vonImma Luise Harms 03.07.2013

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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„Halt doch mal die Klappe“, sage ich zu Toni und setze den Schraubenzieher an. „Wie lange denn?“, fragt sie zurück. „Bis ich die beiden Schrauben raus habe“. Damit die Klappe nicht in der Luft hängt und das untere Scharnier auch noch ausreißt. Die Klappe ist aus Resopalplatte, blassrosa, mit einer cremefarbenen, die beiden Seiten umfassenden Kantenumleimung aus Hartplastik. 50er-Jahre würde ich sagen. Retro-schick. Jetzt kaum noch zu erkennen. Denn das Arzneischränkchen mit dem Schnappverschluss habe ich ausgiebig umgebaut. Es stammt wahrscheinlich von J.; er findet so was auf seinen Baustellen, packt es sich mit ein, fühlt sich durch den Besitz dann aber doch belastet und verschenkt es mit großzügiger Geste weiter: Guck mal, sieht das nicht geil aus? Ich habe immer noch irgendwo Stauraum für solche eigentlich geil aussehenden Stücke, an die ich mich dann manchmal erinnere, wenn ich auf der Suche nach Basismaterial für zweckmäßige Vorrichtungen bin.

Aus dem Arzneischränkchen ist der Kleine-Zeiger-Briefkasten geworden. Er hängt am Mitteilungsbrett der Gemeinde Reichenow, nimmt die Post für den Kleinen Zeiger entgegen, enthält aber auch die neueste Ausgabe meiner Miniaturzeitung.

Ich bin gern im Dienst der Allgemeinheit tätig. Das gibt meinem Leben einen Sinn, strukturiert meinen Alltag und sichert mir ein gewisses Interesse anderer an meiner Person. Ich hab dann immer einen Grund, Kontakt aufzunehmen, weil ich ja etwas zu bereden habe. Wenn ich nicht weiß, wohin mit mir, und warum überhaupt, kann ich darüber nachdenken, wie ich meinen Dienst an der Allgemeinheit verbessern kann, lege dafür Excel-Tabellen an, führe Telefonate oder baue in meiner Werkstatt etwas zusammen.
Ein Jahr lang gab es eine Dorfzeitung in Reichenow, mein Projekt, meine Zeitung, durch ein EU-Strukturprogramm gefördert und von mir „Ortszeit“ genannt. Mit dem kleinen Budget konnten wir den Druck und die Infrastruktur für Produktion und Vertrieb zahlen. Aus dieser Zeitung ist übrigens der blog „Jottwehdeh“ hervor gegangen. Dann war das Fördergeld verbraucht, das Monatsblatt wurde eingestellt. Die Dorfbewohner jammerten der schönen Zeitung hinterher, in der sie sich so gut abgebildet gefühlt hatten. Es blieb aber beim Jammern. Das ist eine Eigenart, die ich erst auf dem Land richtig einzuschätzen gelernt habe: dass im Falle der Unzufriedenheit mit einer Situation ausgiebiges Jammern ausreichend dafür ist, den eigenen Seelenfrieden wieder herzustellen. Die Zeitung wurde vergessen. Aber nicht von mir.

Jetzt muss ich von meinem Freund A. sprechen. Wir kennen uns aus der autonomen Bewegung der 80er Jahre in Kreuzberg, an deren von allen missverstandener Grundidee mein Herz heute noch hängt. Wir gehörten also zur Szene. Diese diffuse Mischung aus Lebenshunger, Neigung zu Dogmatismus, also politischer Besserwisserei, und Insubordination in allen Lebenslagen hat mich damals magisch angezogen. A. und ich waren dem Charakter nach IngenieurInnen in dieser Bewegung. Wir hatten Ideen, an deren Realisierung und ständiger Verbesserung wir arbeiteten. An politischen Diskussionen hat sich A., im Gegensatz zu mir, selten beteiligt, aber wenn es darum ging, Aktionen vorzubereiten, hatte er sie im Kopf bereits vorgeplant. A. und ich haben uns auch später, als die Szene bedeutungslos geworden war, oft bei individuellen Interventionen unterstützt. Denn die Lust daran hatten wir nicht verloren. Von der produktiven Kraft des Ungehorsams waren wir weiter überzeugt; vielleicht war es wegen der Lust. Quer treiben, wenn alle sich in den Strom legen.

Einmal haben wir eine ganze Palette von Broschüren mit dem kommunistischen Manifest vor dem Reißwolf gerettet. Das war im Sommer 1990. Zur großen Wiedervereinigungsfeier haben wir Tausende der Heftchen mit dem Aufdruck bestempelt: „Bitte sorgfältig aufbewahren – 3. Okt. 1990“. Dann haben wir ein Handwägelchen klargemacht, mit den gestempelten Manifesten beladen und sind zur Siegesfeier am Brandenburger Tor gefahren, um sie dort zu verteilen. Das Interesse war mäßig. Wir hatten drei Kinder dabei, zwischen 8 und 10 Jahren, denen das Verteilen mächtig Spaß machte. Sie kamen auf die Idee, eine Mark für die Hefte zu verlangen. Sofort zeigte sich Nachfrage; sie machten keinen schlechten Umsatz. Was kostet, hat einen Wert; was umsonst ist, ist verdächtig.

Später gab es Aktionen gegen Spekulantentum in der Stadt, wie zum Beispiel der Fassaden-hohe Schriftzug an A.’s Wohnprojekt in einem angesagten Berliner Stadtteil: „Kapitalismus normiert, zerstört, tötet“ Bei solchen Gelegenheiten wurde ich zur Stimmigkeit des Inhalts befragt; die Technik feilte er aus. Die meterhohen illuminierten Buchstaben wurden aus Aluminium-Druckplatten gefertigt. Sie fielen bei A.’s Arbeitsprozess ab, denn A. ist Drucker.

Damit bin ich wieder beim Thema. A. und ich haben verschiedene Druckerzeugnisse gemeinsam produziert, auf die ich hier nicht näher eingehen will. In seiner Werkstatt entstanden und entstehen Flugblätter, Plakate, Traktate, Zeitschriften, Programmhefte. Und zwar sollen in der Regel die „jungen Menschen“, wie er sich ausdrückt, ihre Sachen selber drucken. Er leitet sie dazu an und ist sehr streng dabei, eher autoritär als autonom. Ein Programmheft, das monatlich erscheint, wird für die Szenekneipe Baiz in der Torstraße gedruckt. Das macht A. selbst. Sie ist in den traditionellen Anarcho-Farben schwarz und rot gehalten. Viel schwarz und viel rot.

A. ist sich nicht sicher, ob das Druckergewerbe in Zeiten der flächendeckenden elektronischen Kommunikation noch Bestand haben wird. So hat er eine neue Tätigkeit ins Auge gefasst. A. ist inzwischen Tänzer, ein galanter und eleganter Tänzer, der sich abends seine Druckerfinger sauber schrubbt und ausgeht. Vor vielen Jahren haben wir das zusammen angefangen. Er ist zielstrebig und ehrgeizig, hat mich längst weit überflügelt und unterrichtet inzwischen selbst die Kunst der schwingenden Schrittfolgen. Tanzlehrer wäre eine Alternative.

Hier füge ich eine rhetorische Schrittfolge ein, nicht schwingend, sondern vorwärts drängend wie beim Paso Doble, Schritte, die mich zum nächsten Gedanken führen sollen.
Autonom handeln bedeutet, eigengesetzlich und vor allem eigensinnig sein. Der Eigensinn drückt sich in der schöpferischen Aneignung von Wirklichkeit aus, in der Identifizierung, der Interpretation und der Beeinflussung der Verhältnisse. Das Schöpfungsbedürfnis drängt zur Form. Formen heißt, unter Möglichkeiten auswählen. Auswählen wiederum kann nur, wer auch bereit ist zu verwerfen. Das Verworfene ist der Humus, das Trittbrett, die wahrhaftige Basis für das Erwählte. Es trägt weiter alle Potentiale in sich, anderen Schöpfungsprozessen zu dienen, es liegt und wartet auf sie.

In der Filmakademie, in die ich mich vor Jahren als Gast eingeschlichen hatte, gab es im Flur eine Kiste, in der aussortierte Filmschnipsel gesammelt wurden, die aus dem Montageprozess für die in Arbeit befindlichen Filme endgültig heraus gefallen waren. Die 35mm-Filmstreifen darunter hatten eine ansehnliche Breite. Man erkennt die einzelnen Szenen: wie sich die abgebildeten Personen langsam von der linken zur rechten Perforation bewegen, die Gegenstände Meter für Meter weiterrücken. Dass Filme eigentlich Bilderfolgen sind, habe ich da erst richtig verstanden und war entzückt davon. Ich habe etwa hundert dieser Streifen verstohlen herausgesucht. Man wühlt nicht gern im Abfall, noch dazu als Gast. Meine Verwertungsabsicht war nicht, einen schrägen Film aus Resten zu kompilieren, sondern ich wollte ein Rollo für Thomas basteln, die Filmstreifen zu einer Fläche verweben. Die Handlungen überkreuzen und überlagern sich, stehen quer zu einander, doppeln und überblenden sich. Die Sonne scheint durch das Gewebe aus transparenten Polyesterstreifen und bildet einen ganz eigenen Film, der aus Gleichzeitigkeit besteht. Das habe ich mir schön vorgestellt und das war auch schön.

Den suchenden Blick nach dem Verwertbaren im Verworfenen habe ich nie verloren. Es ist ein ständiger Reiz. Ich weiß nicht, wie die Entscheidung zustande gekommen ist, das Baiz-Programm in einem quadratischen Format aufzulegen. Der Druck der Seiten füllt nicht den gesamten Platz auf den großen A2-Druckbögen aus. Es bleibt auf beiden Seiten ein Streifen von 48 cm Breite und 9 cm Höhe frei. Überschuss, Abfall, für die Papiertonne oder eben: Ressource. Seit Jahren druckt mir A. auf diesem Randstreifen Zettelchen, die ich für meine ländlichen Aktivitäten brauche. Der Fachausdruck dafür ist „Beidruck“, so wie Beilage, Beikraut, Beifahrer oder Beistelltisch. Seit zwei Jahren nutze ich den Beidruck regelmäßig für ein neues Projekt, das durch die Verfügbarkeit dieser Ressource erst entstanden ist. Hier fängt die Geschichte des Kleinen Zeigers an. (Fortsetzung folgt)

 

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