vonImma Luise Harms 16.11.2006

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Auf dem Land sind die Türen nicht abgeschlossen. Jedenfalls bei uns auf dem Gutshof. Bisher ging noch alles gut. Die Leute klopfen, machen die Tür auf und rufen „Hallo?“ oder stehen auch einfach gleich in der Küche, je nach Tageszeit und individueller Hemmschwelle.

Aus meiner Küche kommt ein Krächzen, das mir unbekannt vorkommt. Von meinem Schreibtisch aus rufe ich: „Thomas?“ Ist er nicht. „Maria?“ Auch keine Antwort.  Nun muss ich doch gucken.

Die Tür zum Hof steht auf. Es zieht kalt herein. Mitten im Raum steht ein alter Mann, hält sich mit zittrigen rot-blau-gefrorenen Fingern an der Tischkante fest. Der ganze Mann scheint zu zittern; er ist wirklich alt. Seine unteren Augenlider hängen herunter. Die wässrigen Augen heften sich auf mich. Er will nicht nach dem Weg fragen, soviel ist klar. Es kommen nur Satzbrocken heraus. „..ne Frau, …weiß nicht, wo sie hinwill“, „… nach Wriezen…“ „…kann da doch nicht bleiben…“. Irgendeine Art von Hilfe ist erforderlich. Ich sage „Warten Sie“ und ziehe mir die Schuhe an.

Ein paar Schritte vom Hauseingang steht ein Rollstuhl auf dem Kopfsteinpflaster. Eine alte Frau sitzt darin, ohne Mantel oder Jacke. Die dünnen Haare flattern im kalten Wind. Über den Knien liegt eine kleine Decke. Die Frau ist zusammengesunken, teilnahmslos, blickt kaum auf, als ich an sie herantrete.

In mir ordnet sich alles zum Einsatz. Wer ist die Frau? Wer ist der Mann? „Wo kommen Sie denn her?“ „Weiß ich nicht“ sagt der Mann. Ach herrjeh! „Aus Reichenow“ sagt die Frau. Na, das ist ja eigentlich hier, hilft jetzt aber auch nicht weiter. „Und wie heißen Sie?“ „Ziemke“, sagt der Mann. „Ziemke“ echot die Frau finster. „Die lügt“ sagt der Mann, „ich kenn die gar nicht. Die hat sich bei uns eingeschlichen, aber da kann sie doch nicht bleiben.“ Ich seh auf die Frau herunter, der alles egal zu sein scheint. „Ich kenn die nicht“, wiederholt der Mann, „die kommt aus Wriezen, und da muss sich auch wieder hin“. Zwei Fragen gehen durch meinen Kopf. Wollte der alte Mann die Frau wirklich im Rollstuhl nach Wriezen schieben? Das ist 10 Kilometer entfernt! Und wie hat er, der sich kaum aufrecht halten kann, sie über das höllische Kopfsteinpflaster hierher gekriegt? Der Wunsch, sie loszuwerden, muss ihm unbändige Kräfte verliehen haben.

Die rosa Kopfhaut der Frau schimmert durch die weißen Haarsträhnen. Ich hole eine Decke aus dem Haus, wickle sie der Frau um Kopf und Schultern und versuche, ihr die Deckenzipfel in die Hand zu schieben, damit die Decke auf der bevorstehenden Fahrt über das Kopfsteinpflaster nicht sofort wieder herunterrutscht. Der Mann sieht missbilligend zu und wiederholt, dass er zwar Ziemke heißt, die Frau aber nicht, und dass die Frau auf jeden Fall weg muss.

Was tun? Wohin? Wer kann helfen? An der Ecke wohnen Erika und Karl – das Rüstigste, was man sich als Rentnerpaar überhaupt vorstellen kann. Sie scheinen in allem, was sie tun, auf dem Gipfel ihrer Lebenstüchtigkeit zu sein. Karl kann alles und Erika weiß alles.

Ich hole sie zwischen ihren Kaninchenställen hervor. „Erika, wer ist die Frau da draußen?“ Der Mann sagt, dass er Ziemke heißt, aber er weiß nicht, wo er herkommt. Erika will eine Ferndiagnose stellen. Aber das nützt mir jetzt nicht. „Komm mit, du musst mir helfen“.  Sie zieht sich ohne Hast eine Jacke an und folgt mir mit rudernden Armen um das Haus herum.

„Das sind doch die Ziemkes“. „Das ist nicht meine Frau, ich kenn die gar nicht“, ruft uns der Alte verzweifelt entgegen. Vielleicht hat er eine dunkle Ahnung, dass ihm das mal wieder keiner glauben will.

Erika: „Herr Ziemke, det is doch Ihre Frau, die müssen Se doch kennen!“ „Nee, nee“ wiederholt er flehend. „Die muss nach Wriezen.“ „Wat sollse denn in Wriezen? Die wohnt doch hier. Herr Ziemke, mit Ihre Frau, da sinn Se doch schon über sechzich Jahre verheiratet. Die könn Se doch nich wechschieben! – Die wohnen anner Schäferei, jejenüber von Tornows“, erklärt Erika mir in ihrer schweren pommerschen Sprache, „dat macht der öfters. Da schiebt er seine Frau einfach ausm Haus. Neulich stand der Rollstuhl bei uns vorm Hühnerstall, da sach ich zum meim Karl …“ Erika plaudert mit mir, während sie den alten Herrn Ziemke unterhakt und vorwärts zieht und ich den Rollstuhl mit der Frau über das Pflaster rumpele.

Sechzig Jahre verheiratet, und jetzt kennt er sie nicht mehr! Und sie sitzt hilflos im Rollstuhl und muss sich abschieben lassen, von ihrem Mann, mit dem sie ein ganzes Leben geteilt hat! Ich denke an meine Panikgefühle, wenn mir Erinnerungsbrocken wegrutschen, wenn mir ein Name nicht einfällt. Ein kleines Fadenende im Gedankendschungel, das immer wieder weggezogen wird, kurz bevor ich es zu fassen gekriegt habe.

Als wir an der Einfahrt zum Schloss vorbeikommen, blickt die alte Frau auf und macht eine leichte Drehung mit den Schultern. „Ja, sie will immer nach’n Schloss, da hat se als junget Mädchen jearbeitet“, erklärt Erika. Der Alte wiederholt: „Nachet Schloss willse immer.“ Die abgerissenen Erinnerungsstränge kreuzen sich, um sich gleich wieder zu verlieren: „Aber se is nich von hier und hier kannse nich bleiben“. Was sagt denn Frau Ziemke dazu? „Det Schloss, ja, da hab ich auf die Zimmer jearbeitet“. Herr Ziemke war Stallknecht. So lange ist das her, aber immer noch: das Schloss, das Schloss! „Frau Ziemke, wieso sagt Ihr Mann, dass er Sie nicht kennt?“ Sie dreht den Kopf zur Seite und sagt dumpf: „Der spinnt!“ dann lässt sie sich in die weite Wüste der Gegebenheiten zurückfallen, in denen sie nichts mehr zu entscheiden hat.

Wir kommen am Haus von Ziemkes an. Tochter Annemarie wohnt mit ihrem Mann im vorderen Teil. Beide sind arbeiten. Beide müssen lange Wege dafür machen und kommen erst spät zurück. Tagsüber kommt der ambulante Pflegedienst vorbei und versorgt die alten Leute. Herr Ziemke ist nur schwer zu überreden, in sein Haus einzutreten, denn die fremde Frau im Rollstuhl wird hinterhergeschoben. Im Flur steht das Mittagessen in einem Styropor-Karton.

Im Wohnzimmer wohnt vor allem ein großer Fernseher, der aus seiner Eckposition heraus jeden Winkel des Zimmers bestrahlt und dessen Nachmittagsprogramm gnadenlos heiter-bunte Laune versprüht. Ich schiebe Frau Ziemke vor den Apparat wie vor einen Ofen und knipse eine kleine Wandlampe an – ein hilfloser Versuch, die Fernsehtotalität zu relativieren.

Herr Ziemke schlurft ratlos zwischen Küche, Wohnzimmer und Flur hin und her. Er will sich nicht damit abfinden, dass die Frau nun doch wieder hier ist. Erika argumentiert weiter mit ihm. „Det ISS Ihre Frau, Herr Ziemke, gloobense’t mir! Warten Se ma, bis Annemarie kommt! Die kümmert sich dann.“ Die Tochter, an die erinnert er sich. Gut so, ein kleiner Aufschub. Er soll nicht wieder losschieben, sobald wir uns umgedreht haben. Er ärgert sich halt, dass wir ihm nicht glauben. Ich versuche die Aikido-Strategie: „Herr Ziemke, auch wenn es nicht Ihre Frau ist – draußen ist es doch kalt. Wo soll die Frau denn jetzt hin? Lassen Sie sie doch hier, bis Ihre Tochter kommt. Die weiß dann schon, was mit ihr passieren soll!“

Erika und ich gehen den Weg zurück, ich die Wolldecke überm Arm, sie die Hände in den Taschen vergraben, und reden über das Schloss, über die LPG, wo später alle gearbeitet haben, und reden darüber, was mit den Ziemkes passiert, wenn sich mal keiner findet, der sie nach Hause schiebt.

Ich nehme mir vor, später noch mal anzurufen. Das hab ich aber doch nicht getan.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2006/11/16/ab-nach-hause-wo-ist-das/

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kommentare

  • Identinfizieren ist auch a´ Kunst, erblich –
    ka Komma ka K: unsterblich
    ka Komet´n, ka Sinnflut,
    ka Schuld zu erben,
    ka älter wer´n, ka Dunst zu färben
    a k”uns”t i o n, und streben und bersten:
    wer wen verloren glaubt zu letzt, zwar nur,
    der leicht es nimmt, der ist es gar zum ersten

    http://coforum.de/index.php?895

  • Ach du Scheisse….Mensch Imma, ist schoen, dass deine Kueche immer auf ist.
    Wenn Herr Ziemke dir jeden Tag seine Frau bringt, dann muesste man sich etwas ueberlegen.Vielleicht ein Warte-Haeuschen?
    Am Wochende sieht Krimo ihren Vater wieder, der Alzheimer im Fruehstadium hat und sie noch erkennt, so hofft sie.
    Danke fuer deinen Bericht.

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