vonImma Luise Harms 07.07.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Das Auge hat ganz andere Schwierigkeiten als das Ohr, die Hoheit über die Aufmerksamkeitsverteilung zu behalten. Es kommt uns manchmal als Ungerechtigkeit der Evolution vor, dass wir nicht in der Lage sind, das Ohr zuzuklappen. Wir werden angebrüllt und umschmeichelt, wir werden mit Fragen bedrängt und mit Informationen belästigt, nach denen wir nicht verlangt haben. Die fehlenden Ohren-Schließmuskel müssen wir durch heimlich herausgefingerte, klebrig-weiche Ohropax-Stöpsel ersetzen. Wenn wir sie herauspopeln müssen, weil wir angesprochen werden und nicht ausweichen können, bringt uns das in peinliche Situationen.

Das Auge, das scheinbar so praktisch eingerichtet ist, sich zuklappen, sich hin- und herrollen und sich scharf- und unscharf stellen lässt, – das Auge, wie gesagt, hat ganz andere Probleme. Das breite Gesichtsfeld, in dem etwas wahrgenommen wird, ist wie ein großer Trichter, in dem es von Zeichen wimmelt, die sich gern zu Botschaften gruppieren würden, dazu aber jene Aufmerksamkeit brauchen, die nur im Fokus des Gesichtsfeldes zu haben ist. Sie tanzen und blinken, wabern und zucken, scheinen zu verschwinden, um plötzlich wieder aufzutauchen, schmeicheln mit Farben und locken mit Mustern, die an irgend etwas erinnern, dem unsere armen, umherirrenden Augen nicht anders können als zu folgen und – schwupp – ist die Botschaft ins Hirn geschlüpft. Aber was soll man machen? Die Augen verschließen? Die Augenlider sind ein allzu undurchlässiger Filter gegen den Zeichenansturm.

Neulich streiften Thomas und ich mit Jan durch den Wrangelkiez auf der Suche nach einer angenehmen Kneipe. Während Jan und ich redend vorwärtsstrebten, fiel Thomas immer wieder zurück. Wenn wir uns umdrehten, sahen wir ihn vor irgendwelchen Wänden stehen und Plakate durchlesen. „Landei“, sagte Jan, „daran erkennt man die Leute vom Land, dass sie an jedem Scheiss hängenbleiben“.
In der Tat, Thomas musste das ganze Kleingedruckte durchlesen, bis er herausfinden konnte, dass auch dieses Plakat zu den 95% gehörte, denen man seine Aufmerksamkeit gar nicht schenken wollte, wenn man denn die Wahl gehabt hätte. Wer sich im Kiez bewegt, kriegt große Übung darin, die Botschaftsattacken schon im Ansatz niederzuschlagen. Wir Leute vom Land sind dazu zu arglos. Uns kann man alles andrehen.

Es würde mich nicht wundern, wenn es in der Werbe-Wissenschaft so etwas wie eine Feldtheorie der Aufmerksamkeit gäbe: die mathematische Erfassung der Linien im Gesichtsfeld, die den Blick hin zu dem Objekt leiten, dessen Anblick Begehren und Kauflust auslösen soll. Das systematische Einrücken von Farbsprüngen, von langsamen oder schnellen Bewegungen spielte darin eine Rolle, aber vor allem natürlich das Applizieren von Erkennungsmustern, wobei das Muster umso deutlicher sein muss, je weiter außen im Gesichtsfeld die Startposition liegt.

Was rede ich denn da? So weit wollte ich mich gar nicht einlassen. Hilft mir das etwa, mich gegen die Attacken besser zu behaupten?
Es gibt ja sehr unterschiedliche Strategien, der Enteignung von Aufmerksamkeit entgehen zu wollen. Das reicht vom systematischen Abreißen von Plakaten, von denen man sich belästigt fühlt (dazu muss man sie allerdings erst dechiffriert haben; es handelt sich also in Wirklichkeit um eine Bestrafung), über die Verfremdung und Umdrehung der Werbebotschaft in Kunst- und Polit-Aktionen (auch das bleibt meist eine antithetische Fixierung), über die Immunisierung (kleinste Zeichen erkennen, dann sofort abschalten), über die Verharmlosung (eine Strategie, die von Leuten empfohlen wird, die entweder abgestumpft sind oder ein dickes Portemonnaie haben) bis hin zur Entscheidung, sich dem Feind in die Arme zu werfen, einfach mitzumachen und dabei die eigenen schwieligen Erfahrungen in der Abwehr von Botschaften in neue Formen der Heimtücke zu verwandeln.

Immer wenn ich mit dem Auto in die Stadt fahre, treffen mich die Roll-Botschaften der riesigen Werbetafeln auf dem Fahrbahn-Mittelstreifen besonders schutzlos. Darüber kann man ja nicht hinweggucken, wenn man auf den Straßenverkehr achtet. Ist das nicht Nötigung? Ich schaue, ob die Ampel rot ist, und muss dabei akzeptieren, dass ich jetzt weiß: heute Abend gibt es den tollen Blockbuster XY in Pro Sieben. Es ist ja schon schlimm, dass Ressourcen, die eigentlich allen gehören, wie Luft, Wasser oder das uns umgebende elektromagnetische Feld einfach verkauft werden. Aber die Aneignung der privaten Aufmerksamkeit ist doch geradezu Diebstahl! Oder ist das Hausfriedensbruch, wenn die Werbeinstallation mir ihre Mitteilungen gegen meinen Willen ins Hirn drückt? Informationsaufenthaltserschleichung vielleicht? Wenigstens müsste ich Anspruch auf Entschädigung für die erzwungene Entsorgung haben: Vergessen ist schwierig und das kostet auch. Was wäre das für ein Straftatbestand, wenn jemand bei mir klingelt, ich mache arglos die Tür auf, der andere kippt mir einen Beutel Müll in den Flur, sagt: „ein Geschenk!“ und verschwindet dann wieder?

Nach einer solchen Fahrt in die Stadt kam ich aufgebracht in einer Kreuzberger Frauen-WG an. Lauter Frauen, die in Amerika oder anderswo waren und wissen, was in der Welt gespielt wird. Ich beklagte mich über die Hindernisfahrt und stellte Überlegungen an, ob man es nicht auf einen Musterprozess ankommen lassen könnte. Also zum Beispiel: Man überfährt eine rote Ampel, an der man geblitzt wird, und weigert sich dann zu bezahlen, strebt stattdessen den Prozess an und macht geltend, dass es einem nicht möglich ist, auf die Ampel zu achten und auf das Werbeschild nicht, dass es aber nicht von einem verlangt werden kann, sich gegen den eigenen Willen einer Werbebotschaft auszusetzen, die erwiesenermaßen das Kauf- und Konsumverhalten zugunsten des Werbenden beeinflusst. Ob man dafür nicht eine ehrgeizige Anwältin gewinnen könnte?
Da haben die Frauen herzlich gelacht.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2008/07/07/ressource_aufmerksamkeit_iii_gesichtsfeldtheorie/

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