vonImma Luise Harms 30.09.2014

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ich sitze schwer atmend auf der Bank. Die Luftröhre brennt. Ich spüre, dass die Sonne scheint. Sie scheint auf mein Gesicht, auf meine weißen Turnschuhe, auf die mein Blick herabgesunken ist. Der leere Bahnsteig zieht an mir vorüber. Neben mir sagte jemand: “So ein Leichtsinn! Das hätte ins Auge gehen können, Mädchen!” Mädchen. Ich widerspreche nicht. Ich schau nicht mal zur Seite. Das alles ist außen, der Mensch zu der Stimme, der Bahnsteig, das leere Gleis, der nächste Bahnsteig dahinter. Die Leute, die von dort herübersehen. Ich bin  ganz in mir, in einer bezugslosen schwerelosen Gegenwärtigkeit. Erst später spüre ich den Schock als Nachhall der letzten Sekunden. Und dann kommt das Gefühl von Schuldhaftigkeit, dass ich nicht zum verabredeten Zeitpunkt in Berlin sein werde, und der Ärger, dass das so gekommen ist. Und dann die bangen Überlegungen, was jetzt weiter getan werden muss.

Der Zug ist mir weggefahren. Ich war zu knapp in der Zeit. Immer ist die Zeit zu knapp oder ich bin zu knapp darin. Ich bin von meiner Hamburger Unterkunft aufgebrochen, rechtzeitig, wie ich dachte. Aber es ist schwer, die Zeiteinheiten mit der Länge der Straßenzüge in Deckung zu bringen. Es gibt Verzweigungen, Hindernisse, Ablenkungen, Ampelschaltungen, U-Bahn-Takte. Und dann ist das Gepäck schwer. Nicht allzu schwer, weil ich nur einen Wochenend-Besuch in Berlin mache. Aber wie schwer ist es wirklich? Zum Beispiel, wenn man rennen muss?

Ich habe einen Freund in Berlin. Gerade, als ich die Stelle in Hamburg bekommen habe, hat sich das ergeben. Eine Bekanntschaft, deren Verbindlichkeit ich ausbauen möchte. Ein Freund, der ein Liebster, mein Liebster sein könnte. Ich denke mich da rein. Nach der geliebten Person sehnt man sich. Man will schnell hin, so schnell es geht. So eine Beziehung soll die zu K. sein, den ich mir als in Berlin ungeduldig auf mich wartend vorstelle. Und ich fliege ihm entgegen, ich renne zum Bahnhof, der Zug, der mich zum Liebsten bringt, wartet. Der Zug kommt von Altona, war schon in Dammtor und steht jetzt im Hamburger Hauptbahnhof. Während ich renne, schaue ich auf die Uhr. Aber das Zifferblatt sagt mir nichts. 12 Uhr 10 – heißt das, die zehnte Minute ist angebrochen oder ist schon fast um? Außerdem, was ist eine Minute, die verschwindet doch in der Unschärfe des Augenblicks.

Von der Fußgängerbrücke sehe ich meinen Zug am Bahnsteig stehen. Alle sind schon eingestiegen, die Türen geschlossen. Das heißt nichts. Man kann sie wieder aufklinken. Das konnte man damals noch. Ich muss nur rechtzeitig da sein. Jetzt sofort. Aber die Treppe trennt mich noch von dem Zug, der eben in diesem Moment abfahren wird. Der Pfiff gellt über den Bahnsteig, hallt zu mir herauf, während ich die Treppe herunterstürme. Da setzt der Zug sich in Bewegung. Er fährt an der Treppe vorbei. Ganz langsam erst, wie eine letzte Aufforderung mitzukommen, den Freund zum Geliebten zu machen, in seine Arme zu fallen und mit ihm eins zu werden.

Als ich den Bahnsteig erreiche, ist der Zug schon schneller als ich, langsam zieht der letzte Wagen an mir vorbei. Ich will nicht aufgeben. Ich zwinge meine Beine zum Äußersten. Dicht neben mir ist die letzte Tür. Ich springe auf das Trittbrett, ich klammere mich an den Griff, will ihn nach unten reißen, mich in den Zug zwängen, nach Berlin mitgenommen werden. Am Zug hängend, fahre ich über den Bahnsteig, an gelähmten Besuchern vorbei, die ihre Angehörigen zur Bahn gebracht, ihnen gewinkt haben und sich eben zum Gehen wenden wollten. Die Tür geht nicht auf. Die Klinke bewegt sich nicht. Hinter der Tür steht der Schaffner, er hält die Tür von innen zu. Er drückt die Klinke mit aller Kraft nach oben und starrt mich dabei aus entsetzt aufgerissenem Gesicht durch die Scheibe an.

Und jetzt kommt der Moment des Kippens, des Loslassens, des Zusammenbrechens und des Zurückstürzens in das Reale. Ich springe ab, auf den letzten Metern des Bahnsteiges auslaufend. Der Zug fährt aus dem Bahnhof, endgültig ohne mich. In der gläsernen Verbindungstür des Zugendes meine ich den Schaffner zu sehen, wie er auf mich zurückblickt, als Zurückblickender erstarrt, als kleiner werdende Statue mit dem Zugende verschmilzt, mit dem Zug verschwindet.

Ich bleibe zurück. Ich bin auf mich zurückgefallen. Und da bin ich nun. Und das ist der Moment vollkommenen Glücks.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2014/09/30/die-heimliche-sehnsucht-von-der-bahn-geworfen-zu-werden/

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