vonImma Luise Harms 30.08.2011

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Die Neue Dorfstraße heißt bei den Leuten im alten Dorf noch immer Stalinallee. Aber nur der hintere Teil, die Nummern 8 bis 26. Der vordere Teil war früher einfach das Schloss mit allen seinen riesigen Landwirtschaftsgebäuden.
Die Reichenower Stalinallee ist vielleicht noch breiter als die Berliner ehemalige Stalinallee. Sie ist voller köstlicher Leere, eine weite Graspiste, in der ein Schotterweg mal rechts, mal links verläuft. Niedrige Häuser mit Dächern in unterschiedlichen Rottönen sind von zu groß gewordenen Büschen halb verdeckt. Darüber sind Wolken, die in niedriger Höhe in die Ferne treiben. Morgens ist der Himmel rosa, abends sieht der Mond, der hinter den Scheuen aufsteigt, groß und gelb aus.
Neben dem Weg aus Schottersteinen, mit denen die Schlaglöcher immer wieder aufgefüllt werden, stehen Holzmasten, an denen Straßenlaternen befestigt sind und zwischen denen die sanft durchhängenden Leitungen den dafür notwendigen Strom weitertransportieren. Die Masten sind aus Robinienholz, der hier ungeliebten falschen Akazie, die ungezügelt weiter wächst, wo sie einmal Fuß gefasst hat, und deren Holz der Verrottung widersteht. Das Holz ist deshalb sehr begehrt. Wer einen abgebauten Stromleitungsmast kriegen kann, schleppt ihn hinter seine Garage, um ihn für irgendein Bauprojekt aufzuheben, und gibt ihn auch, nachdem das Bauprojekt aufgegeben und vergessen ist, nicht wieder her. Und so liegt der Mast mit seinen dicken Porzellan-Isolatoren und den wulstigen Elektroleitungen noch viele Jahre hinten im Garten.
Die großen alten Natronlampen werden in der Dämmerung gezündet. Sie bilden ein orange-farbenes Band, das den in der Dunkelheit verborgenen Dorfausläufer weit sichtbar markiert. Pünktlich um halb zwölf erlöschen sie wieder, und es wird Nacht in der Neuen Dorfstraße. Am Morgen verliert sich die Reihe der Holzmasten im Nebel.
Diese Landschaft aus einem staubigen Weg, der sich zwischen auseinander stehenden Häusern in der Weite des Grases verliert, scheint nicht von hier, aus diesem Land der Verbundpflaster. Sie könnte in einem südost-europäischen Dorf liegen, in der Pusta, auf dem Balkan.
(Fortsetzung)

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