vonImma Luise Harms 15.06.2015

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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„Eigentlich kann der Krieg jetzt kommen“, sagt Thomas. Es klingt wie: „Eigentlich können wir jetzt essen.“ Der Sarkasmus des Satzes durchfährt mich. Man kann sich doch keinen Krieg herbeiwünschen! Tatsächlich hatte ich den gleichen Gedankenimpuls. Wenn alles getan ist, alles ausverbessert ist, was soll denn dann noch kommen? Die Ein- und Zweifamilienhäuser stehen in der vollen Pracht ihrer Wärmedämmung auf dem neuesten Stand der Technik. Die Zäune, die die kleinen, durch Rasen und Rabatten strukturierten Vorgärten umschließen, entsprechen den Sicherheitsbestimmungen und dem aktuellen Geschmack. Alles, was blühen kann, blüht. Das kann man erwarten; es ist Anfang Juni. Dächer sind gedeckt, Fassaden verklinkert, Panoramascheiben aus Isolierglas in die Fassaden gesetzt, Dachböden ausgebaut. In den Gärten, am Rande der getrimmten Rasenflächen stehen Gartenhäuser für die Rasenmäher und anderes Gerät. Neben dem Haus, dort, wo er noch hinpasst, der Carport. Auf dem Treppenabsatz neben der Eingangstür noch ein Blumenkübel, am Plattenweg noch eine solarbetriebene Gartenleuchte.

Das hat alles seinen Grund; der Nutzen ist durchdacht: zweckmäßig, kostengünstig, nachhaltig, alle Optionen offen haltend, und man will ästhetisch nicht aus der Reihe tanzen. So kommen alle früher oder später zu denselben gestalterischen Ergebnissen. Zum Beispiel die Hecke. Man will, dass sie schnell zuwächst; blickdicht soll sie sein, nicht zu viel Arbeit machen. Vorherrschend Liguster, Konifere und Kirschlorber. Kirschlorber setzt sich durch: immergrün, also keine Arbeit mit dem Laub, nicht schütter im Frühling, wenn beim Liguster die Zweige noch nackt sind. Aber schöner, frischer als die Koniferenhecken; die sehen ja immer ein bisschen nach Friedhof aus.

Was tut man also, wenn der letzte Gartenwinkel ausgestaltet ist? Was tun die Leute dann? Wird sich die geballte Verbesserungswut ganzer Landstriche in einem Knall entladen?

Wir sitzen auf der Terrasse unter einer entrollten, braun-weiß gestreiften Markise. Sonnenschein auf dem Rasen, ein kleiner Teich mit Springbrunnen in der Gartenecke. Die Aperitifs sind getrunken, die Mahlzeit eingenommen, der Nachtisch verspeist, die Getränke stehen halb ausgetrunken vor uns. Alle Informationen über die Herfahrt und über die Pläne zur Heimfahrt, über die letzten Urlaube und die laufenden Krankheiten, über die Kinder und Enkel sind ausgetauscht. Im schweifenden Gespräch kommen abseitige Themen ins Blickfeld, seine Methode wandelt sich vom assoziativ verknüpften Erzählen zum Aufwerfen von Grundsatzfragen, zu Mutmaßungen und wetteifernden Erklärungen. Das ist der Zeitpunkt, da weicht meine Reserviertheit langsam auf; interessante Mutmaßungen habe ich immer parat und gerne entfache ich heimtückische Fragen, um den Erklärungsehrgeiz meiner Gesprächspartner anzufachen.

Ein Teil der Familienmitglieder will in den nächsten Tagen eine Wanderung machen. Die Route liegt fest, die Unterkünfte sind gebucht. Die Frage ist, wie wird das Wetter. Von den aktuellen Vorhersagen geht es zur Unkalkulierbarkeit von gewittrigen Entladungen, von denen zum Naturereignis von Blitz und Donner, von dort zu der Frage, was bei einem Gewitter eigentlich den Donner auslöst. F. erklärt es sich so: der Blitz zerteilt die Wolken, die dann wieder aufeinander krachen. Hm. Können Wolken aufeinander krachen? Nee, meint A., nicht die Wolken, sondern die Luft wird durch den Blitz erhitzt, bildet ein kurzzeitiges Vakuum, das sich schlagartig und unter lautem Knallen wieder schließt. Ehrlich gesagt, hatte ich es mir ähnlich vorgestellt, halte jetzt aber dagegen. Das kann doch nicht sein, dass die verdrängte Luft die Lücke füllt und dabei knallt? Luft ist doch wie Watte. P. dreht sich zu uns und wartet auf eine Möglichkeit, sich auch noch einbringen. Er hat weitere Argumente für die Aufeinanderprall-These, ist sich seiner Sache ziemlich sicher. Es gelingt mir nicht, Widersprüche zwischen den Verfechtern zu provozieren, ich werde kleinlaut, bin kurz davor, auf die vorherrschende Position einzuschwenken. So richtig kann ich es ja auch nicht erklären.

Aber F., dessen erste, naive Erklärung verworfen wurde, will es jetzt genau wissen. Ich steh auf, hole den Laptop und befrage Wikipedia. Wie ich mir’s gedacht habe, die Luftmassen knallen nicht, weil sie wieder aufeinanderprallen, sondern weil sie – und da hatten A. und P. recht – sich durch die Erhitzung schlagartig ausdehnen. Das ist die Geräusch-Ursache. Der Knall, also der Donner kommt dadurch, dass der Blitz so schnell ist und sich die verketteten Schallquellen gegenseitig überholen, dabei eine Resonanz bilden und die Schallmauer durchbrechen. Das Geknister und Nachgeknatter kommt durch die Brechungen und Reflektionen der Töne. F. lässt sich das erklären und nickt. Das Interesse der anderen ist schon zu anderen Gesprächen weitergewandert.

Wir lernen: Etwas kann sich zwar, durch fremde Mächte gezwungen, abrupt ausdehnen, aber nicht abrupt, dabei aus eigener Kraft, wieder zusammenziehen. Das Fremde macht den Knall. Die leer laufende Gestaltungswut in deutschen Einfamilienhaus-Siedlungen, in denen keine Wildnis, keine Ruine, kein unbefriedigendes Provisorium mehr die von den Baumärkten angefeuerten Verbesserungsstürme auffangen können, in denen es nicht den wunderbaren, mit Fantasie und Erinnerung aufgeladenen Doppelkegel der Möglichkeiten aus Vergangenheit und Zukunft gibt, – diese Gestaltungswut wird sich nicht von alleine entladen, wie ich mir das probeweise ausgemalt habe, sondern durch eine von außen hinein fahrende Kraft.

Krieg? Das will keiner, nicht mal vorstellen. Was könnte sonst passieren, das die dringend benötigte schöpferische Zerstörung provoziert? Einfall vandalierender Kräfte? Ein Hunnensturm? Das wäre ja Krieg.

Oder hereinbrechende Knappheit und Armut: die Bäume müssen gefällt und verheizt werden, die Rasenfläche und die Rabatten werden in Gemüsebeete verwandelt. Im Gartenhaus wohnt das Schwein und der Carport ist längst im Ofen. Not relativiert die Bedürfnisse und macht erfinderisch.

Oder, bedingt vielleicht durch Weltereignisse, ein plötzlicher Umbruch im Wertesystem. Nicht aus Mangel, sondern aus Einsicht. Einsicht in den Mangel. Plötzlich entdeckt man die Gemeinschaftsgärten wieder, möchte sich lieber sehen statt abschotten, reißt die Hecken ab, um gemeinsame Fläche zum Grillen und Fußballspielen zu haben. Fantasie beflügelt. Und da gäb’s dann wieder ordentlich was zu tun.

Oder der Biss der Tarantella löst, wie Degenhardt das besungen hat, unbeherrschbare Nachbarschaftskämpfe aus: man verwüstet sich gegenseitig die Gartenparadiese und bricht die Wohnungen auf, aus Konkurrenz, aus lange zurück gestautem Neid, Rachsucht und einfach aus Lust an der Zerstörung. Aber die Tarantella, das sind die Leute selbst, und das wäre dann die selbst erregende Variante, die ich aus physikalischen Überlegungen ausgeschlossen habe.

Am nächsten Morgen gehen wir zum Bahnhof, um zu dem Ort zu fahren, an dem die Wanderung beginnen soll. Vorher hatten sich alle mit ihren Rucksäcken gewogen. Sie messen, rechnen, wiegen gerne, die Familie W. Wer hat den schwersten Rucksack? Das wird durch Subtraktionsverfahren auf der Hauswaage ermittelt: erst mit, dann ohne Rucksack wiegen. Als wir am Bahnhof ankommen und unser Blick auf ein großes, nostalgisch an einen Bahnhofsvorbau gemaltes Schild „Bahnhofswaage“ gelenkt wird, müssen wir an den Witz mit der Waage denken: Waage, Wiege, Woge – Das muss hier nicht erzählt werden.

Wieder die Lust am Raisonnieren. Warum ist was komisch, was ist überhaupt ein Witz, wodurch wird eine Aussage witzig? Es muss am Zusammenspiel von Inhalt, Form und Kontext liegen; der ist absichtsvoll gestört: Man wird unerwartet aus dem Kontext gekippt, kapiert plötzlich, dass die Sache anders gemeint ist. Thomas fällt ein, dass „Witz“ sich auf „Blitz“ reimt, merkwürdigerweise auch im Englischen: „joke“ und „stroke“. Mir fällt ein, und dann sag ich’s auch: „Der Witz ist eine Bedeutungsexplosion.“ Und Thomas: „Das Lachen ist dann der Donner.“

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2015/06/15/ein-lachen-wird-es-sein/

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