vonImma Luise Harms 15.12.2007

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Das Fahrrad ist grau-rot gestrichen. Schicke Farbkombination. Aber doch eine ziemliche Micke. Das Vorderrad hat eine Acht; die Schaltung klemmt; eine Klingel gibt’s nicht, und am Halter unterm Lenker, wo die Fahrradleuchte sein sollte, hängt nur ein winziger Schlüssel. Er gehört zu dem kleinen Vorhängeschloss, mit dem ein weißer Drahtkorb am Gepäckträger festgeschlossen ist.

In der Gräfestraße springt die Gangschaltung raus und ich trete plötzlich ins Leere. Ich klettere über die Stange und fummle am Hinterrad, bis der Kettenzug wieder in der Narbe einrastet. Unser Reichenower Nachbar S. hat das Rad aus seinen Beständen aussortiert und es Thomas zum Geschenk gemacht. Wir haben unsere guten Räder inzwischen in Reichenow und dieses ausgemusterte Exemplar für gelegentliche Stadtfahrten nach Berlin gebracht.

Ich fahre zu Modulor in die Gneisenaustraße. In dem Fachgeschäft für Expertenbedarf sehe ich mich gerne um, um spezielle Dinge zur weiteren Verbesserung meines Alltags zu besorgen. In einer Mischung aus Trotz und Leichtsinn parke ich das Fahrrad unabgeschlossen vor dem Laden und durchwandere die Regale, allerdings ohne rechte Geduld, auch weil ich eigentlich zu einer Arbeitsgruppe nach Neukölln unterwegs bin und nicht zu spät kommen will. Also verwerfe ich meine vagen Verbesserungspläne und breche den Einkauf ohne Ergebnis ab.

Das Fahrrad steht noch da. Mal wieder habe ich über die Bosheit in der Stadt triumphiert. Warum fordere ich heraus, dass es geklaut wird? Ein Schloss, wenn auch ein mageres kleines Kettenschloss, habe ich ja dabei. Obwohl ich über den richtigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung besser bescheid wissen müsste, bin ich nicht von der Idee abzubringen, dass ein Vorschuss an Vertrauen förderlich für die Bereitschaft zur Ehrlichkeit ist. Dass also das unabgeschlossene Fahrrad einem Vorübergehenden nicht die Botschaft „Gute Gelegenheit!“ übermittelt, sondern: „Ich vertraue dir; enttäusch mich nicht!“ Mehrere Fahrräder habe ich auf die Weise schon eingebüßt.

Die Verlängerung der Gneisenaustraße bis zum Hermannplatz heißt Hasenheide, danach Karl-Marx-Straße. Der Name ist aus der kurzen Phase russischer Verwaltungshoheit nach Kriegsende übrig geblieben, weil die Geschäftsleute sich nach der Übernahme durch die Amerikaner geweigert haben, den Namen der Straße, die kurz zuvor noch Hermann-Göring-Straße geheißen hatte, in ihren Adressen schon wieder zu ändern. Das weiß ich von K., die hier geforscht hat. Also heißt die Straße weiter nach dem politischen Erzfeind, und niemand denkt sich noch etwas dabei, jetzt, nachdem der Osten eingemeindet ist, schon gar nicht mehr. Eine Shopping-Gegend, wo gekauft wird, bis die Tüten platzen.

Gegenüber vom Rathaus Neukölln ist ein neues Einkaufscenter entstanden. Unmotiviertes Verweilen von Menschen ohne Kaufabsichten ist wie in allen überdachten und beheizten öffentlichen Räumen der Stadt nicht gern gesehen. Menschen, auf die diese Vermutung zuzutreffen scheint, werden herausgebeten und stehen dann zum Beispiel ans Gitter des U-Bahneingangs gelehnt.

Ich halte an der Ampel. Schräg hinter mir brüllen sich welche an: „He“, „Hallo!“, „Sie da!“ Warum brüllen sie so? „Hah-loh! Chefin!“ Ich drehe mich um. Sie meinen mich!

Ein blonder Mann in schwer zu schätzendem Alter funkelt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er steht direkt neben mir; zwischen uns ist nur das Geländer zum U-Bahn-Eingang. „Machen Sie mal den Riemen von Ihrer Handtasche über den Sattel! Die kann man sich doch ganz einfach da rausreißen!“ Tatsächlich. Meine Handtasche liegt im Korb auf dem Gepäckträger – griffbereit. Und damit wollte ich bestimmt keine Vertrauensprobe riskieren. Er zeigt mit seinem Arm, wie nah er dran ist: „Ich hab schon zu meinem Kumpel gesagt, ob mer die Handtasche klaue sollen?“ Er redet hessisch. Der Kumpel steht einen Schritt weiter hinten, nimmt einen Schluck aus der Bierdose und nickt. Der Hesse ist noch nicht fertig mit dem Abernten seiner eigenen Barmherzigkeit. „Da könntense leicht auf jemand anners stoße, der würd gleich zugreifen!“ Ich ziehe etwas verlegen den Schultergurt der Handtasche über den Sattel. „Ist sowieso nichts Wertvolles drin“, sage ich kleinlaut. „Aber ist doch egal“, schimpft der Hesse weiter, „Papiere, Schlüssel. Müsse se sich doch alles neu beschaffen. Da wird man ja direkt in Versuchung geführt!“. Will er nur gelobt werden oder wartet er auch auf eine Belohnung? Neben mir hat ein zweiter Radfahrer gehalten. Es sagt halblaut etwas zu mir. Ich drehe mich um und lächle ihn an. Unter der pelzbesetzten Kapuze kommt ein schwarzes Gesicht zum Vorschein, das jetzt zurücklächelt.

Die Ampel ist auf grün gesprungen. Ich sage „danke“ in Richtung des U-Bahn-Eingangs und fahre los. Ich denke darüber nach, warum ich gesagt habe, in der Tasche sei nichts Wertvolles. Es ist alles drin: alle meine Papiere und Kontokarten, alle Schlüssel, alles Geld, was ich im Moment habe, außerdem das Brot-Portmonnaie mit den Extra-Einnahmen und mein Handy mit der nicht ersetzbaren SIM-Karte, die mir unbegrenzt einen kostenlosen Vertrag sichert. Der Verlust wäre eine unvorstellbare Katastrophe.

An der nächsten Ampel hält der Radfahrer mit der Pelzkapuze wieder neben mir, er redet immer noch auf mich ein. Als ich mich zu ihm hinwende, merke ich, dass es gar nicht mir gilt. Er telefoniert mit seiner Kapuze.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2007/12/15/neukoellner-versuchung/

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kommentare

  • Liebe Imma, nicht Hermann-Göring sondern Willi-Walter-Allee wurde die ehemalige Berg- und Berliner Straße von den Nationalsozialisten nach einem früh verstorbenen ‘Helden’ aus ihren Reihen genannt, über den heute nicht mehr allzuviel bekannt ist.
    Die biertrinkende Gemeinschaft vor den Neukölln Arkaden hat sich hier so gut eingestanden, dass sie es sich nicht leisten kann, Fahrradfahrer zu beklauen. Wo sollten sie dann hingehen? Ihren Platz mit zwei möglichen Aufwärmarealen (U-Bahn, Forum)und verschiedenen Geländern an allen Ecken der Kreuzung zum entspannten Anlehnen, zwei Unterstellmöglichkeiten bei Regen, einem Grünstreifen in der Farbbahnmitte zum Hintenüberfallen und Rausch ausschlafen, aufzugeben durch einen unvorsichtigen Griff, der das Augenmerk auf sie zieht, wäre mehr als unvorsichtig, sondern existenzbedrohend. Ein guter Standort ist perspektivisch gesehen wichtiger, als ein kurzfristig gefülltes Portemonnaie.

  • Liebe Imma,

    das Radfahren hat demnach so seine Tücken in diesen Zeiten – man oder frau muss wohl alles am Körper tragen, was zu einer veränderten Kleiderordnung führen muss!

    Ich bin auch ungern in der Verteidigungs- und Abschließhaltung. Meine Vertrauensseligkeiten habe ich schon mit diversen Portmonnais-Verlusten bezahlt, aus denen ich widerstrebend,aber doch gelernt habe…

    Herzliche Grußküsse an Dich und Thomas! Eure Lena

  • Liebe Imma,

    eine von der amerikanischen Ostküste stammende Freundin fährt hier in Frankfurt auch immer mit Tüten und Handtasche im Korb durch die Stadt und schließt ihr Fahrrad nicht ab. Bisher sei ihr nur einmal ein Lebensmitteleinkauf abhanden gekommen. Den hätte wohl jemand dringender gebraucht als sie. Sie sagt allerdings in New York, da würde sie das niemals so machen… Vielleicht ist Berlin einfach näher an New York dran als Frankfurt?

  • Der Text hat mir wieder sehr gut gefallen – und ginge auch zu Pfingsten oder zum 1. Mai – ist ja nichts Speziell-dritter-advent-Mäßiges oder irr ich mich. Und nicht immer komm ich zum Kommentieren, weil … naja

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