vonImma Luise Harms 01.12.2011

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Gerade habe ich mein Buch aus der Tasche gezogen, da mischen sich sanft langgezogene Töne in das Rattern der S-Bahnräder. Die Töne steigen zu einem zarten Zirpen auf und sinken herunter in eine samtige Getragenheit. Dann sind sie kaum noch zu vernehmen. Ich wende mich um. Am Ende des Abteils hat jemand eine Geige ausgepackt. Der Mann mit dunklem Brillengestell und langem, dunklem Haar, das unter einer Wollmütze hervorquillt, hat sich an das Geländer gelehnt, das den letzten Sitz von der Tür trennt. Er streicht seine Fidel. Sie kommt mir groß vor; es ist wohl eher eine Bratsche. Die Finger eilen über die Saiten und verhalten zitternd an einer Stelle, um den Bogenstrich abzuwarten. Manchmal klingt ein zweiter Ton mit. Es ist wie das „Oh“ oder „Ach“ einer teilnehmenden Zuhörerin.
Die Musik hat etwas angenehm Unaufdringliches. Ich hole mein Portemonnaie heraus. Einen Euro ist mir das wert. Ich nehme die Münze in die Hand und versuche weiter zu lesen. Auch die junge Frau, die mir gegenüber sitzt, hat schon eine Spende in der Hand.
Aber der Musikant spielt weiter. Die Melodien gehen abstandslos ineinander über. Es sind seelenvolle oder reich verzierte Wunschmusikstücke, die jede schon einmal gehört hat. Der Mann spielt lange für so einen S-Bahn-Auftritt. Station um Station geht vorbei, Stück folgt auf Stück. Meine Nachbarin greift noch mal in die Geldbörse. Sie hat jetzt zwei Münzen in der Hand. Kurz vor der nächsten Station steckt ein Mann, der auf der anderen Seite vom Gang gesessen hat, sein Geldstück wieder ein, weil er aussteigen muss.
Ein wirklich langes S-Bahn-Konzert. Ich kann mich nicht auf meinen Text konzentrieren. Ich will nicht verpassen, wenn der Musikant seine Spenden einsammelt. Jetzt ist die letzte Melodie vom rhythmischen Fahrgeräusch verschluckt. Jetzt wird der Mann gleich mit seiner Mütze kommen. Ich schaue ins Buch, um davon aufschauen zu können. Aber er kommt nicht.
Die S-Bahn ist in einen Bahnhof eingefahren. Als ich mich umwende, sehe ich niemanden mehr an dem Geländer. Es kommt auch niemand durch den Gang. Auf dem Bahnsteig geht eine junge Frau mit einem großen Geigenkasten, dessen Schlösser sie zudrückt, neben dem Zug entlang. Sie hat dunkles Haar, das unter einer Wollmütze hervorquillt. Ich halte mein Geldstück in der Hand. Ich suche den Blick der jungen Frau gegenüber, die auch mit ihrem Geld dasitzt. Aber sie will meinem Blick nicht begegnen, sie schaut an mir vorbei in den leeren Gang.

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