoch in den offenen Viehboxen auf dem Boden zwischen Exkrementen der vorherigen Viehtransporte ausharren mussten und immer wieder gegen die Bordwände geworfen wurden.
Nach mehreren öffentlichen Appellen an die maltesischen und italienischen Behörden über die Kanäle von Sea-Watch, Alarmphone und anderen unterstützenden NGOs, wusste sich Mohammad Shaaban nicht mehr zu helfen: Um die Öffentlichkeit zu informieren und politischen Druck auf die maltesischen Behörden aufzubauen, stellte er am 06.07. Videomaterial der widrigen Umstände an Bord bereit. Dabei schilderte er, dass er nicht genug Essen an Bord habe, um so viele Menschen zu versorgen und die Menschen außerdem unter starken gesundheitlichen Problemen litten. Er appellierte in völliger Verzweiflung an Malta und Italien dieser menschenunwürdigen Situation endlich ein Ende zu bereiten und ihrer Verpflichtung, die Situation zu beenden indem ein sicherer Hafen zugewiesen wird, nachzukommen.
Das Videomaterial wurde auch mir zur Rekonstruktion dieses Falles zur Verfügung gestellt. Es trieb mir die Tränen in die Augen und die letzte Malzeit hoch, Menschen mit individuellen Lebensgeschichten und -identitäten dort zusammengekauert auf dem Boden eines Viehstalls mit diesen typischen grünen Trinkvorrichtungen für Großvieh sitzen zu sehen. Menschen, die irgendwann mal zur Schule gegangen sind, vielleicht studiert haben, eine Arbeit, eine Familie und eine eigene Vorstellung ihrer Zukunft hatten. Ganz genauso wie ich – oder auch wie die Offiziere, die in den RCC Malta und Italien diesen Menschen ihre Menschlichkeit abgesprochen und dafür gesorgt haben, dass sie wie Vieh fünf Tage auf einem Viehtransporter ausharren mussten. Und das innerhalb der Grenzen der EU. Innerhalb des Staatenbundes, dessen Legitimation grundlegend auf dem Schutz von Menschen und ihren Rechten beruht. Die Aporie der Menschenrechte bleibt auch nach 70 Jahren intakt: Für die EU und ihre Mitgliedsstaaten bist Du kein Mensch mehr, wenn Du fliehst und kannst deswegen behandelt werden wie Vieh – auch wenn der Staat damit die Menschenrechte und das Völkerrecht gleich mit bricht.
Du kannst Dich politisch klar positionieren
Nachdem sie 5 Tage unter unmenschlichen und entwürdigenden Bedingungen auf dem Schiff verbracht hatten, wurden die restlichen 50 Menschen schließlich auf ein maltesisches Patrouillenboot überführt und am Abend des 07.07.2020 nach Malta gebracht. Mohammad Shaaban hatte zwei Dinge verstanden, die in seiner Macht lagen: Dass er mit der Talia das erste Handelsschiff war, das kompromisslos auf der Pflicht Maltas zur Aufnahme der Menschen beharrte, und dass unverbindliche Diplomatie im Umgang mit maltesischen Behörden nicht viel hilft. Der Kapitän wusste seine Crew und die heimische Reederei in seinem Rücken und vertrat eine klare und unmissverständliche Haltung. “Reedereien haben genauso wie wir eigentlich besseres zu tun, als Seenotrettung zu betreiben. Dazu sind vor allen anderen staatliche Akteure verpflichtet. Weil die auf ganzer Linie versagen, ist es auf einmal politisch, Menschen aus dem Wasser zu ziehen”, resümiert Omar den Fall, “Und dass Kapitäne deswegen lieber wegschauen, wenn sie einen Seenotfall sehen, anstatt zu helfen, ist eine direkte Folge der Politisierung, der Blockaden und der Vergeltungsmaßnahmen für erfolgte Rettungen. Menschen zu retten wird bestraft. Das ist der eigentliche Skandal.”
Auch Omar fragte ich natürlich, wie er mit dem europäischen Zynismus umgeht, den seine Arbeit sichtbar werden lässt. Omar ist kein bisschen zynisch: “Unsere Arbeit macht offensichtlich immer wieder einen Unterschied, z.B. für die 52 Menschen am 03. Juli. Mit Spenden und freiwilligem Einsatz können wir zusammen dafür sorgen, dass mehr Menschen überleben, dass weniger staatliche Verbrechen auf hoher See begangen werden und dass niemand zum Sterben zurückgelassen wird. Dafür arbeiten wir jeden Tag: An Land, zur See und in der Luft.”
Siehe auch:
#CrimesOfMalta: Menschenrechtsverletzungen in der EU
#CrimesOfMalta I: RCC Malta – zu busy für Seenotrettung
#CrimesOfMalta II: Wie viele Zeichen ist ein Menschenleben wert?
#CrimesOfMalta III: Schwimmwesten statt Asyl
#CrimesOfMalta IV: I will stay with you, no problem.
#CrimesOfMalta V: Zurück zur „Müllhalde“ Europas
#CrimesOfMalta VI: Schleusung von Menschen ist Staatssache
#CrimesOfMalta VIII: Seid Ihr endlich tot?