vonImma Luise Harms 21.12.2010

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Neuerdings kriege ich ein Digi-Abo der taz. Zusätzlich zur papierernen taz, die morgens von Thomas aus der Zeitungsröhre geholt wird.
Mein Heim ist 55 Schritte von Thomas’ Wohnungstür entfernt, und das morgendliche Einholen der Zeitung ist eines seiner Rituale. Es entstand in der Zeit, als Thomas noch davon überzeugt war, das das eigentlich seine taz ist; er hat länger als ich in dem Betrieb gearbeitet und in der Zeit eine Mitarbeiter-taz bezogen. Und die hat man ihm auch nach seinem Ausscheiden – aus Wohlwollen oder aus Versehen – noch Jahre weiter geliefert. Die Zeitungsröhre allerdings hängt vor meiner Tür.

Aus Sorge um den Gummiring
Das separate Frühstück hat Thomas zur Wahrung seiner absolut ungestörten Morgengemütlichkeit durchgesetzt. Und das geht so: Er setzt die Espressokanne auf die Gasflamme. Es dauert ungefähr 3 Minuten, bis das Wasser aufgestiegen und der Kaffee eingelaufen ist. Weitere 3 Minuten vielleicht kann man ihn vor sich hin köcheln lassen. Dann muss man anfangen, sich Sorgen um den Gummiring zu machen. In der Zeit geht Thomas die 55 Schritte, zieht die Zeitung aus der Röhre vor meiner Tür und geht zurück. Wenn ich zufällig auch schon in der Küche stehe und ihm freundlich-treuherzig durch die Glastüre beim Zeitung Rausziehen zuschaue, lächelt er mir zu und winkt. Und falls ich die Tür aufmache, begrüßt er mich, sagt eventuell noch zwei, drei Sätze. Dann muss er aus dem objektiven Grund der Schadensvermeidung heimkehren.
Dieses einseitige Zeitungziehen ist auch dadurch zu seinem unbestrittenen Vorrecht geworden, weil ich über lange Phasen kein Interesse an dem Talkmaster-Gebrabbel entwickeln konnte, das aus jeder marktfähigen Zeitung quillt. Andererseits – man hätte am Morgen doch gern Ansprache, ein Gegenüber, zur Not aus Papier.
Manchmal hole ich die Zeitung also doch herein, um sie vor Thomas zu lesen, und stecke sie dann zurück in die Röhre. Manchmal kommt er, während ich blätternd und lesend im Bett sitze, und wartet im Türrahmen, dass ich ihm seine Zeitung aushändige. Diese Verzögerung ist in den 3 plus 3 Minuten Kaffee-Kochzeit drin. Nun hat sich allerdings herausgestellt, dass es doch meine Zeitung ist; als taz-bloggerin bekomme ich ein Freiabo. Das macht Thomas etwas weniger sicher, ob er die Herausgabe der Zeitung mit Recht von mir erwarten darf, und mich ein bisschen kühner, manchmal das hintere Buch, den Kultur- oder den Berlinteil festzuhalten.

Aufklappen und kommunizieren
Inzwischen ist auch in meinem Haus DSL in der Luft; ich kann mein Laptop aufklappen und kommunizieren. Die schon länger zugängliche Digi-taz, eine internet-gerechte, thematische Aufbereitung der Printausgabe, gefällt mir nicht so. Ich will wissen, wie die Zeitung aussieht. Jetzt hat mit die taz ein Digi-Abo spendiert. Das ist nicht nur dem Inhalt sondern auch dem Erscheinungsbild nach die Zeitung. Vielen Dank übrigens.
Die Digiabo-taz hat Vorteile und Nachteile. Vorteil: das komplizierte Umblättern und Umfalten der Papiertaz fällt weg, auf das Rascheln kann ich verzichten. Der Nachteil: Ich kriege den Artikel nicht als Ganzes in den Blick. Denn der Bildschirm hat Querformat. Gedrucktes oder Beschriebenes aber liegt im Allgemeinen in Hochformat vor. Und damit bin ich bei meinem Thema.
Wenn man einen Brief schreiben will, legt man ohne zu überlegen das Papier hochkant vor sich hin. Warum ist das so? Weil unsere Augen die Zeilen entlang tasten, am Ende der Linie in die nächste Zeile wechseln und nach vorne springen müssen. Das machen sie nicht in diesem Zweierschritt, erst nach unten, dann nach vorn, sondern der Augenfokus fliegt in einer Diagonale von rechts oben nach links eins drunter.

Fliegende Augen, fliehende Zeilen
Je länger die Zeile ist, desto größer ist die Gefahr, sich beim Wechsel im nächsten Zeilenanfang zu irren. Das ist der Grund, warum wir lieber im Hochformat lesen. Das Schreiben langer Zeilen vermeiden wir vielleicht deshalb, weil sich die Schrift auf ihrem langen Weg zum rechten Rand leicht absenkt und damit vielleicht Zaghaftigkeit, Unsicherheit, mangelnden Optimismus zu erkennen gibt. Und eine nach unten fliehende Zeile zwingt auch die folgenden in die Knie. Besser kurze Zeilen schreiben. Ich falte deshalb das quer gelegte A4-Papier und kann nun die vier Viertel, jetzt nur noch A5, mit prägnant nach rechts strebenden, kurzen Satzelementen beschriften.
Das Din-Format ist in sich selbst enthalten: Quernehmen, einmal falten, dasselbe Format, um den Faktor Wurzel 2 verkleinert. Daher sind aufgeschlagene Bücher im Querformat, die einzelne Seite aber im Hochformat. Ebenso ist es mit Zeitungen: Aufgeschlagen: Querformat, Leseseiten-weise: Hochformat.
Das virtuelle Blatt Papier, dass ich auf meinem Laptop mithilfe des Editor-Programms zu beschriften scheine, ist im Hochformat, weil wir, die KonsumentInnen, es nun mal so gewohnt sind. Rechts und links ist ein grauer Hintergrund dargestellt, der eine Schreibunterlage simuliert. Das weiße Blatt gibt vor, darauf einen feinen Schatten zu werfen, und behauptet so seine Materialität. Kein Wunder, dass ich in der Vorstellung verhaftet bleibe, dass da eigentlich irgendwo ein reales Papierblatt ist, dessen Bild sich am Monitor wie an einem Guckkasten vorbeischiebt.

Texte im Sehschlitz
Es ist üblich geworden, virtuelle Schriftstücke, die zur Zirkulation bestimmt sind, auch virtuell zu drucken. Sie werden dann als pdf-Datei den Massen-Emails angehängt. Und wieder gleitet ein eigentlich hochformatig gemeintes Textbild durch einen querformatigen Rahmen. Schlimmer noch: Er ist zum Sehschlitz verengt, erstens, weil die meisten Monitore kein DIN-Format mehr, sondern das Film-angepasste 16:9 Format haben. Zusätzlich fallen oben und unten breite Streifen weg, die für aufwändige Bedienelemente-Konsolen vorbehalten sind. Was als Ausschnitt übrig bleibt, ist ein Streifen im Cinemascope-Format – geeignet für weite Landschaften voller Viehherden, aber nicht für übersichtliche Text-Elemente.
Es ließe sich einwänden, das macht ja nichts, man kann schließlich mit Maus oder Cursor das Schriftstück am Sehschlitz vorbeischieben. Ja, wenn es sich um irgendein Schriftstück handelt, und nicht um eine Zeitung! Die hat nämlich ihre Lesbarkeit konsequent in der Vertikalen organisiert.
Auf sechs Textsäulen mit kurzen 30-Zeichen-Zeilen sind die Mitteilungen einer taz-Seite verteilt, vielfach unterbrochen durch großformatige Bilder, Anzeigen, Zwischenüberschriften oder informative Textkästen. Jede Seite eine augeklügelte Komposition. Das neugierige Auge kann in weiten Bögen oder kurzen Schwüngen darüber streifen, auf der Suche nach Anhaltspunkten, die die detaillierte Lektüre des Artikels lohnenswert erscheinen lassen, oder um Namen, Daten, Fakten aufzupicken, die das kleinteilige Durchlesen überflüssig machen.

Leim und Fußangeln als Aufmerksamkeitsfallen
Tatsächlich ist ja die Lektüre jeder einzelnen Zeitungsseite ein Kampf zwischen LeserIn und RedakteurIn. Die LeserIn kann nicht jede Seite lesen, sie muss auswählen. Die RedakteurIn will ihr Ressort und ihren Aufmacher im Fokus der Aufmerksamkeit wissen. Sie schmiert Leim und legt Fußangeln, damit die LeserIn auf der Seite hängen bleibt. Das sind verrätselte Bildunterschriften, süffige herausgestellte Zitate, irreführende Zwischenüberschriften. Wenn die LeserIn wissen will, ob was im Artikel drinsteht, muss sie ihn überfliegen.
Aber wie soll das am Bildschirm gehen? Das Zurückspringen zum Seitenkopf ist bei der virtuellen Zeitungsseite nicht so einfach, denn er ist irgendwo im Nirwana hinter dem oberen Bildschirmrand. Einmal kicken, zweimal klicken, mit dem Cursor rauf, noch weiter. Aber wo war das Seitenende? Wo war der Textkasten? Wo geht es über oder unter dem Bild weiter? Die Punktgröße der Printausgabe erlaubt es nicht, die Seiten auch nur im halbierten Zustand zu lesen. Man muss gewissermaßen mit der Lupe ran. Und dann ist man im Brottext verloren.

Brav durch die Spalten kauen
Die virtuelle Printausgabe der Zeitung gibt der RedakteurIn einen strategischen Vorteil gegenüber der LeserIn. Weil das Auge nicht schweifen kann, muss sie fügsam den Leseimpulsen der Seitengestaltung folgen, bzw. sich durch die Spalten kauen. Tatsächlich stelle ich fest, dass ich das digitaz-Abo brav von vorne nach hinten durchlese – bis ich keine Lust mehr habe. Inland, Ausland, Wirtschaft/Öko – dort lese ich am liebsten die Kurznachrichten, weil sie schön übersichtlich nebeneinander am Seitenkopf angeordnet sind. Der hintere Teil, taz-zwei, Kultur, Berlin, hat das Nachsehen.

Gut, dass unser Morgen-Ritual einen zweiten Akt hat. Wenn Thomas gefrühstückt hat, kommt er, um die Zeitung zurück zu bringen und ein wenig zu verweilen. Dann kann ich einfach fragen: „Steht was drin?“

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2010/12/21/zeitung_lesen_im_querformat/

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