vonImma Luise Harms 31.10.2011

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Die Nummer 1 ist natürlich das Schloss. Über das Schloss mit seinem Hochzeitsrummel gäbe es ohne Ende zu tratschen, aber nicht hier. Nachdem die letzten Geadelten, die Eckardsteins, sich vor der vorrückenden russischen Front nach Westen in Sicherheit gebracht hatten, fiel der Bau der russischen Ortskommandantur in die Hände. Sie übergab es nach ihrem Abrücken in Gemeindebesitz. Die Flüchtlinge aus dem Osten wurden hier fürs Erste untergebracht. Später bekamen sie Bauplätze und wie gesagt Land weiter hinten in der Neuen Dorfstraße. Einzelne Wohnungen gab es aber weiterhin in irgend welchen Seitentrakten des Schlosses. Im zentralen Teil war eine Kneipe oder jedenfalls eine Dorf-eigene Feiereinrichtung. Es gibt Bilder, auf denen an langen Tischen Sitzenden Kaffee und Kuchen vorgesetzt wird.
Bis zum Zusammenbruch der DDR war der Kindergarten im Schloss. Nach der Wende ersteigerte die Brandenburgische Schlösser GmbH mit Sitz in Potsdam den denkmalsgeschützten Bau im Tudor-Stil, ließ ihn aufwändig wiederherstellen, inklusive jeder Dachzinne und dem Wiederaufbau des gestürzten Schlossturms, und verpachtete das aufgemöbelte Gebäude an zwei Frauen aus dem Westen, die hier ursprünglich ein Wellness-Hotel betreiben wollten, was sich aber in Anpassung an die Erfordernisse des Marktes zu einem Hochzeitsparadies entwickelt hat. Mit den Schlossdamen, wie sie im Dorf genannt werden, ist nicht gut Kirschen essen. Soviel dazu.

Die Nummer 2 ist das ehemalige Torwächter-Häuschen am Eingang zum Park. Zu DDR- und LPG-Zeiten waren hier Infra-Struktur-Einrichtungen: hinten rechts der Sitz der Gemeindeverwaltung, heute Film+Videoclub, hinten rechts die Eier-Annahmestelle, wo Eier gegen Futter getauscht werden konnten, vorne links die Poststelle, von Frau M. betrieben, heute Heimwerkerin-Werkstatt, vorne links die Raiffeisen-Sparkasse, zu Wendezeiten der Jugendclub des Dorfes, jetzt Gästezimmer. In den 60er oder 70er Jahren wurde nach Norden ein Haus angebaut, das die Gesundheitsbetreuung der Gemeinde enthielt, geführt unter der Nummer 2a. Ärztin K. lebt und praktiziert inzwischen in der Neuen Dorfstr. Nr. 16. Das ist ganz weit draußen, das letzte Haus, schon weit im Feld, in einer früheren Stasi-Datsche. Sprechstundenhilfe in der  2a war E.W., inzwischen Gastwirtin in der Neuen Dorfstr. Nr. 5. Aber wir sind noch bei Nr. 2 bzw. 2a.

Das Häuschen, von manchen immer noch “Baracke” genannt, wurde Mitte der 90er von der Gemeinde auf den Markt geworfen und vom Gutshof erworben. Das Schloss hätte es auch gern gekauft – um es abzureißen, weil es das historisierende Ensemble stört. Das wurde zum Glück verhindert, denn jetzt ist es meine Wohnung und mein Wirkungsraum.

Die Nummer 3 wird von T. und H. bewohnt, den Eierlieferanten der Nachbarschaft. Sie sehen alles, wissen alles und kommentieren alles. Sie teilen auch gerne ihr Wissen um das, was so vor sich geht. Vom alten Gutshof-Komplex ist der mächtige steinerne Einfahrtspfosten neben ihrem Haus erhalten geblieben.

Im Nachbarhaus, der Nummer 4, wohnen K. und M., auch ihr Haus ist im Kern ein altes Gutshofgebäude, natürlich aufgestockt, erweitert und entsetzlich nachwende-mäßig verbaut. K. ist Landwirt, aber M. ist die Chefin. Früher hatten sie Milchkühe, aber das lohnt sich nicht mehr. Jetzt wird nur noch Energie angebaut: Mais für die Biogas-Anlage und Getreide für die Verästerung zu Biodiesel. K., bzw. eigentlich M. hat große Traktoren und eine große, wirklich sehr große Erntemaschine. Wenn die großen Ungetüme zu Felde ziehen, erbebt die Neue Dorfstraße. Sie waren natürlich teuer und das heißt, sie müssen immer unterwegs sein, damit sie ihre Kredite wieder reinfahren. K. ist im Radius von -zig Kilometern auf fremden Äckern als Lohnbauer unterwegs und pflügt und scheibt und drillt dort Furche um Furche und Stunde um Stunde. Er ist also im Grunde Fernfahrer.

Die Nummer 5 trägt die Dorfkneipe „Kellerstübchen“. Tatsächlich sind die Gasträume im Keller. Die weitläufigen Kellergewölbe stammen aus einer Zeit, als alle diese Häuser noch Teil des großen Wirtschaftskarrées war. Wenn man in W.’s Wirtschaft die Tapete mit den aufgedruckten Klinkern ablösen würde, wenn man die realen Mauern dahinter aufbrechen würde, käme man in die Kellergewölbe der benachbarten ehemaligen Brennerei. Hier hängt unterirdisch alles zusammen. Das Getreide wurde durch die Kellerschluchten direkt in den Brennereikeller gepumpt und dort zu Schnaps verarbeitet.

Das Brennereigebäude mit der Hausnummer 6 ist das älteste Gebäude des Ensembles und stammt aus dem Jahr 1837. Es steht leer und bröselt vor sich hin. Die neuen Besitzer, ein fröhliches Berliner Betriebs- und Familiengeflecht, haben sich auf der Freifläche zwischen den Schuppen eingerichtet und beschränken sich zurzeit auf die Bestandssicherung des alten Gemäuers und aufs Pläne schmieden.

Das nächste Gebäude ist die Vereinskneipe des heutigen Gutshofes. Es trägt die Hausnummer 6a. Und hierher käme auch die Post für E., die in dem Haus wohnt und arbeitet. Tatsächlich wird aber der dicke Packen an Briefen für die Gutshofbewohner+innen in der Nummer 7 abgeliefert, im Büro des Vereins, in dem langen Hausriegel, knapp neben der künstlichen Hauslücke, die mal der Durchstich für die Neue Dorfstrasse hatte werden sollen. Hier kommt auch meine Post an, denn postalisch gehöre ich zur Nummer 7.

(wird fortgesetzt)

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