vonImma Luise Harms 30.03.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

Mehr über diesen Blog

Polen ist offen

Die bedeutende Radweg-Trasse „Tour Brandenburg“ soll am 12. Mai 2007 eröffnet werden. Sie wird von Strausberg über Kähnsdorf, Prädikow, Reichenow, Möglin, Kunersdorf, quer durchs Oderbruch bis an die Oder führen. Die zentrale Eröffnungszeremonie soll bei uns in Reichenow stattfinden. Es werden über tausend Gäste erwartet, vor allem Radfahrer.

Anfang März gab es eine große Informationsveranstaltung in Wriezen dazu, auf der Amtsdirektor Ehling und Vertreter verschiedener Verbände die großen touristischen Entwicklungschancen ausmalten, die mit dem Radweg und den gut betuchten und zahlungswilligen Radwanderern verbunden sind. Eine der touristischen Attraktionen für die Ausflügler ist die Möglichkeit, einen Abstecher nach Polen machen zu können. Denn Anfang Juni wird die erste Oderfähre seit der Kriegszeit ihren Betrieb aufnehmen. Die kleine Schaufelrad-Fähre wird den brandenburgischen Ort Güstebieser Loose mit dem polnischen Gosdowicze verbinden. 7 Minuten braucht das Schiff für einen Weg; der Preis fürs Übersetzen soll für Radfahrer unter einem Euro liegen.

Die Oder gab’s ja früher an dieser Stelle gar nicht. Ihr Bett wurde gegraben, um den Wassermassen nach der Oderbruch-Trockenlegung einen neuen Weg zu verschaffen. Das ist schwer vorzustellen, wenn man an dem breiten, schnell fließenden Strom steht und hinüber auf die andere Seite schaut. Da ist ein anderes Land, das irgendwie auch mal deutsch war, aber jetzt Polen ist. Die Oder-Neisse-Linie, die sich den Nachgeborenen erst durch ihre penetrante Infragestellung als unüberwindliche Grenze eingegraben hat.

Das Land sieht auch ganz anders aus: Während sich die westlichen Oderbruch-Auen über Kilometer hinziehen und durch Deiche vor Überschwemmungen geschützt werden müssen, fallen auf der Seite gegenüber die Hänge bis zum Wasser ab. Da gibt es keine Deiche. Die Orte stehen auf den Hügeln. Im Winter sieht man die Kinder die Hänge hinab rodeln.

Vor einem Jahr standen wir auch hier und schauten auf die andere Seite, etwas weiter östlich, bei Celliner Loose. Es war noch im März wochenlang sehr kalt gewesen. Die zugefrorene Oder ist ein Ereignis, das es nicht häufig zu bestaunen gibt. Mit unserem Auto waren wir auf dem Damm an den überschwemmten und überfrorenen Auen vorbei bis an den Fluß herangefahren, damit wir mit den Schlittschuhen nicht so weit laufen müssen. Die Auen bildeten tatsächlich eine ebene Eisfläche. Wir wollten sie aber erst mal zu Fuß erkunden, bevor wir uns auf die Kufen stellen.

Die Fläche ist ganz fein geriffelt. Es wird vielleicht doch nicht so ein Vergnügen sein. Wir gehen weiter Richtung Fluß. Nach vielleicht hundert Metern endet das Auenwasser an dem Eisgebirge, das sich über dem Flussbett aufgetürmt hat. Große Schollen sind abgebrochen, haben sich übereinander geschoben und sind gleich wieder zusammengefroren. Wir sehen, wie dick die Eisdecke auf dem Fluss ist: Oberschenkel-Dicke – blau schimmernde Bruchflächen, glänzend überfroren auf der einen Seite, rau bereift auf den schräg liegenden Flächen. Der Faltenwurf der zerklüfteten Landschaft ist wohl einen Meter hoch und streckt sich, labyrinthisch lockend, soweit wir die Augen heben. Wir klettern auf die Eisbrocken, quieken, wenn wir abrutschen, schreien uns unsere Begeisterung zu. Wir versichern uns, dass das Eis so dick ist, da könnte ein Panzer drüberfahren. Wir entdecken immer neue Eishöhlen und karstige Eisgebirge. Das Spiel des Lichts auf dem Eis bringt uns in einen Taumel, es lockt uns immer weiter in die verzauberte weiße Landschaft hinein.

Die Wölfe sollen ja über die gefrorene Oder in den Westen wechseln und die Elche auch. Die gefrorene Neiße haben sie in früheren Jahren mit Eisbrechern offen gehalten, damit keine Flüchtlinge da rüber kommen können. Ob die Oder auch offen gehalten wird? Jetzt noch, nach diesem Frost? Das würde uns schon interessieren. Die Frage saugt genau so an uns wie die magische Eiswüste. Vielleicht ist sie nur ein Vorwand, um der Lust des Vordringens einen Grund zu geben. Wir klettern von Scholle zu Scholle. Nein, es ist nicht gefährlich. Guck mal, wie dick das ist! Aber hier müsste die Fahrrinne sein. Nein, es gibt kein offenes Wasser mehr. Wie auch, das würde ja sofort wieder zufrieren.

Von den Hügeln auf der anderen Flussseite löst sich der Uferumriss. Ganz klein sehen wir drei Menschen zwischen den Bäumen stehen. Sie schauen zu uns herüber, sie beobachten uns.

Polen. Seit ein paar Monaten in der EU. Freundesland. Scheiß auf die Geschichte. Der Ort auf dem Hügel heißt auch Czellin, wie auf der westlichen Seite, bloß mit z dazwischen.

 

Dowidzenia

Nein, jetzt kehren wir nicht mehr um. Die Oder auf dem Eis überqueren – die Tragweite der Aktion ist uns nicht bewusst. Das letzte Stück gefrorenes Wasser, das bis an die Baumwurzeln des Ufers heranreicht, ist sehr glatt. Wir laufen vorsichtig, Schritt für Schritt. Die Männer am Ufer rufen uns auf polnisch etwas zu. Es klingt freundlich und ermunternd. Dann haben wir sie erreicht. Wir schütteln ihnen die Hände. Sie sagen: Dowidzenia. Ich sage in unkontrollierbarer Überschwänglichkeit: Guten Tag, Polen!

Wenn ich jetzt an diese Szene denke, überlagert sich ein anderes Bild: eine Karikatur aus den 30er Jahren, auf der Hitler nach dem Pakt zur völligen Aufteilung Polens über die polnische Leiche hinwegsteigt, und Stalin erfreut die Hand schüttelt. Aber in dem Moment habe ich gar nichts gedacht, höchstens an die Freude, und dass alle Menschen Brüder werden, wo ihr sanfter Flügel weilt.

Die Männer lachen und reden polnisch, wir lachen und reden deutsch. Sie zeigen den Hügel hinauf, nach Czellin. Thomas meint, wenn wir jetzt schon in Polen sind, dann können wir doch auch nach Czellin hinauf gehen. Wir haben ein Fläschchen mit Schnaps dabei. Das ist immer schön beim Schlittschuhlaufen. Wir könnten uns da oben was zu essen kaufen. Wir steigen also den Hügel hinauf, vorbei an Informationstafeln, an Bänken, Parkplätzen und an einem Denkmal. Wir finden eine Art vergrößerten Kiosk. Die Frau verkauft uns ohne weitere Fragen für unseren Euro zwei Brötchen und eine polnische Wurst. Wir durchqueren den kleinen Ort, der wie nicht anders erwartet, träge und verschlafen auf uns wirkt. Kinder springen mit dem Seil. Ein Fahrrad wird vorbeigeschoben. Haustüren auf und zugemacht. Wir werden kaum beachtet.

Wir gehen zurück an den Hügelabhang. Die Sonne steht im Westen. Von hier sieht man weit ins deutsche Land hinein. Wir setzen uns auf eine Bank, packen den Schnaps aus, schneiden die polnische Wurst in Scheiben und versuchen unser Glück zu fassen. Ein Wagen biegt auf den Parkplatz ein. Er bleibt hinter uns stehen. Zwei Männer steigen aus, der eine hat eine uniformartige Kappe, der andere Glatze und ist im Trainingsanzug. Die Glatze fragt uns etwas in polnisch, die Kappe übersetzt brockenweise ins deutsche. Was wir hier machen, wo wir herkommen? Wir zeigen auf die Eisfläche unter uns: Über die Oder. Es hätte sowieso keinen Sinn gehabt, etwas anderes zu behaupten. Jetzt wird die Glatze förmlich: Sein Blick vollzieht unsere Eiswanderung nach und bleibt dann auf unseren Gesichtern liegen. Er will unsere Papiere sehen. Ich habe einen Personalausweis, Thomas nicht. Er hat gar nichts dabei. Komplett ausweislos.

 

Komplett ausweislos

Die beiden Männer nehmen meinen Ausweis, gehen damit zum Auto, suchen Funkverbindung und bemühen sich um Informationen oder Orders, was mit uns geschehen soll. Die Glatze fährt schließlich mit meinen Ausweis weg. Die Kappe bleibt bei uns stehen. Gesprächsversuche bleiben in den Anfängen stecken. Es ist vor ein paar Tagen ein Kind in der Oder ertrunken, etwas weiter westlich von hier. Er weiß nicht, was weiter passiert. Warten, der andere kommt gleich wieder. Verstohlen packen wir die polnische Wurst ein.

Der andere kommt wieder. Er hat nichts klären können. Jetzt müssen wir mitkommen. Es wird auf jeden Fall Strafe kosten, sagen sie, und zwar viel. Wir haben aber kein polnisches Geld sage ich. Die beiden führen und in den Kiosk zurück, in dem wir die Wurst gekauft haben. Die Verkäuferin wechselt uns genauso kommentarlos wie vorher einen 50Euro-Schein in Zloty. Ob das reicht?

Im Dorf befindet sich eine offizielle Grenzstation. Die haben wir vorher nicht wahrgenommen. Wir werden gebeten, in einer Art Besucherzimmer Platz zu nehmen. Zwei ehemals gutbürgerliche Sessel, deren Verschlissenheit unter Decken versteckt ist und die durch Entfernen der Beine tiefergelegt wurden. Zwischen uns ein Tisch mit einer Wachstuchdecke, die ein Stickmuster nachahmt. Unsere Sessel stehen parallel, so dass unser Blick auf die gegenüberliegende Wand ausgerichtet ist, auf ein violett bestrahltes Aquarium, das von einem leuchtend roten Fisch bewohnt ist. Der Fisch schwimmt an der Glasscheibe hin und her. Wir folgen ihm mit unseren Augen. Hin und her, hin und her. Was wird weiter passieren? Ohne Ausweis werden die uns nicht einfach gehen lassen. Allenfalls dem deutschen Grenzschutz übergeben. Aber wo?  Die Brücke bei Hohenwutzen ist zwanzig Kilometer weiter nördlich.

Die Glatze pendelt zwischen Büro und Besucherzimmer. Man hat noch keinen Funkkontakt, keine Order. Irgendwie hat sich der Ton geändert. Es bietet uns etwas zu trinken an, was wir höflich ablehnen. Ob wir mit dem Auto zur anderen Oderseite gefahren sind? Ja. Ist das vielleicht auf Thomas zugelassen? Nein, auf mich. Der Grenzer verzieht das Gesicht zu einem Ausdruck heftigen Bedauerns. Die Kappe assistiert beim Übersetzen: Wenn das Auto auf der anderen Seite auf Thomas zugelassen wäre, hätten sie durch Anruf bei den deutschen Behörden seine Identität feststellen können. Sie können nur mit der Straßenverkehrsbehörde telefonieren, nicht mit Einwohnermeldeämtern oder anderen Dienststellen.

 

Warten mit dem roten Fisch

So sitzen wir eine Stunde und sehen dem roten Fisch zu. Ich frage zwischendurch mal an, ob wir irgend etwas tun können, um den Vorgang zu erleichtern, nur um uns in Erinnerung zu bringen. Aber das ist gar nicht nötig, sie sind wirklich bemüht, eine Lösung zu finden. Sie müssen ja irgendwo hin mit uns. Schließlich haben sie eine Entscheidung gefasst. Der glatzköpfige Grenzer erklärt uns, dass wir jetzt jeder umgerechnet 20 Euro zahlen müssen. Das ist teuer, er weiß, aber so viel kostet nun mal ein Ausweisersatz. Und dann sollen wir einfach gehen. – ?! – Ja, wir sollen gehen, und er will nicht wissen, wohin.

Ich denke, vielleicht hätten wir die Zloty schon viel früher einfach auf den Tisch legen sollen. Vielleicht ist das umständliche Ausfüllen der Ersatzpapiere eine Handlung, zu der wir ihn durch unsere Erwartung auf einen geregelten bürokratischen Vorgang erst gezwungen haben.

Wie auch immer, jetzt stehen wir im Flur. Ich bin voller Dankbarkeit, spüre aber auch den Fluchtreflex in den Beinen.  Ich erkläre mit ausladenden Gesten, dass wir keineswegs die Absicht hatten, die polnische Grenze zu verletzen, dass wir sie vielmehr von Herzen respektieren. Dass wir der Annahme waren, für den Grenzübertritt nach Polen keinen Ausweis mehr zu benötigen, nachdem Polen ja nun EU-Mitglied ist. Thomas  kündigt an, dass wir dann im nächsten Jahr mit den Fähre ganz legal wiederkommen. Wir schütteln uns die Hände, dann treten wir ins Freie und machen schnell die Tür hinter uns zu.

Wir ratschlagen kurz, sollen wir wirklich über die Oder zurück gehen? Ob sie das zulassen? Oder stellen sie uns nur eine Falle? Aber wir haben keine Alternative. Hohenwutzen ist weit, und außerdem ohne Papiere über die Grenze nach Deutschland einreisen zu wollen, da freut sich der BGS. Da hat er einen Vorgang, mit dem er sich lange beschäftigen kann.

 

Hand aufs Herz

Wir gehen also aus dem Dorf, Richtung Oderufer. Fast haben wir die Parkbank wieder erreicht, als sich hinter uns ein Auto nähert. Dieses Gefühl im Rücken! Versuch des illegalen Grenzübertritts – mitkommen! Tatsächlich bremst der Wagen neben uns, die Glatze steigt aus. Geht um den Wagen herum, hat zwei Zettel in der Hand, die sich uns entgegenstreckt. Wir haben unsere Hilfsausweise liegen lassen! Die hat er uns nachgebracht. Ich bin den Tränen nah, schwimme in Verbrüderungsgefühlen. Wir bedanken uns, der Mann bedankt sich auch, verabschiedet sich noch einmal von uns und legt dabei seine Hand aufs Herz. Dann steigt er ein, wendet und ist weg.

Über der gefrorenen Oder liegt das rote Licht der untergehenden Sonne. Wir fliegen von Scholle zu Scholle, versuchen die Bedeutung des Abenteuers zu ermessen, indem wir uns vorstellen, wie wir uns in der Zukunft daran zurückerinnern. Aber noch ist die Zukunft nicht erreicht. Hat die Glatze vielleicht doch die deutschen Behörden informiert. Und lauert die uns jetzt vielleicht auf der anderen Seite auf? Der Sonnenuntergang trübt sich ein. Auf der anderen Seite sehen wir zwei Gestalten auf dem Eis, ganz in der Nähe der Stelle, wo wir unser Auto gelassen haben. Sie schauen in unsere Richtung. Was sollen wir tun? Zurück geht nicht, wär auch Quatsch. Augen zu und durch. Weiter Richtung Deutschland. Die beiden Gestalten werden größer. Sie warten. Sie halten abgewinkelte Gegenstände in der Hand. Sieht aus wie Maschinenpistolen. Noch einmal müssen wir uns unserem Schicksal überlassen und abwarten, was passiert. Wir erreichen die geriffelte Fläche des gefrorenen Auenwassers. Die beiden Männer stehen unverändert am Rand dieser Fläche. Ihre Blicke haben uns losgelassen und wandern prüfend über die Eisfläche. Ihre Pläne haben nichts mit uns zu tun.  In den Händen halten sie ihre Schlittschuhe.

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/03/30/ueber-die-oder/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Was fürn schöner Artikel, habt ihr auch in Zollbrücke was getrunken? Ich kenn sonst niemanden der diese Landschaft so liebevoll beschreibt..ausser Fontane oder so…Andreas

  • klimawandel,erderwärmung,das macht euer abenteuer wohl einzig artig?schlittschuhlaufen?da war doch was?ODER….

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert