vonImma Luise Harms 21.11.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Das Glockenbimmeln klingt nach Schafen, aber dann hören wir es meckern. Es sind wohl eher Ziegen, die auf der Wiese hinter dem Schuppen das Gras abrupfen. Der langbeinige Riesenschnauzer, der an seiner Hundehütte festgebunden ist, bellt das pflichtgemäße Hau-hau-hau eines Wachhundes im Dienst. In der Mitte des Hofes steht ein Walnussbaum. Ich zertrete im Vorübergehen eine Nuss und teste, ob die dünne Haut um den Nusskern noch bitter ist. Thomas hat eine Leiter geholt, trägt sie um den Walnussbaum herum und lehnt sie an die von wildem Wein überwucherte Scheune. Das Ende versinkt im dunkelroten Weinlaub. Hier irgendwo soll die Tür zum Dachboden sein.

L. und M. sind nicht da, sie haben uns aber gesagt, wo wir die Filme finden. L. war Seemann, M. Klavierlehrerin. Jetzt sind sie Landleute, haben einen Ziegenhof, auch Schweine, ein bisschen Acker, Pferd und Wagen, ein Café, eine Ferienwohnung zum Vermieten und einiges an Ställen, Schuppen und Scheunen auf ihrem kleinen Bauernhof in Ihlow.

Stadtbewohner wollen auf dem Land a) die schöne Natur erleben b) leckere Früchte der schönen Natur ernten oder c) etwas lagern. Denn auf dem Land gibt es Platz, und in der Stadt ist der ja teuer. A., ein befreundeter Künstler, schafft gerade seine ausladende Dokumentakunst in zwei 20-Fuß-Containern auf einen entlegenen Bauernhof im Oderbruch bis – ja, wer weiß, wann das je wieder zusammengebaut wird.

L. und M. haben einer ganzen Waggonladung Kulturgut großmütig Unterschlupf gewährt. Das ist schon viele Jahre her, und nun will M. ihren Dachboden wieder für sich haben. Sie haben selbst genug, was aus dem Weg, aber nicht weg soll. Das Zeug von Frau K. soll jetzt mal raus.

Kultursendg.

Die Weinranken überziehen die alte Holztür wie ein zähes Spinnennetz, das auch uns einzufangen droht, als uns endlich gelungen ist, die Luke zu öffnen. Wir wühlen uns ein Loch durch die Zweige, legen ein Stromkabel in den Dachboden und schalten einen Strahler an. Dornröschen schlummert in lindgrüner Verpackung. Eine unübersehbare Zahl von Hutkarton-großen sechseckigen Plastikkästen ist zu Säulen aufgestapelt, die bis an die Dachsparren reichen. Sie sind verstaubt, die Aufkleber verblichen, schwer zu entziffern. Um die Säulen stehen Holzkoffer in allen Größen. Eine trägt über die ganze Deckelbreite die gemalte Aufschrift „Rücksendg. Kulturgut, Ministerium f. Kultur.“ Atemlos vor Erwartung kann ich mich dennoch der Überlegung nicht entziehen, warum denn hier „Rücksendung“ unbedingt abgekürzt werden musste. Das u und das n einsparen, und dafür aber der Punkt! Was soll das? Bei dem „für“ genauso! Bürokratische Krümelkacker.

Thomas mustert die grünen Türme. Filmkisten. Wir zählen 150 Stück, jeweils drei Akte, jeweils ein halber Film. Also 75 Kinofilme! Was für ein Schatz! An einigen hängt ein Zielbestimmungs-Schildchen von Interflug nach Schönefeld und nochmals der beschwörende oder auch beschwichtigende Hinweis „Kulturgut“. Wir lesen die Filmtitel: „Hanussen“ (Ungarn, 1988), „Der Sizilianer“ (USA, 1987), „Grüne Hochzeit“ ( DDR, 1989), „Verfluchtes Amsterdam“ (NL, 1988), „Am großen Fluß“ (CSSR, 1977), „Asterix“ ( Fr, 1967), „Durch Dick und Dünn“ (CSSR, 1988), „Asterix bei den Briten (FR, 1986), „Das Schweigen der Herren“ (Schweden, 1987), „Gefährliche Freundin“ ( USA ,1987), „Schlafzimmerfenster“ (USA, 1986), „Die Aufsässigen“ (USA, 1984), „Fürchten und Lieben“ ( BRD, 1988) …

„Das ist doch deine Schrift!“ sagt Thomas. Kann nicht sein! „Doch. Und das hier hab ich geschrieben“. Langsam kommt die Erinnerung. Wir haben diese Filmkisten, oder jedenfalls einen Teil von ihnen, schon mal gesehen. Nicht nur gesehen, wir haben sie umgeschichtet und sogar angefangen, sie zu katalogisieren. Sie standen in der alten Brennerei neben unserem Gutshof in Reichenow. Das war vor neun Jahren, also noch im letzten Jahrtausend.

Halbe Filme

Und das ist die Geschichte der Kultursendg., soweit wir sie inzwischen rekonstruiert haben: In den 80er Jahren hatte die DDR-Regierung Vertragsarbeiter zum Bau der großen Gaspipeline nach Russland geschickt, gut ausgebildet und ausgestattet. Für die langen sibirischen Abende wurden sie mit einem kompletten Kino und einer großzügigen Auswahl von Filmen versorgt, die es ihnen gestattete, sich in eine Welt voller Licht, Wärme, Action und Frauen zurückzuversetzen. Nachdem die Bauarbeiten an der Trasse beendet waren, wurden Arbeiter und Ausstattung zurückgesandt, mitten in die Wende-Wirren. Wie vieles an Geld und Gütern in dieser Zeit erreichte auch die Kultursendg. nicht ihren Bestimmungsort beim Ministerium f. Kultur.

Frau K. arbeitete als Cutterin bei der DEFA. Sie hatte sich irgendwann nach 1990 eine alte, leerstehende Brennerei in Reichenow angesehen, die von der Treuhand verkauft werden sollte. Frau K. sehnte sich nach einer neuen Existenz in freundlicher Umgebung. Ein Landkino kann der Beginn einer neuen Existenz sein. So lagerte sie das Kulturgut, das ihre Wege gekreuzt hatte, in den Natursteinmauern der Brennerei ein, noch bevor sie den Zuschlag für das Gebäude erhielt. Daraus wurde auch nichts. Frau K. begnügte sich mit einer Wohnung in einem Haus ihrer Mutter, das am Weg zwischen Reichenow und Ihlow steht, wo sich sicher kein Kino machen lassen würde. Ihr Umzug aufs Land verzögerte sich und wurde später ganz aufgegeben. Frau K. wohnt also weiter in Berlin; das Landhäuschen wird von Mutter und Schwester bewohnt, die mit Film nichts im Sinn haben. Die Brennerei gehört inzwischen J. und seiner kleinen Zimmereifirma. Seine Ausbaupläne wurden Jahr um Jahr in die Zukunft geschoben. Die grünen Kisten unterm Dach störten nicht.

Kurz nachdem Frau K. als zukünftige Eigentümerin der Brennerei ausgeschieden war, hatte sie den ganzen Kinobestand strategisch getrennt. Alle Holzkisten mit den Kinoapparaturen und jeweils eine Filmhälfte wurden nach Ihlow auf den Dachboden von L. und M. verlegt. Zehn Jahre später, als Thomas’ Pläne sich zu Vorstellungen von einer Existenz als Landkino-Betreiber verdichteten, fragte er bei Frau K. an, wo denn eigentlich die zweiten Hälften der Filme seien. Darauf hin holte diese in panischer Angst um die Realisierbarkeit ihrer eigenen Zukunftspläne auch den zweiten Teil der Filmkoffer nach Ihlow.

Ob das sibirische Kino jemals gebaut, die Filme jemals gezeigt wurden, wissen wir nicht. Es sieht nicht so aus, denn die Streifen waren makellose 35-mm Kopien. Wir haben uns damals die Spulen aus zwei der Kisten angesehen, die allerdings keine durchgehende Geschichte erzählten. Aus strategischen Gründen, wie wir heute wissen, gab es nur halbe Filme. Also haben wir mit dem alten Projektor aus Thomas’ Wanderkino-Zeit die ersten drei Akte von „Mondsüchtig“ und die letzten von „Der Sizilianer“ angesehen. Wir waren erstaunt, wie wenig wir die Erzählstränge aus der anderen Filmhälfte vermissten. Man nimmt die offenen Fragen hin und ergänzt die Handlung mit den passe-partouts aus der gesammelten Filmerfahrung. Die Akte von „Der Sizilianer“ waren außerdem noch verzerrt, seitlich zusammengedrückt, als wenn man im Kino einen sehr ungünstigen Platz in der ersten Reihe außen erwischt hätte. Thomas wusste, was das Problem war. Die Cinemascope-Filme mit ihrem extrem breiten Bildausschnitt werden mit einer elliptischen Vorsatzlinse gedreht, so dass das ausladende Panoramabild auf das 35-mm-Filmmaterial zusammengepresst werden kann. Zur Vorführung braucht man die gleiche Linse, die jetzt um 90 Grad gedreht wird, damit die Proportionen wieder stimmen. Dieses Vorsatzgerät heißt Anamorphot. Ein schöner Name, ein teures Gerät. Thomas hat es nicht, hätte es aber gerne.

Analogtechnik vom Feinsten

Auf der Suche nach dem Anamorphoten durchstöbern wir jetzt die Holzkisten auf dem Dachboden von L. und M. Morgen soll ein von Frau K. beauftragter Entsorger aus Berlin kommen, der wer weiß was mit dem kostbaren Material macht, sicher kein Kino. Da können wir doch vorher noch mal durchsehen, was wir brauchen, findet M. Denn immerhin haben wir in der Zwischenzeit einen Film- und Videoclub aufgebaut und ein mobiles Sommerkino realisiert. M. ist von unserer bescheidenen Praxis überzeugter als von Frau K.’s undurchsichtigen Besitztiteln und vagen Optionen.

Wir öffnen die unterschiedlich großen Holzkisten mit den metallenen Griffen und Schnappverschlüssen und der genau gearbeiteten hölzernen Innenausstattung, in der die Geräteteile ruhen – Projektoren, Objektive, Umroll- und Klebevorrichtungen. „Analogtechnik vom Feinsten“ sagt Thomas wehmütig, nimmt eine Klebepresse aus ihrem Holzfutteral, dreht sie in den Händen, so dass die makellose Metalloberfläche im Licht unseres Scheinwerfers aufglänzt – und legt sie zurück in ihr Bett. „Das brauche ich doch nicht mehr“. Es kommt immer seltener vor, dass wir richtiges Kino mit dem großen 35mm-Projektor machen. Inzwischen beamen wir lieber. Die DVDs sind zwar nicht ganz so gut wie eine Filmprojektion, aber dafür ist es viel billiger und technisch viel einfacher.

Eine Leinwand finden wir nicht zwischen den Kisten auf M.’s Dachboden. Natürlich nicht. Die hat sich längst jemand unter den Nagel gerissen. Denn, egal ob man beamt oder Filmmaterial durchlaufen lässt – ohne Leinwand geht es nicht. Auf Wände oder Betttücher projiziert vielleicht ein Amateur, aber ein Kinobetreiber nur in äußersten Notfällen. Die Leinwand muss glatt und makellos sein und sich dem Blick entziehen, denn sie ist eigentlich das, was fehlt: die Öffnung zu einer anderen Welt.

Das Bild hinterm Bild

Die Leinwand öffnet und verdeckt zugleich. Immer gibt es ein Bild hinter dem Bild. Genau genommen sogar zwei Bilder. Bild 1 ist der reale Hintergrund, die Wand, die Tapete, die versteckte Tresortür hinter dem Rahmen. Bild 2 ist der imaginäre Anblick, der vom Raum außerhalb des Rahmens verdeckt zu sein scheint – das ganze Meeresgestade, von dem wir nur ein paar Gischtkronen gesehen haben, der ganze Saal, dessen Blumen-geschmückter Tisch im Rahmen zu sehen ist.

Das nicht Abgebildete ergänzt sich bei jedem Betrachter auf andere Weise. Das virtuelle Bild, das sich hinterm Rahmen fortsetzen ließ, ist vage, vielfältig und vor allem unbegrenzt; man könnte den Kopf so weit drehen, wie man wollte, es nähme doch kein Ende. Man könnte darin herumgehen, und immer öffnet es sich neu. Der Rahmen hält die fließende Fülle des virtuellen Bildes zusammen wie eine Haarspange.

Im Film wandert der Rahmen; er folgt dem Blick durch die vorgestellte Landschaft, er schreitet mit dem Betrachter voran, er schaut vor und zurück, ja, er nimmt die Blickrichtung unterschiedlicher Betrachter ein. So setzt sich das virtuelle Bild des Geschehens aus Flicken von Bildansichten auf einer räumlichen und zeitlichen Kontinuität zusammen, die gerade durch die Auslassungen Gestalt annimmt.

Kasch

Der Rahmen, also die Bildbegrenzung, wird beim Film Kasch, genannt, die Abkürzung von Kaschierung. Im Kino ist das ein stumpf-schwarzer Rahmen um den Bildausschnitt, der nichts vom Bild verschlucken, aber auch keinen verräterischen weißen Rand zwischen Bild und Rahmen lassen soll. Cacher, das Ursprungswort im Französischen, heißt “verstecken” und verweist darauf, dass die Aufgabe des Bildes nicht so sehr darin besteht, das Abgebildete zu zeigen, sondern das nicht Abgebildete zu verbergen und durch die Abbildung darauf hinzuweisen. Das Schwarz des Kasch soll die Grenze zwischen Fiktion und Realität vergessen machen. Die Fantasie des Kinopublikums wird so der Herrschaft des Lichtbildes unterworfen.

Beim heimischen Fernsehgerät ist die Anordnung umgekehrt. Ein nettes Ambiente für den Fernseher, ein Lämpchen in seiner Nähe relativieren die Macht des Bildes. Das Fernsehbild ist in Bild 1 eingebaut, man kann leicht weggucken, man kann leicht umschalten, man kann das Gerät auch leicht laufen lassen, während man andere Dinge tut oder miteinander redet. Der Blick auf das Fernsehbild gleicht dem flüchtigen Blick durchs Klofenster; man nimmt das Gesehene wahr, aber beschäftigt sich nicht damit. Das Fernsehbild regiert die Fantasie beiläufig. Aber die Werbeindustrie weiß, dass sie sich gerade dadurch besonders effektiv manipulieren lässt.

Kann man Kino überhaupt im Fernsehen gucken? Der Film- und Videoclub Reichenow ist in der Schrankwand des ehemaligen Bürgermeisterzimmers in der Gemeindebaracke untergebracht. Sie ist mit sechs glänzend lackierten hölzernen Doppeltüren verschlossen. Dahinter öffnet sich Raum, der früher Akten und einen Safe enthielt, jetzt jede Menge Videobänder. Außerdem verbergen sich hinter der mittleren Tür ein großer Fernseher und mehrere Abspielgeräte. Die Innenseiten der Türen und die Fächer selbst habe ich mit schwarzem Molltontuch ausgeschlagen, den Blick auf die Geräte verhängt, damit ein Kinogefühl beim Betrachten der Filme auf der Mattscheibe entsteht. Die Fantasie fügt sich nur widerstrebend. Die Ausschnittgröße der Kinofilme, ihr breit gezogenes Bildformat, passt nur selten in die fast quadratische Mattscheibe der alten Fernsehgeräte; oben und unten bleibt ein grauer Bildfehlbereich, in den noch dazu oft ein Logo eingeblendet ist. Ich habe weitere Versuche gemacht, auch Teile des Bildschirms abzukleben. Das ist nicht schön. Fernsehen ist nicht Kino.

Landschaftskino – Bild im Bild

Das Reichenower Sommerkino ist Thomas’ Werk. Er war lange Zeit Wanderkino-Betreiber mit seinem in einen Möbelwagen eingebauten Kino Mirona. Das Kino gibt es nicht mehr, aber die Vorführgeräte. Mit einem Teil seiner Identität ist Thomas immer noch ein Kinobetreiber auf der Suche nach seinem Abspielort, und ich bin seine Assistentin – ein schlechter Ersatz für seinen Bruder, mit dem er das Mirona zusammen gemacht hat.

Schon weil es unmöglich für uns gewesen wäre, eine perfekte Kino-Illusion zu erzeugen, haben wir uns immer bemüht, in ein beziehungsreiches Ambiente zu projizieren. Das erste Reichenower Sommerkino haben wir in der Baulücke zwischen den beiden Flügeln des Gutshofes aufgebaut, dort, wo früher die inzwischen abgerissene Milchküche war; die orange-blauen Fliesen an den Wänden zeugen noch davon. Aus einem abmontierten Blitzableiter aus Aluminium haben wir den Schriftzug „Kino 1“ gebogen; ich habe aus rotem Stoff einen großen Vorhang genäht und eine Lichterkette montiert. Die Leinwand, damals noch eine aus zwei Betttüchern zusammengenähte Stofffläche, war auf die großen Holztore gespannt, die die Baulücke von der Gebäude-Rückseite trennte. Wir haben unseren Lieblingsfilm „Leuchte, mein Stern, leuchte“ gezeigt, und einen Tag später unseren eigenen Film „Was man so sein eigen nennt“. Das Publikum ging nach der Vorstellung wortlos auseinander.

Erst fünf Jahre später machten wir den zweiten Versuch. Auf einer Betonfläche vor der Brennerei wurden Stühle und Bänke aufgestellt. Der große rote Vorhang, an einem riesigen Holzgestell aufgehängt, bildete den Eingang zu einem virtuellen Kinosaal. Lichterketten zogen sich durch die umstehenden Bäume. Und die Stoff-Leinwand war auf der mit allerlei Ziegelarten vielfach ausgebesserten Naturstein-Wand der Brennerei befestigt. Es war die Wand, hinter der damals noch die halben Filme des Vertragsarbeiterkinos aufgestapelt lagen, die nun plötzlich wieder unseren Weg kreuzen. Wir zeigten den Sommer über „Böse Zellen“, „Short Cuts“, „die Ritterinnen“ und noch ein paar andere Filme. Das Publikum, Gutshofbewohner, Nachbarn und Angereiste, wurde nach Filmschluss mit Diskussionen und Getränken von einer kleinen Bar zusammengehalten.

Bild im Wasser

Den Durchbruch erlebte das Reichenower Sommerkino vor zwei Jahren mit der ersten langen Piratenfilmnacht am Reichenower Schlosssee. Der Anglerverein hatte für uns ein Baugerüst in den See gebaut und eine LKW-Plane daran befestigt. Auf die stromfressende und fehleranfällige Filmprojektionstechnik mussten wir verzichten, auch, weil wir die Filme nur als Video hatten. Stattdessen setzten wir unseren Beamer ein, der das Bild aus einer eigens für ihn gebauten kleinen Schatzkiste vom Strand aus auf die Leinwand im Wasser warf.

Das Bild muss eingerichtet werden, d.h. der Beamer muss in seiner Kiste so justiert werden, dass sein Strahl genau die Leinwand trifft, sie vollständig bedeckt und möglichst wenig über den Rand ins Nichts verschwindet. Das geht erst, wenn die Geräte vor Ort sind und es dunkel genug ist, dass die Projektion sichtbar ist. Die ersten Gäste lümmelten zu dem Zeitpunkt schon am Strand. Denen wollte ich nicht die Spannung verderben und schon Stücke des Originalfilms zum Einrichten anlaufen lassen. Am besten wäre es gewesen, die Leinwand wäre gar nicht da, bis der Film beginnt. Damit das so aussieht, hatte ich ein paar Tage vor unserer Strandparty einen Vor-Film gedreht. Er zeigte nichts anderes als den Blick aufs Wasser und retuschierte so gewissermaßen die Leinwand, auf die er projiziert wird, wieder weg.

Nachdem ich also die Beamerkiste in die richtige Position gebracht hatte, sahen die frühzeitig erschienenen Piratenfilmgäste auf der Leinwand das, was sie sehen würden, wenn das Gestänge ihnen nicht im Weg wäre. Groß war das Vergnügen, als ein Boot mit einem Angler den See überquerte -im Ausschnitt auf der Leinwand- und gleichzeitig mit einer Flasche Bier am Strand stand.

Der Cache kann nur optimal eingestellt werden – kein Weiß, kein Bildverlust – wenn die Leinwand das gleiche Format wie der Film hat. Und da wurde es schon problematisch. Der eine Film, den wir zeigen wollten, ein Klassiker mit Burt Lancaster, ist im alten 3:4 Format gedreht, der prima auf eine Mattscheibe passen würde, weil sie nämlich für solche Filme gemacht ist. Der andere Film, ein aktueller Blockbuster mit Johnny Depp, hat Cinemascope-Format, das ist eine Fläche von etwas mehr als zwei nebeneinander stehenden Quadraten. Unsere LKW-Plane war drei Meter hoch, aber leider nur 4 Meter breit, gut für den Klassiker, aber schlecht für den Cinemascope-Film, der seitliche Ausdehnung braucht, um sich entfalten zu können. Ich hatte deshalb kurz vor dem Ereignis, gegen den murrenden Widerstand von Thomas, der solche Vorbereitungsexzesse nicht liebt, noch zwei Leinwand-Ausleger gebaut, weiß bezogene Sperrholzplatten, die dem Gestänge als Ohren zu beiden Seiten angehängt wurden.

Der Aufbau war erfolgreich. Die Piraten des Cinemascope-Films stürmten von rechts nach links übers Meer und von links nach rechts zurück, dass es eine Pracht war; die kleine Lücke zwischen Leinwand und Ausleger nahmen sie mit Leichtigkeit. Das Bild des klassischen Films setzte auf der Wasserfläche des Sees auf, so dass sich die aufmarschierenden Truppen des Admirals unversehens mit einer nicht weniger prächtig ausgestatteten, aus dem Wasser hervorquellenden zweiten Armee konfrontiert sahen.

Die Kollekte des Abends haben wir dann für den Kauf einer neuen breiteren Leinwand erbeten. Die haben wir nun, sie ist 6 Meter breit und 3,50 Meter hoch. Nicht ganz Cinemascope, aber immerhin Breitwand-Format.

Augendruck

Thomas hat den Anamorphoten zwischen all den Holzkisten und Filmbehältern auf M.’s Dachboden tatsächlich gefunden. Er ist eine vollendet geformte, schwere, in exakt gearbeitetes Metall gefasste Glaslinse, die man sich gut als Briefbeschwerer vorstellen kann. In dem kleinen Holzkasten, der sie perfekt umschließt, liegt ein in kyrillischen Buchstaben geschriebener Packzettel. Der Kasten ist hübsch. Der Anamorphot auch. Aber wird man ihn wirklich brauchen? Wird man jemals noch den alten Filmprojektor dazu benutzen, ausladende Landschaften auf die Leinwand zu werfen? Wird in ein paar Jahren nicht das Auge selbst die Funktion des Anamorphoten übernommen haben?

Im Sommer veranstaltete Bad Freienwalde eine Open Air Kunstveranstaltung in der verlassenen Freilichtbühne. Die Bühne wollten wir schon immer mal ansehen, ob sie als Kino für uns in Frage kommt. Wir fahren also hin, kaufen an dem ehemaligen Kassenhäuschen ein Heißgetränk und stellen uns zu den Gästen. Eine Videoperformance ist angekündigt. Man sieht gleich, dass hier Sponsoren am Werk waren. So üppig sind selbst finanzierte Kunstveranstaltungen nicht ausgestattet: kleine Zelte über Zuschauerbänken, mit Sitzkissen, Couchtischchen und Knabberzeug behaglich gemacht, weiß eingedeckte Bistrotische für die, die das Vernissage-Gefühl bevorzugen. Und ein großer Videoflachbildschim unter einem eigenen Zeltdach.

Die Verantwortlichen laufen aufgeregt hin und her, der Tontechniker schimpft, die Künstlerin schaut ratlos. Dann steht die Tonstrecke und wir sehen einen Experimentalfilm. Er besteht aus lauter Einzelaufnahmen der Künstlerin; an jedem Tag im Jahr hat sie sich selbst fotografiert und lässt nun die Phasen ihres Seins ineinander gleiten. Aber irgendwie sieht sie seltsam aus und sich selbst gar nicht ähnlich. Das können wir beurteilen, weil sie ja leibhaftig daneben steht. Im Film ist ihr Kopf eingedrückt, das Kinn ist breit, die Stirn niedrig. Die Augen streben auseinander, die Wangen quellen seitlich hervor. Da stimmt was nicht. Falsches Format! Der tolle breite Bildschirm ist nicht auf das Aufnahmeformat ihrer Kamera eingestellt. Die 3:4 Bilder werden auf 16:9 auseinander gezogen – oder zusammengestaucht, wie man’s nimmt. Das Publikum findet das Bild in Ordnung, denn es bedeckt den dafür vorgesehenen Bildschirm.

Was sagen oder nix sagen? – Was sagen! Wir fragen die Künstlerin höflich, ob das so unproportional gedacht ist. Sie weiß nicht, was wir meinen, betrachtet das Bild. Falsches Format? Sie berät sich mit der Organisatorin. Der Film wird angehalten. Der Techniker drückt an den Knöpfen herum. Der Film wird wieder gestartet. Nun gibt es links und rechts einen schwarzen Balken. Die Künstlerin dreht sich zu uns um und fragt, ob es jetzt richtig ist. Entgeistert verlassen wir die Veranstaltung.

Ein Quadrat ist ein Rechteck – aber ein Rechteck ist kein Quadrat

Wie kann es sein, dass der Künstlerin egal ist, ob die Flächen stimmen, also in welchem Verhältnis Breite und Höhe zueinander stehen? Dass sie sich selbst nicht mal ein Urteil darüber zutraut? An die Verzerrung kann man sich gewöhnen? Nein, kann man nicht. Oder sollte man nicht. Horizontale und Vertikale sind nicht irgendwelche Koordinaten einer beliebigen Fläche. Die Vertikalen sind die Säulen unserer Wahrnehmungswelt, sie tragen und stützen. Die Horizontalen sind ihre Ausdehnung, sie fließen und verlaufen. Auch ein Gewölbe stemmt sein Gewicht gegen die Schwerkraft nur in einem genau bestimmten Verhältnis von Höhe und Breite des aufgespannten Bogens. Da kann man nicht einfach fragen: darf’s ein bisschen breiter sein?

Der Kunstmaler Leonardo da Vinci hat gerne über seinen Skizzen gesessen und den Zusammenhängen zwischen Wirklichkeit und Abbildung nachgespürt. Er hat herausgefunden, dass die Anatomie eines normal gebauten Menschen dazu geeignet ist, mit ausgebreiteten Armen und Beinen einen Kreis um seinen eigenen Nabel zu beschreiben. Einen Kreis und keine Ellipse. Zwischen seinen waagerecht erhobenen Armen und seiner Länge von Kopf bis Fuß spannt sich ein Quadrat auf, dessen Diagonalen sich genau über dem Geschlecht schneiden. Der goldene Schnitt. Und zwar über einem Quadrat und nicht über einem beliebigen Rechteck.

Das Verhältnis zwischen Übereinander und Nebeneinander ist real vorhanden, es ist messbar, es ist sichtbar. Wer mir ein Rechteck als Quadrat verkaufen will, erzählt mir wahrscheinlich auch was von flachen Hierarchien, die im schön breit gezogenen Team so gut wir gar nicht mehr spürbar sind, sag ich im polemischen Überschwang.

Einmal sensibilisiert für die heimliche Auflösung der Kongruenz entdeckt man plötzlich überall Vorstöße. Der Bildausschnitt hat die Herrschaft über die Form ergriffen. Hauptsache, der Bildschirm ist voll. Das Bildmaterial der Korrespondenten passt nicht in die Nachrichtensendung; dann wird es eben lang und breit gezogen. Die marschierenden Soldaten sind dann entweder dünn und ausgemergelt oder klein, kompakt und gut ernährt. Das merkt doch keiner?! Der Siegerkranz für den Radrennfahrer hängt bedenklich nach unten durch; die Autos in der Meldung über den Urlaubsstau sind lauter Stretch-Limousinen.

Fiktion und Verzerrung

Vor ein paar Wochen besuchte ich mit Jan die Funkausstellung. Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum ich das vorgeschlagen habe. Vielleicht die Idee eines Ausflugs im beiderseitigen Einvernehmen. Vor vielleicht 15 Jahren habe ich hier das erste Mal das hoch aufgelöste Fernsehbild HDTV gesehen und war ergriffen und beunruhigt von diesem perfekten Blick in die Welt. Man muss sich angucken, was auf einen zukommt, und vielleicht kommt man darüber ins Gespräch.

Die Hallen sind dunkel und doch zugleich hell strahlend wie die Nacht in einer Großstadt. Überall Reklame, überall Menschen auf der Suche. Überall Zeichensysteme, die alle das gleiche sagen: Hier, hier, hier! Türsteher mit exaktem Haarschnitt, und Animierdamen mit ausgesuchten Beinen. Profis, die sich dadurch auszeichnen, dass sie Kaufkraft von Neugier unterscheiden können.

Wir sind neugierig, Jan nicht einmal besonders. Ich versuche, sein Interesse für die neue 100 Hz-Bildschirmmaske zu wecken. Da ist alles noch deutlicher, die Farben noch exakter, noch lebensnaher, direkt zum Reinbeißen. Ein Zug fährt auf dem Riesenbildschirm an uns vorbei – aus der mulschigen Bildzone, mit der man sich aus Unwissenheit bisher begnügt hat, über eine Demarkationslinie in den Bildbereich, der leuchtet und Tiefe hat, wenn man nicht allzu nahe herangeht.

Die LCD- und Plasmabildschirme und andere Projektionsgeräte sind natürlich die Verkaufsrenner. Viele Besucher – es sind wohl eher die Neugierigen als die Kaufkräftigen – sind mit einer Tüte im Bildschirmformat beschenkt worden. Sie könnte von der Größe her eine Schreibtischplatte enthalten. Das sind die Bildschirme, die sie gerne hätten, die ihnen die Hersteller auch gern verkaufen würden. Die andere Seite des Transfers, der Geldfluss, ist das Problem. Über Finanzierungen kann man natürlich reden. Aber Finanzierung heißt Verschuldung. Die große Tüte wird als Versprechen mitgenommen.

Alle Hallen, die wir durchwandern, sind mit Flachbildschirmen geradezu tapeziert. Sind es Fenster oder Spiegel? Eine Live-Show wird auf eine ganze Saalwand hochvergrößert. Alle schauen auf den Bildschirm und nicht auf die kleinen Gestalten auf der Bühne. Firmen feiern ihre Produkte in orgiastischen Animationen. Oft läuft einfach irgendwas, ein Film, eine gerade verfügbare TV-Sendung. Und immer wieder sehe ich eingedrückte Bilder, in der Waagerechten wie in einen unsichtbaren Schraubstock gezwängt, in der Senkrechten von der Last eines unsichtbaren Gewichtes niedergedrückt. Die Zuständigen finden es nicht wichtig genug, im Menü der Geräte umzuschalten.

(Fortsetzung: nächstes blog)

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/11/21/der-anamorphot/

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