von 29.12.2010

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Spontane Ausflüge sind für Menschen mit körperlichen Einschränkungen fast unmöglich. Das soll sich durch Wheelmap.org ändern (Foto: Sabine Voß/Lizenz: by)

Ich liebe Schnee. Die Stadt sieht ruhig und sauber aus, wenn die Straßen weiß bedeckt sind. Nur eins mag ich nicht: Dass ich selbst für kurze Wege doppelt so lange brauche wie sonst und dass ich dabei auch noch mehrmals fast hinfalle. Mir geht das nur im Winter so, aber es gibt Menschen, die täglich mit solchen oder ähnlichen Hindernissen zu kämpfen haben. Rollstuhlfahrer beispielsweise stehen ständig vor kleinen oder großen Hindernissen – da muss jeder Ausflug gut geplant sein.

Es ist einfach lästig, dass man, sobald man auch nur leicht eingeschränkt ist, keinen Weg spontan nehmen kann. Und das nur, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Durch diese Gedanken bin ich auf die interaktive Internetplattform Wheelmap gestoßen. Auf www.wheelmap.org kann jeder weltweit Orte eintragen und in drei Kategorien einteilen: grün, gelb und rot. Grün bedeutet rollstuhlgerecht, gelb bedeutet bedingt rollstuhlgerecht und rot kennzeichnet Orte, die nicht rollstuhlgerecht sind. Zu grau markierten Orten liegen noch keine Informationen vor. Der Verein Sozialhelden aus Berlin hat die Plattform erfunden und entwickelt.

Raúl Krauthausen ist Mitbegründer der Sozialhelden und hatte die Idee zu Wheelmap: „Ich habe mich früher mit meinen Freunden immer im selben Café getroffen, weil ich wusste, dass ich da problemlos reinkomme“, sagt er. Der 30-Jährige ist Rollstuhlfahrer und lebt in Berlin. „Einer meiner Freunde hatte irgendwann keine Lust mehr, sich immer am selben Ort mit mir zu treffen.“ Da überlegten die beiden, wie viel einfacher es wäre, wenn jeder seine Ortskenntnisse mit anderen teilen würde – die Idee für Wheelmap war geboren.

Es ist natürlich nicht das erste Projekt, das es zu diesem Thema gibt. Die Bundesländer beispielsweise dokumentieren barrierefreie Orte in Datenbanken. „Problematisch bei solchen öffentlichen Projekten ist aber, dass die Förderung irgendwann ausläuft, und die Datenbanken zu Datenfriedhöfen werden“, sagt Raúl. „Bei Wheelmap existieren die Informationen unabhängig vom Verein, sie können weitergeführt werden, sollten sich die Sozialhelden mal auflösen.“ Hinzu kommt, dass jeder Internetnutzer weltweit Orte eintragen und bewerten kann.

Ganz ausgereift ist das Projekt noch nicht, das weiß Raúl am besten. Spontan fallen ihm gleich mehrere Dinge ein, die optimiert werden müssen. „Die Plattform läuft noch zu langsam, und das Eintragen der Orte soll einfacher werden.“ Auch bemängelt er, dass man mobil bisher nur mit dem iPhone auf Wheelmap zugreifen kann, nicht aber mit anderen Smartphones. „Und natürlich haben wir bisher die meisten Einträge in Berlin, denn die Seite ist erst seit September online.“ Er sei aber stolz darauf, dass Wheelmap bis zu 400 neue Einträge am Tag habe, neben Deutschland auch in Australien und Österreich. „Das ist viel mehr, als wir erwartet haben.“

Die Kritik von Außenstehenden bezieht sich auch auf andere Punkte. „Wir haben die Plattform aus meinen Bedürfnissen heraus entwickelt und mussten feststellen, dass Barrierefreiheit ein politisch sehr aufgeladener Begriff ist und viele Gruppen einschließt, beispielsweise Gehörlose, Blinde und Menschen mit Lernschwierigkeiten“, sagt Raúl. Da Wheelmap aber nur rollstuhlgerechte Orte kennzeichnet, und zu Beginn den Begriff Barrierefreiheit benutzt hat, hätten die Sozialhelden Ärger mit dem Land Berlin gehabt. Was Raúl aber mehr ärgert, sind die Reaktionen mancher User. „Die Menschen teilen sich in zwei Lager: die einen jammern und die anderen machen das Beste aus ihrer Situation. Das ist bei Leuten mit Behinderung nicht anders“, sagt er. „Einige haben sehr hohe Ansprüche und sind selten zufrieden.“ Er sei der Meinung, dass man als Rollstuhlfahrer beispielsweise nicht unbedingt über die hohe Theke in einer Kneipe meckern muss. „Klar, die meisten Orte sind nicht optimal für Rollstuhlfahrer“, sagt der Berliner. „Aber mir reicht es schon zu wissen, dass ich problemlos irgendwo hinkomme und die meisten Leistungen bequem in Anspruch nehmen kann.“

Das Kartenmaterial der Plattform stammt von der freien Wiki-Weltkarte Open Street Map. „Das war eine Kostenfrage“, erklärt Raúl. „Für die Karten von Google hätten wir zahlen müssen. Da der Verein nur zehn Mitglieder hat, konnten wir uns das nicht leisten.“

Aber es ist schon bedenklich: Auf Google Maps kann man sich beispielsweise anzeigen lassen, zu welchen Orten es Fotos, Videos oder Wikipedia-Einträge gibt. Auf die Idee, mit der Plattform etwas für Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu tun, ist bei Google Incorporated niemand gekommen. Stattdessen verkauft das Unternehmen den Dienst Google Street View als Zusatzleistung für Rollstuhlfahrer: Sie können „die Barrierefreiheit bestimmter Plätze überprüfen“, heißt es auf der Google Maps-Seite. „Es ist und bleibt ein Nischenthema“, meint Raúl. „Wahrscheinlich lohnt sich das für Google einfach nicht.“

Wie alle Projekte der Sozialhelden soll auch Wheelmap in spätestens zwei Jahren ein Selbstläufer werden, damit die Mitglieder wieder freie Köpfe für neue Einfälle haben. Ich finde die Idee super und werde in Zukunft Orte, die ich für rollstuhlgerecht halte, bei Wheelmap kennzeichnen. Immerhin ist das auch eine Art, wie man seinen Mitmenschen das Leben ein bisschen erleichtern kann – und zwar nicht nur Rollstuhlfahrern und Senioren, sondern auch Familien mit Kinderwagen oder Menschen mit Gipsbein.

Text: Sabine Voß

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