vonImma Luise Harms 21.11.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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tendenziöse Belehrungen

Ich fühle den Drang, meinen Sohn über die optische Manipulation aufzuklären. Leise, aber demonstrativ schimpfend gehe ich an den Bildschirmen mit ihren deformierten Darstellungen vorbei, mache mich über den ganzen High-Tech-Scheiß lustig, frage Jan, was er denkt, warum selbst den Videoexperten das egal ist. Jan ist störrisch, er findet diesen ganzen Ausflug tendenziös. Jetzt will ich ihn auch noch belehren. Das hätte er sich denken können. Vielleicht hat er die Bildverzerrung aber auch nicht bemerkt, nagt an seiner Unwissenheit und an meinen Bemerkungen und findet beides unangenehm. Als ich ihn das zweite Mal aufmerksam mache, bleibt er stehen, dreht sich zu mir und fragt: „Sollen wir mal an jeden Stand gehen und denen sagen, dass sie ihren Bildschirm falsch eingestellt haben?“ So lass ich mich nicht zurückschlagen. „Sind ja doch nur leere Versprechungen“, sage ich herausfordernd.

Jetzt ist er sauer und hat einen Grund dafür gefunden.“ Was soll der Scheiß? Willst du mir schon wieder zu verstehen geben, dass ich mich ja doch nicht traue, dass ich nur rede und ja doch nichts mache. Das hast du mir meine ganze Kindheit durch eingeredet!“ Oha. Auch Verletzungen, die zu strategischen Zwecken herausgekramt werden, sind Verletzungen. Zügel locker lassen, ruhig bleiben, Vorwurf annehmen. In eine säuerliche Dunstwolke gehüllt gehen wir nebeneinander her, bemühen uns angestrengt, nicht zu tief einzuatmen und steuern die Kommunikation langsam zurück in harmlose Gewässer. Nach einiger Zeit, nachdem schon eine dünne Haut den verärgerten Wortwechsel überzogen hat, schlägt Jan vor, aus den Hallen rauszugehen, eigentlich hätte er genug. Mir ist es recht. Sowieso. Zügel locker lassen. Scheiß auf die 25 Euro Eintritt. Wir kürzen über den Innenhof ab.

Es hat geregnet. Zwischen den Containern, die Logistik und Nachschub für die Aussteller bereithalten, zwischen den Kabeln und Wegweisern, den Billigständen, die sich einen Platz in den Hallen nicht leisten konnten, schimmert der Asphalt feucht. In den Pfützen liegen Scherben von blauem Himmel. Ich sammle mich. Ich stehe innerlich fest, die Füße schulterbreit geöffnet, Druck auf Außenkanten der Fußsohlen, Knie leicht gebeugt, Handflächen nach hinten. „Ich möchte dir gerne noch etwas zu dem Thema sagen, über das wir vorhin geredet haben, wenn du einverstanden bist.“ Jan ist einverstanden. Wir lehnen uns an eine Betonmauer und sehen den Leuten nach, die auf der Suche nach Essensständen vorbeiziehen, wo die Wurst vielleicht doch ein bisschen billiger ist. Ein paar Sonnenstrahlen fallen uns ins Gesicht.

Augenblicke

Ich bitte Jan um Geduld und hole weit aus. Ich spreche von meiner Angst, dass die Realität immer weiter durch die Fiktion ersetzt wird. Dass wir nicht mehr unterscheiden können zwischen dem, was wir erlebt haben und was wir im Fernsehen gesehen haben. Dass sich zwischen unsere Wahrnehmungen und die Welt, in der wir leben, nicht nur die Medien schieben sondern auch die, die diese Medien als Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen benutzen. Dass wir unsere Fähigkeit verlieren, unseren eigenen Sinnen zu trauen, zu verstehen, zu urteilen und selbstbestimmt zu handeln. Dass wir der Herrschaft der Fiktion unterworfen werden, indem wir gegenüber den Ungenauigkeiten und Abweichungen desensibilisiert werden. Dass diese Umerziehung unserer Wahrnehmung im Schatten der scheinbaren Verbesserungen geschieht. Hier also die vor Detailgenauigkeit triefende 100 Hertz-Bildschirmaufbereitung, die scheinbar makellosen Schwenks, dort die Gleichgültigkeit gegenüber den Bildproportionen, die Ersetzung flüssiger Bilder durch die rechnerische Verflüssigung von kargem Bildmaterial. So sehe ich die Unempfänglichkeit für Bildverzerrungen als Ausdruck für die Manipulierbarkeit unserer Wahrnehmung. Das macht mich immer mehr verzweifelt. Wem sollen wir trauen, wenn nicht unseren eigenen Augen?

Jan hat aufmerksam zugehört. Er wiederholt einzelne Gedanken und fragt, ob er sie richtig verstanden hat. Es fallen ihm andere Beispiele ein. Im US-Fernsehen, erzählt er, werden häufig Werbebanner, Börsenkurse oder ähnliches am unteren Bildschirmrand eingeblendet. Das Bild wird dabei nicht mehr überdeckt sondern zusammengestaucht, es macht dem Infoband einfach Platz. Der Bildinhalt beugt sich dem Bildausschnitt.

Wir haben inzwischen unseren Weg zum Ausgang fortgesetzt, quer über den Hof, durch die illuminierten Hallen, vorbei an den quäkenden Shows, an den aufgeregten Bildern. In der Eingangshalle stehen die Besucher vor den Kassenhäusern Schlange. Die Menschen streben zur Technik. Wir streben hinaus. Auf dem S-Bahnhof herrscht eine angenehme Leere und graue Unbestimmtheit. Der Himmel hat sich wieder bedeckt. Ein paar Tropfen fallen. Es ist kalt. Der nächste Zug kommt in 6 Minuten. Hinter der Fahrplantafel lehnt eine zurück gelassene Riesentüte, die das 1:1 Versprechen auf einen Premium-Fernsehgenuss mit Bildschirmdiagonale 108 cm enthält. Wird wohl doch nicht gebraucht.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/11/21/der-anamorphot-2/

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kommentare

  • es ist doch so,daß die Aufmerksamkeit sich die Inhalte sucht, welche zu den verfügbaren Botenstoffen passend sind. Möchte ich meine Elternschaft auf mein Kind ausbreiten und versucht mein Kind sich daraus herausentwickelt zu gebärden ( es hat ja schliesslich eigene Botenstoffe und Realisierbarkeiten vor der Optik) mit welchen Zielinhalten gesellschaftlicher Wirksamkeit und wie macht man das den Eltern klar: abgenabelt ist abgenabelt, egal wie groß irgendwelche Diagonalen sind. Aber spannend ist das Leben der Anderen immer, weil das Hoffnung macht, daß das Eigene ein Anderes ist.

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