vonImma Luise Harms 13.06.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Jan hat eine Geschichte erzählt, die mir jetzt einfällt. Seinen Ersatzdienst hat er auf einem ökologischen Bauernhof gemacht, der auch Gänse hält, und das in großer Zahl. Natürlich laufen die Gänse frei herum. Natürlich werden sie gut ernährt, und sind deshalb ordentliche Wuchtbrummen. Wenn das Gatter zum Futterhof geöffnet wird, stürzen sich die Gänse auf die gefüllten Tröge. Die müssen längs zur Laufrichtung der Tiere aufgestellt sein. Denn sonst prallen die nachdrängenden Gänse gegen die, die aus der ersten Reihe gestartet waren, und es kommt zu tödlichen Karambolagen.

Die Stecker in den Stromleisten erinnern an Köpfe hungriger Tiere im Futtertrog. Eine unübersehbare Serpentine von ineinander gesteckten Steckerleisten bildet eine Stromkaskade, an der Dutzende von Handy-Ladegeräten lutschen. Jeder Stecker sieht anders aus. In manchen ist das Netzteil integriert, die sind dann dick und unförmig und blockieren den Steckplatz nebenan gleich mit. Die Kabel sind nach vielen Einsteck-, Aussteck- und Suchvorgängen zu einer Art Matratze heillos verschlungen und enden an irgend einer Stelle im Innern des Gefilzes an einem saugenden Handy. Viele Finger zupfen an den Verbindungen, um das eigene Gerät wieder zu herauszuflechten und verfestigen dabei die Knoten.

Das Camp Reddelich der G8-GlobalisierungsgegnerInnen bestand für eine Woche: vier thematische Aktionstage und drei Blockadetage. Viele der vielleicht 5000 Menschen im Camp waren auch tatsächlich die Woche über dort. Ich war gekommen, um bei der Camporganisation mitzuhelfen. „Concierges“ nannten wir uns und fühlten uns für alle Auskünfte und Hilfen zuständig, die die Leute brauchten, um sich hier eine Woche zuhause zu fühlen und Kraft für ihre Aktionen zu haben. Wo kann ich mein Zelt aufschlagen? Wo gibt es Wasser; wo sind die Volxküchen?  Wann fahren Züge nach Rostock? Campbeitrag bezahlen, Nachrichten für Später kommende hinterlassen, Fundsachen abgeben, das Kulturprogramm erfragen. Bezugsgruppen finden, Blockadetraining mitmachen. Stromanschluss finden.  Strom.

Es gab so viele vorausschauende Einrichtungen im Camp: Duschen, Klos, Küchen, Bars natürlich. Aber auch: Pressezelt, Campschutz, Internetradio, Mediabus für Filmvorführungen, Aktions-Infozelt, SanitäterInnen und Erholungszonen mit psychischer Betreuung.  Indymedia hatte ein ganzes Zelt mit Rechnern aufgebaut, wo jeweils zehn Leute surfen oder ihre mails ziehen konnten. Aber keine Handy-Ladestation.

Man muss telefonieren, natürlich. Wie hat man das eigentlich früher gemacht? Jetzt jedenfalls haben von 5000 Menschen im Camp ganz sicher 4000 ein Handy, ihre unverzichtbare Verbindung zu den FreundInnen in der Blockade, auf der Demo oder im anderen Camp und zugleich der Nabel zu ihrer Alltagswelt, zu den Eltern und den FreundInnen zuhause, die auf einen beruhigenden Anruf oder eine SMS warten. Die Akkuladung hält vielleicht drei Tage, dann muss aufgetankt werden, je nach Handy-Typ zwischen einer und vier Stunden. Das sind im Durchschnitt jeweils 130 Handy, die immer einen Platz am Netz brauchen.

Wir waren in unserem Conciergezelt auf vieles vorbereitet. Es gab Papier in jeder Größe, vom A0-Plakat für Wandzeitungen bis zur Zettelkiste für Telefonnummern, Stifte, Kleberollen, kopierte Karten, Lagepläne, Zugfahrpläne, Broschüren für politische und organisatorische Fragen, Pinnwände, Zeitungsstapel, Wasser und Klopapier, es gab Zahlenschlösser für die action bikes. Wir hatten sogar eine ganze Batterie von Flaschen mit Sonnenschutzcreme für die, die während der Blockaden in der Sonne ausharren müssen. Aber wir hatten keine Handy-Ladestation. Zuerst nicht.

Unabweisbare Bedürfnisse finden immer einen Weg zu ihrer Befriedigung. Wir hatten für unsere eigene Versorgung eine Kaffeemaschine hinter der Theke, aber keine Verlängerungsschnur, um an den nächsten Stromanschluss zu gelangen. In Reddelich war es nicht so, dass sich um solche Bedürfnislücken niemand kümmerte, sondern meist gleich mehrere. Eine Verlängerungsschnur war zwar nicht aufzutreiben, wohl aber eine Handvoll Mehrfachstecker und Steckerleisten. Aus dem ersten Bündel bauten wir uns einen Anschluss für die Kaffeemaschine. Das zweite Bündel lag ungenutzt auf dem Tresen. Aber nur einen halben Tag. Danach steckten dort die ersten Ladekabel. Die Nachricht von der Stromzufuhr verbreitete sich schneller als ein Spitzelgerücht, und nach ein paar Stunden wucherten die verkabelten Handys über unsere Pläne und Infozettel. Ich dachte, das Problem kann durch Auslagerung begrenzt werden, und bat zwei Aktivisten, seitlich vor dem Tresen außerhalb unserer Sichtachse einen Kindertisch für die Handys aufzubauen.  Das Knäuel wurde herunter verlagert, ein Zettel angebracht: „Wir können nicht auf eure Handy aufpassen“ und der weitere Verlauf den Kräften der Selbstregulation überlassen.

In kurzer Zeit waren alle Steckplätze besetzt. Jetzt verbreitete sich die Nachricht: Es gibt zwar Stromanschluss, aber nicht genug Steckdosen! In der Folge brachten die Leute zusammen mit ihrem Handy gleich einen weiteren Mehrfachstecker mit. Es wurde umgestöpselt; und die Matratze wurde immer dichter. Der Tisch wurde zu klein, das Handy-Gewirr breitete sich auf dem Boden davor weiter aus. Ganz Schlaue klebten ihr Ladegerät an der Steckerleiste fest, um bei Bedarf direkt am Netz telefonieren zu können und ihr Gerät nicht aus den Augen lassen zu müssen. Ganz Unverfrorene stöpselten angeblich fertig geladene Handys gleicher Bauart aus, legten sie daneben und sich selbst an ihre Zapfstelle.  Ich weiß nicht, wie die HandybesitzerInnen zu ihren Geräten zurückgefunden haben. Der Tisch war jeweils von einer Traube suchender und zupfender Menschen umgeben. Ich beschränkte mich lange Zeit darauf, den Weg zum Tresen notdürftig freizuhalten und weitere Mehrfachstecker abzuwehren, wenn ich konnte. Bald tauchten auch die ersten Batterieladegeräte auf, Kästen, die sich breit und bräsig auf die Steckerleiste setzten und keine kleinen Steckerchen neben sich duldeten. Dann kamen Digitalkameras, Videorecorder und sogar ein Laptop. Ich staunte, wie vertrauensvoll die Camp­teilnehmerInnen waren.

Natürlich war irgendwann die Kapazitätsgrenze erreicht, und die Sicherung an einem der zentralen Stromkästen auf dem Gelände flog heraus. Danach war nicht nur bei uns sondern auch im Actioninfo-Zelt, im Radiobus und im Indymedia-Zelt der Strom aus. Bei der Suche nach der herausgeflogenen Sicherung wurde auch der direkte Stromzugang in den Stromkästen bekannt. Anschließend würmelten sich die ersten Handys in die Kästen hinein, um dort an der Quelle zu saugen. Ein umsichtiger Techniker sperrte die Kästen mit einem Vorhängeschloss; beim nächsten Netzzusammenbruch musste man lange nach ihm suchen.

Irgendwie schaffte ich es nicht, das wachsende Problem vor unseren Füßen komplett zu ignorieren. Nachdem wir die Verantwortung für den Laptop zurückgekämpft und einen Kameradiebstahl vereitelt hatten, nachdem ich sah, wie ein paar Mal ein Handy fast zertreten worden war, kriegte ich einen Wutanfall. Eine englisch-sprechende Frau, dem Akzent nach eine US-Amerikanerin, die, den Ladestöpsel in der Hand, mich ansprach, brüllte ich an, dass jetzt Schluss ist, Schluss, Schluss. Ich fing an, alle Mehrfachstecker auf dem Boden zu entstöpseln, die Ladekabel einzurollen, die zugehörigen Handys herauszufinden, das ganze zu kleinen Paketen zusammenzukleben und in eine Kiste zu werfen. Die kluge Frau neben mir erkannte schnell, dass ich nicht mehr aufzuhalten war und dass es jetzt der einfachste Weg zum Ziel war, mir zu helfen. Nach und nach entwirrte sie die Verbindungen zwischen Handys und Steckern und reichte mir die Geräte. „I like knitting, so I like to roll up“, sagte sie dazu. Währenddessen hatte sie für ihr eigenes Handy ganz nebenbei einen Ladeplatz auf dem Tisch gefunden, dem ich nicht mehr zu widersprechen wagte.

Die Nachdrängenden, die mit ihren Ladesteckern auf mich zielten, biss ich wütend zurück. Manche wurden richtig aufsässig, „Why?“, „Wieso denn nicht; da ist doch noch ’ne Dose frei!“, „I NEED to charge!“,  “I have to phone immediately”. Ich hatte taube Ohren. Die spinnen wohl! Wieso glauben sie, ein Recht zu haben, dass sie mit Strom versorgt werden!? Wir sind doch kein Hotel! Sollen sich von jemand anderem ein Gerät leihen, verdammte Scheiße.

Erst nachdem meine heiße Wut, in der sich alle Überforderung und Hilflosigkeit der vergangenen Tage entlud, etwas verraucht war, bemerkte ich, dass einige der Menschen mit den leeren Handys nass und verweint waren. Sie kamen aus den Blockaden. Die Blockade bei Hinterbollhagen war mit massivem Wasserwerfer- und Knüppeleinsatz zurückgetrieben, die Menschen von ihren Sachen und ihren Bezugsgruppen getrennt worden. Es war der allerungünstigste Zeitpunkt für meine Aufräum-Aktion gewesen. Ich schämte mich. Und das wurde gleich grundsätzlich: Warum ertrage ich es nicht, den Dingen ihren Lauf zu lassen? Zu spät erinnerte ich mich daran, dass Ordnung schaffen immer eine Selbstermächtigung ist, die leicht zur Gewalttätigkeit  denen gegenüber wird, deren Bedürfnisse man nicht richtig verstanden hat.

Getrieben vom schlechten Gewissen suchte ich mir zwei neue Hilfskräfte, suchte alle eingezogenen und woanders noch rumfliegenden Steckerleisten zusammen und bat die beiden Jungs, in einem Nachbarzelt eine zweite Ladestation aufzubauen. In dem Zelt lag sonst nur Infomaterial. Hier war Raum, Ruhe und Netzanschluss. Die beiden bauten einen Tisch zusammen und klebten die Kaskade von Steckern in übersichtlicher Parallelanordnung auf. Einladend blickten die Reihen frischer Stromquellen den hungrigen Handys entgegen. Über dem zerrupften Gewirr im Concieregezelt befestigte ich einen Hinweis: „Zweite Handy-Ladestation im Infozelt nebenan“.

Bis zum Schluss des Camps hat hier niemand sein Handy eingesteckt.


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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/06/13/geladene-handys/

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kommentare

  • eigentlich irre. irgendwie jammern alle über erhöhten stress und flächendeckende überwachung und gleichzeitig wollen alle immer und überall erreichbar sein. es gibt übrigens schon ein computerspiel zum überwachten handy – internetcomputer menschen..
    ich gehöre auch zu denen die damit die potentielle überwachung in kauf nimmt und gleichzeitig schröcklich findet…
    🙂

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