vonImma Luise Harms 23.10.2015

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Bis nach Seelow brauche ich 43 Minuten. Ich fahre über Ihlow und Reichenberg auf der Höhe, über Ringenwalde und dann runter ins Tal nach Karlsdorf, die Hauptstraße an der Kante zwischen Oderbruch und Höhe entlang durch Neuhardenberg, weiter durch die Straßendörfer Platkow und Gusow, wieder die Höhe hinauf in die Kreisstadt. Gut, wenn ich ein bisschen früher komme. Die Kreistagssitzung fängt um 17 Uhr an. Man ist hier ja immer so super-pünktlich. Außerdem, vielleicht treffe ich noch vor der Sitzung einen von den Grünen-Abgeordneten, mit denen ich telefoniert habe.

Vor dem Kreiskulturhaus stehen Männer in Anzügen, deren Bäuche sich unter den weißen Hemden wölben. Sie stehen in losen Gruppen, die sich ständig verschieben, weil jeder jedem die Hand schüttelt. Auch die, die wie ich über den Platz kommen, werden mit Handschlag in Empfang genommen. Muss ich das jetzt auch machen? Ich hab irgendwie das Gefühl, mich einzumogeln, gar nicht hierher zu gehören. Eigentlich bin ich ja Bürgerin mit Anliegen, denke ich und gehe auf geradem Weg durch die Formationen. Mein ganz privates Interesse, ein vor zwei Jahren angefangenes Kapitel abzuschließen, sieht man mir ja nicht an.

Unbehelligt trete ich durch die Glastüren in das Vestibül. Die Garderobe ist unbesetzt. Vor den leeren Haken hängt ein Schild: „Jacke 1,50“. Das liest sich so wie „Betreten verboten“. Im Vorübergehen denke ich, ob Mäntel wohl mehr kosten oder ob hier nur Leute mit Jacken kommen? Ich behalte meine Jacke an.

Proszenium

Im Treppenhaus steht der Landrat plaudernd mit zwei anderen Männern. Der Landrat ist jovial. „Ach, die Frau Harms. Was machen Sie denn hier?“, ruft er mir gönnerhaft entgegen. Wie jetzt vorbei kommen? Wie sich richtig verhalten? Wie schütteln? Ich strecke ihm meine Hand entgegen, die er ergreift. Ich verkneife mir irgendeinen Spruch, auch weil mir so schnell keiner einfällt. Ich schüttele dann noch die Hände der beiden nebenstehenden Männer, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlen, und gehe weiter. So macht man das.

Am Eingang des Sitzungssaales hat sich eine Traube gebildet. Kern ist der Tisch, an dem die Eintretenden registriert werden und Papiere in die Hand kriegen. Alle plaudern miteinander, machen Witzchen, stecken sich Neuigkeiten zu, zeigen sich informiert. Ich warte höflich hinter ihnen. Aber es bewegt sich nichts. Ich trete von der Saalseite aus an den Tisch und frage die Frau, die die Papiere bereithält, ob ich mich als Zuschauerin auch eintragen muss. Nein, nein, sagt sie und weist mir den Weg zu den Zuschauerstuhlreihen hinten im Saal.

Ich bewege mich durch die Reihen der Abgeordnetentische, die eigentlich eher wie Schülertische in drei Säulen im Raum verteilt sind. Ich lese die Schilder. Hier sitzen die Linken, in der Mitte die CDU, auf der Fensterseite ist die SPD, dahinter die Bauern. Die Grünen haben eine Sitzreihe mit drei Namensschildern hinter der CDU. Die Plätze sind noch leer. Die AfD muss auch irgendwo sein. Hinten sind auf Abstand stehen noch kurze Einzeltische. An einem sitzt der FDP-Abgeordnete. An so einem Einzel-Büßertisch hätte ich dann auch sitzen müssen, wenn ich vor zwei Jahren in den Kreistag gewählt worden wäre. Isoliert. Kein Abschreiben möglich. Nicht mal in Sichtachse zum Podium. Mit großer Anstrengung Kontakt zu den Grünen halten, wenigstens zu denen, indem ich Witzchen mache, mich informiert zeige, mich so breit wie möglich mache, nur um meinen Platz hier irgendwie zu verankern.

Im Gespräch

In einer Dreiergruppe erkenne ich den Rücken von Herrn A., Linken-Partei, erster Beigeordneter und zuständig für die Unterbringung der Asylsuchenden. Er ist wie alle im Gespräch. Wer nicht im Gespräch ist, jetzt, kurz vor Sitzungsbeginn, wer alleine rumsteht, ist wahrscheinlich politisch schon kalt gestellt, hat keinen Rückhalt, keine Lobby, kein Standing. Man muss jetzt im Gespräch sein, außer, wenn man noch ein wichtiges Telefonat zu erledigen hat. Ich stelle mich seitlich, so dass Herr A. mich sehen kann, ich ihn nicht unterbrechen, sondern nur seinen Blick auffangen muss, damit er weiß, dass ich was von ihm will. Leute, die mit einem Anliegen an Politiker herantreten, stören nicht, im Gegenteil. Politiker, die von Menschen mit einem Anliegen umringt sind, stehen kurz vor dem Aufstieg. Ob die Leute mit dem Anliegen wirklich ein Anliegen haben, ist eine andere Frage. Vielleicht wollen auch sie nur im Gespräch sein, oder sie brauchen Verbindungen, Empfehlungen, Steigbügel.

Ich nenne meinen Namen, erinnere Herrn A. daran, dass wir uns da und da schon mal begegnet sind. Natürlich schütteln wir uns die Hand, in dem Fall ich seine, die er mir als Zeichen eines jetzt für mich geöffneten Ohres hinhält. Ich stelle mich als Engagierte aus dem Willkommenskreis zum Bliesdorfer Flüchtlingsheim vor. Er wird aufmerksam; da ist er zuständig. Die Willkommenskreise sind wichtig. Ich sage, dass es große Probleme mit der Ausstattung und Versorgung im Heim gibt. Er nickt, da weiß er bescheid. Wir möchten ein Gespräch mit ihm, weil er ja die kontrollierende Behörde ist. Er willigt gerne ein, geht zu seinem Platz, holt seinen Terminkalender raus. Wir machen eine Verabredung für die nächste Woche, ich trage mir Zeit und Ort ein. Er sagt, der Betreiber des Heims hätte ja jetzt einen neuen Geschäftsführer, den Herrn B., von dem hätte er einen günstigen Eindruck. Ich kann mich nicht zurückhalten, ihm eine Neuigkeit zuzutragen, die ich selbst gerade erst erfahren habe: „Sie wissen aber schon, dass genau dieser Herr B. Mitglied in einer rechtslastigen Burschenschaft ist?“ A. weiß nicht, wie er auf die Information reagieren soll, sagt vage „Och, na ja.“ Und das müsse man ja erstmal sehen, wie der sich macht. Ich ärgere mich über meine plappernde Indiskretion.Auf dem Weg zurück zu meiner Zuschauerbankreihe kommen mir Zweifel. Habe ich die Zeit richtig eingetragen? Ich gehe nochmal zurück und bitte um Bestätigung der Uhrzeit; Herr A. ist schon wieder im Gespräch.

Ich setze mich in die Ecke am Fenster. In der Reihe hinter mir sehe ich ein, zwei Gesichter, die mir bekannt vorkommen, die ich aber nicht einordnen kann. Eine Frau kommt und begrüßt mich, es ist Kerstin N., die Leiterin des Kreiskulturhauses. Jedenfalls war sie das, als ich vor vier Jahren hier mal einen Auftritt hatte. Immerhin, eine kennt mich.

Neben mir sitzt ein frisch duftender junger Mann. Nicht ganz jung, vielleicht Ende Dreißig. Zwischen uns liegt nur seine wildlederne Aktentasche. Weil er so nah ist und seine Aufmerksamkeit in freudiger Erregung den ganzen Saal durchstreift, kann ich ihn in Ruhe mustern. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, gestreifte Krawatte, große Gestalt, dunkelhaarig, von Kopf bis Fuß eine glänzende Erscheinung: das runde, erwartungsvolle Gesicht glänzt und die schwarzen Schuhe glänzen. Es gibt keinerlei Abweichung vom Bild des erfolgreichen jungen Politikers. Was macht er hier auf der Zuschauerbank? Zwischendurch springt er auf und schüttelt jemandem die Hand. Auch einzelne Abgeordnete scheinen ihn zu kennen. Ein Lobbyist vielleicht? Ein wichtiger? In welcher Angelegenheit? Für welches Erzeugnis?

Eröffnung

Es klingelt. Vorne ist nicht das Lehrerpult, sondern das Podium des Kreistagsvorstandes. Frau B., die Kreistagsvorsitzende in violettem Kleid mit langer Perlenkette, streift mit ihrem Blick über die Abgeordnetenreihen. Neben ihr zur rechten ihr Stellvertreter, ein freundlicher älterer Herr in weißem Haar, auf der linken Seite der Landrat. Er hat sich über seinem kindlichen Mondgesicht eine imposante Haartolle wachsen lassen. Das sieht verwegen aus und stört auf angenehme Weise das Bild. Noch eins weiter sitzt die Vorsitzende der Wahlkommission, Frau F. Sie sieht aus, als sei sie im Pulverdampf der politischen Gefechte ergraut. Und sie strahlt die gleiche grimmige Entschossenheit aus wie Frau B., die jetzt zum dritten Mal geläutet hat.

Den Ablauf, der jetzt kommt, kenne ich aus dem Gemeinderat: Einladung, Protokoll, Tagesordnung, alles muss als ordnungsgemäß festgestellt, abgestimmt und genehmigt werden. Wird es hier aber nicht sofort. Einwand zur Tagesordnung. Die Bürgerfragestunde und die Fragen der Abgeordneten sollten doch vor die Beigeordneten-Wahl gezogen werden, weil die zu stellenden Fragen vielleicht einen Einfluss auf den Wahlvorgang haben könnten, argumentiert der Linken-Abgeordnete, der vors aufgestellte Mikrofon getreten ist. Er sieht ärgerlich aus, ärgerlicher, als es ein Einwand gegen die Tagesordnung rechtfertigt. Auch müde und mürrisch; ich erkenne ihn wieder: der Gegenkandidat der Linken für das Landratsamt. Als sein Abbild damals an den Laternenpfählen hing, dachte ich mir schon: Wenn der Landrat werden will, dürfte er aber nicht so verkniffen gucken! Jetzt hat er seine Bestimmung erreicht; als Oppositionsführer ist man natürlich von der Politik der regierenden Parteien permanent genervt. Und da passt das mit dem leidenden Gesichtsausdruck.

Die drei Grünen-Abgeordneten, die erst nach dem Läuten in den Saal geschlüpft sind, ziehen ihren Antrag zur Tagesordnung zurück; sie wollten das gleiche beantragen. Besser, wenn sich die anderen eine Abfuhr holen, und das tun sie. Gegenrede? fragt die Vorsitzende. Keine Regung im Saal. Wird nicht gewünscht. Sofort Abstimmung. Grüne Abstimmungskarten werden hochgehalten. 16 dafür, 20 dagegen. Abgelehnt.

Ich spüre eisige Geschäftsordnungskälte. Die Sache war vorher klar. Gar keine Chance auf Umstellung der Tagesordnung. Der Antrag auf Änderung war reine Formsache, um das politische Gesicht zu wahren, insofern schon vorher keiner Erwiderung bedürftig. Da hätte ich jetzt einen Kloß im Hals, wenn ich das beantragt und gut begründet hätte und einfach der Deckel drauf gemacht würde: Keine Mehrheit. Ende der Debatte.

Weiter in der Tagesordnung. Wahl der Beigeordneten B. aus Strausberg. Der Landrat hält eine Rede, um sie zu empfehlen. Was sind eigentlich Beigeordnete? frage ich mich. Beisitzer bei Gericht sind ziemlich bedeutungslos, das kann jeder. Flankierende Stütze für den, dem sie beigeordnet werden, so wie Ministranten, die den Priester einrahmen? Aber wozu dann Wahlreden, Wahlverfahren und der ganze Aufwand? Später erfahre ich, dass die Beigeordneten eine Art Kabinett auf Kreisebene bilden, sie leiten die einzelnen Arbeitsbereiche des Landkreises. Also schon Grund genug für eine Wahlrede.

Der Landrat empfiehlt Frau B., die Bauamtsleiterin aus Strausberg, mit kleinen Seitenhieben: „hartes Durchsetzungsvermögen, aber das haben Frauen in Leitungspositionen ja immer“. Der Landrat ist ein Chauvi, das ist bekannt. Den herablassenden Ton könnte sich eine Frau nicht leisten.

Frau B. stellt sich selbst auch noch einmal vor. Sie ist parteilos, war früher in der SED, was sie zugibt. In ihrer Freizeit macht sie Line-Dance in einem Countryclub, was sie empfiehlt. Sie wird mit 41 von 45 Stimmen gewählt. Aber bis wir das erfahren, dauert es. Vorher tritt die Wahlkommission in Erscheinung und übernimmt. Und das ist ein Spektakel, das an diesem Nachmittag noch öfter aufgeführt werden wird.

Wahlakt

Die Wahlkommission besteht aus Mitgliedern sämtlicher Parteien. Einer muss noch schnell nachbestellt und dann nachgewählt werden. Der Tagungsort der Kommission ist eine Etage höher, auf der Bühne hinter den Tischen des Kreistagsvorstandes. Der erhöhte Ort ist auf beiden Seiten von den herabfallenden Bahnen eines schweren Vorhangs eingerahmt. Sie geben dem Geschehen dort etwas Irreales, etwas Feierliches, aber gleichzeitig an den Machtspielen im Saal nur mittelbar Beteiligtes.

Auf der Bühne ist ein langer Tisch aufgebaut. Die Wahlkommission umringt ihn, ohne allerdings Platz zu nehmen. Vom Podium wird die Sitzungsleitung auf die Bühne übergeben, es ist wie der Einsatz aus dem Orchestergraben. Und damit ist dies keine Kreistagssitzung mehr, sondern ein Wahlverfahren.

Die Liste der Kreistagsabgeordneten wird vorgelesen, um die Anwesenheit und die amtliche Zahl der Wahlberechtigten festzustellen. Alle im Saal müssen „hier“ rufen, auch die Personen auf dem Podium und auf der Bühne selbst. Denn sie sind eben nicht nur Amtspersonen, sondern auch Abgeordnete.

Die Feststellung der Wahlberechtigten war der erste Akt. Der zweite ist die Ausgabe der Wahlscheine und die Wahl selbst. Links neben der Bühne steht das hölzerne Rednerpult. Es gehört in die Zwischenwelt, eine Art Proszenium zwischen Bühne und Orchestergraben, ein von beiden Seiten zu benutzendes Werkzeug der Öffentlichmachung. Hier steht jetzt die Wahlvorsitzende und verliest wiederum die Namen der Kreistagsabgeordneten. Die müssen einzeln aus ihren Sitzreihen heraustreten und zum rechten Kopfende des Podiums gehen. Dort wurde einem Mitglied der Wahlkommission ein Platz eingeräumt, zum Ausgeben der Wahlscheine und zur Entgegennahme der quittierenden Unterschrift.

Die Abgeordneten schreiten mit dem Zettel am Podium vorbei zu der Wahlkabine, ganz am linken Rand der Inszenierung. „Die Benutzung der Wahlkabine ist obligatorisch“, hatte Frau F. zu Beginn verlesen. Die Wahlkabine wird von einem Mitglied der Wahlkommission bewacht, ebenso die drei Schritte weiter stehende Wahlurne, die einer Wertstofftonne ohne Deckel ähnlich ist.

Nach einer Weile wird im Aufruf der Wahlberechtigten eine andere Tonart angestimmt; eine männliche Stimme hat übernommen. Die Leiterin selbst ist an der Reihe. Bis sie von der Bühne zur Wahlscheinausgabe, von dort am Podium entlang zur Wahlkabine, und an der Wahlurne vorbei wieder auf der Bühne ist, besorgt ihr Vertreter das Verlesen. Sobald sie zurück ist, übernimmt sie wieder. Das dauert ungefähr acht Abgeordneten-Aufrufe. Das zähle ich allerdings erst später mit.

Nun folgt der dritte Akt. Die Wahlurne wird nach Abschluss des Wahlvorgangs auf die Bühne getragen. Die Sitzungsleitung geht für kurze Zeit zurück an Frau B., die Kreistagsvorsitzende. Sie lässt durch Abstimmung feststellen, dass der Wahlvorgang ordnungsgemäß abgelaufen ist. Die Aufmerksamkeit wechselt wieder auf die Bühne. Dort wird der Wertstoff auf den Tisch entleert. Die leere Tonne wird dem Publikum zur Einsicht hingehalten.

Alle Wahlkommissionsmitglieder versammeln sich auf der Bühne. Diesmal nehmen sie am Tisch Platz. Die Zettel werden geschichtet, die Stimmen ausgezählt, die Köpfe zusammen gesteckt. Es wird etwas aufgeschrieben und unterzeichnet.

Die Wahlvorsitzende tritt an das Rednerpult. Sie verliest das Protokoll über das Wahlergebnis. Und erst jetzt erfahren wir, dass Frau B. aus Strausberg gewählte Beigeordnete ist. Sie bekommt einen Blumenstrauß und spricht Dankesworte. An ihrer Tätigkeit wird der Wahlakt wenig ändern, weil sie das Amt im Bauausschuss, für das sie jetzt gewählt und bestallt wurde, ohnehin schon lange ausübt.

Was für aufgeblasene Rituale, denke ich. Warum kann man nicht einfach per Handzeichen die Frau in ihrem Amt bestätigen und fertig? Und dann fällt mir ein, dass das hier, in diesem Kreiskulturhaus, wahrscheinlich noch vor 25 Jahren genauso gelaufen ist. Dass der Genosse XY mit Handzeichen auf den Posten gehievt wurde, auf dem die Partei ihn haben will. Und keiner hat sich getraut, die Hand nicht zu heben.

Zwischenakt

Jetzt gibt es erst mal eine Pause. Kartoffelsalat und Würstchen im Foyer, die 3,50 kosten. Im Treppenhaus treffe ich zwei der Grünen-Abgeordneten. Um der Betreibergesellschaft des Flüchtlingsheims in Bliesdorf auch auf diesem Weg Druck zu machen, hatte ich sie angerufen, weil die Grünen ja die einzige Daueropposition im Kreistag sind.

Während wir auf dem Treppenabsatz stehen, kommt der Lobbyist im dunklen Anzug die Treppe herunter, an seiner Hand ein vielleicht dreijähriges Kind, dessen andere Hand von einer Frau in blühender Verfassung und guter Hoffnung gehalten wird. Familie dabei? Das ist doch kein Lobbyist, aber auch kein Reserve-Hinterbänkler. Kurze Zeit später kommt er alleine zurück, diesmal kommt er auf uns zu, schüttelt uns allen die Hand, auch mir, die ich vorhin doch neben ihm gesessen habe und die er doch gar nicht kennt. Wahrscheinlich will er mich nicht übergehen.

Die beiden Grünen-Vertreter nehmen den Akt hin, ohne sich lange zu unterbrechen. Sie sind beim Thema, wie kann man aus dem Versagen der Verwaltung gegenüber einem pflichtvergessenen Heimbetreiber politisch Kapital schlagen. Mein Thema ist eher, wie kann man aus der politischen Konstellation im Kreistag Kapital für die Situation der Flüchtlinge in Bliesdorf schlagen. Ich versuche, mich und mein Anliegen interessant zu machen, indem ich zeige, dass ich Zugang zu skandalträchtigen Informationen habe. Der neue Geschäftsführer des Betreibers ist Mitglied in einer rechten Burschenschaft und deswegen in Berlin als Staatssekretär rausgeflogen, kolportiere ich noch einmal. Auch die Grünen-Abgeordneten zeigen keine große Erschütterung. B. pfeift mit einem süffisanten Grinsen leise durch die Zähne. Das merkt er sich, das wird man noch mal verwenden können! Im Moment aber nicht. Ja, sie haben eine Anfrage wegen Bliesdorf vorbereitet, aber sie kriegen ja keine Antworten! Wieder dieser mürrische Jammerton der übergangenen Opposition. Und außerdem, wer weiß, wann sie ihre Fragen noch mal stellen können, denn jetzt kommt erst noch der Wahlgang für den ersten Beigeordneten, und das kann dauern.

Nach der Pause zeigt sich, dass B.’s Wahl nur eine Art Probedurchlauf für das war, was jetzt folgt. Der erste Beigeordnete und stellvertretende Landrat wird neu gewählt. Denn Herr A., mit dem ich vorhin geredet hatte, ist von der Linken, und die ist nach der letzten Kreistagswahl, also der, in der ich nicht gewählt wurde, abgerutscht und raussortiert aus der Regierung. Ich muss zugeben, ich weiß noch nicht mal genau, ob wir in Märkisch Oderland eine SPD-CDU-Koalition haben oder eine SPD-Regierung mit Duldung durch die CDU. Nach der Wahl ist mein Interesse an Parteien, Stimmen und Konstellationen ziemlich bald von mir abgefallen.

Mehrheitsbeschaffungsakt

Der Landrat stellt sich an das Rednerpult und hält eine merkwürdig gebremste, eine widerstrebend wohlwollende Wahlrede für Johannes Friedemann Hanke. So heißt er, der Kandidat. Hanke ist von der CDU. Das ist wohl einer der Deals der neuen Regierungskonstellation, dass das Amt des Stellvertreters nach der Wahl an die CDU geht. Also muss der Landrat werben, auch wenn er nicht will. Johannes Friedemann Hanke ist mir nahe, er sitzt nämlich neben mir. Das ist er also, kein Lobbyist, kein Ersatzspieler – sondern ein Kandidat! Das erklärt vieles. Er steht auf und verbeugt sich, als sein Name genannt wird. Er geht nach vorn und stellt sich selbst noch einmal vor. Er hat alles gemacht, was man machen muss, um in die Pipeline zu kommen, die sich Karriere nennt – die richtigen Hochschulen besucht, weiterführende Funktionen ausgeübt, in der Kirche aktiv, selbst vor der Kriegsgräberfürsorge nicht zurück geschreckt, auch seine Familie vorgezeigt, die er jetzt noch einmal erwähnt. Und er hat einen Gönner – den Bundestagsabgeordneten von der Marwitz, dem er als persönlicher Referent dient und der hier und heute auch als Kreistagsabgeordneter von Märkisch Oderland in der CDU-Bank sitzt.

Hanke würde dann ja für die Flüchtlingsunterbringung zuständig sein. Ein Linken-Abgeordneter bittet ihn, dazu Stellung zu nehmen. Friedemann Hanke spricht das, was von ihm erwartet wird: Die große Herausforderung, das Verständnis für die Lage der geflüchteten Menschen und natürlich sein Abscheu vor dem Brandanschlag, der vor zwei Wochen auf Autos von Mitgliedern des Neuhardenberger Willkommenskreises verübt wurde. Der Linken-Abgeordnete fragt noch einmal nach: Wie denn nun unterbringen? Und wo? Und wie hätte er es angegangen? Hanke spürt eine Falle, das Terrain wird glitschig. Seine Antworten werden hastig, das Ende der Sätze brandenburgisch weggenuschelt. Ich höre, dass er das Bereithalten von Containern für den Notfall nicht verkehrt findet. Dass man sich rechtzeitig ausrüsten muss. Er bleibt allgemein. Der Landrat ist auf seinen Platz zurückgekehrt. Er lächelt still in seine gefalteten Hände. Zelt- und Container-Unterbringung gelten in seinem Machtbereich als Ausdruck administrativer Unfähigkeit.

Das Befragen wird beendet. Die Wortführerschaft geht an die Wahlkommission. Wieder alles rauf auf die Bühne. Wieder Namen verlesen und Anwesenheitsbestätigung. Wie denn? Die waren doch vorhin schon als anwesend festgestellt? Ja, aber es könnte inzwischen jemand weggegangen sein. Mir fällt ein, dass selbst in unserer ganz unwichtigen Gemeinderatssitzung im Protokoll festgehalten wird, wenn einer für zwei Minuten auf dem Klo ist.

Dann wieder der zweite Akt: Aufrufen, Wahlzettel nehmen, wählen. Dann der dritte Akt: Wahltonne leeren, Stimmen auszählen, Protokoll anfertigen, Protokoll verlesen.

Die im Pulverdampf Ergraute verliest: 21 Stimmen für Hanke, 23 dagegen, eine Enthaltung. Hah! Nicht gewählt! Sowieso hätte er die Mehrheit aller Abgeordneten gebraucht, nicht nur der anwesenden. Und das wären 29 Stimmen.

Ich freue mich, nicht nur, weil ich Hanke für einen aalglatten Karrierling halte, sondern auch weil ich politische Skandale bereichernd finde. Was machen sie jetzt? Woher nehmen sie einen neuen Kandidaten? Oder bleibt es dann der A.? Die Stimmung im Saal bleibt nüchtern, ergeben in die Regentschaft der Geschäftsordnung. Niemand wundert sich. Der zweite Wahlgang wird aufgerufen. Jetzt muss Hanke nur noch die einfache Mehrheit kriegen, also 23 Stimmen der 45 anwesenden Abgeordneten.

Wieder Regiewechsel auf die Bühne, wieder alle Namen verlesen; es hätte sich ja in den Minuten dazwischen jemand rausschleichen können. Wieder das Défilé der Stimmberechtigten. Wieder Auszählen. Ergebnis: 22 Stimmen für ihn, 22 Stimmen dagegen, 1 Enthaltung. Reicht nicht! Auch nicht für die einfache Mehrheit. Jetzt ist doch so etwas wie Betretenheit im Saal zu spüren. So eine Art Hüsteln und Rascheln. Die Wahlkommission tritt ab. Das Podium tuschelt. Die Kreistagsvorsitzende ordnet eine Pause von zehn Minuten an. Die Abgeordneten stehen in Gruppen. Die Hände sind in den Hosentaschen, in die Hüfte gestemmt oder über der Brust verschränkt. Keiner schüttelt.

Ich gehe in den Flur, nochmal nach den Grünen-Abgeordneten gucken, vielleicht Insider-Meinungen und Hintergrund-Informationen aufschnappen. Vom Flur führt eine Tür zum Fraktionsraum der SPD. Sie steht halb offen. Drinnen sehe ich den CDU-Abgeordneten von der Marwitz, halb verdeckt vom Rücken des Landrates. Dann wird die Tür zugemacht.

Nach der Pause wirbt der Landrat noch einmal für den Kandidaten, eigentlich aber ohne inhaltliche Begründung. Es klingt wie: Nun seid doch nicht so! Nun macht doch mal! Im dritten Wahlgang bekommt Johannes Friedemann Hanke schließlich 24 Stimmen. Bei 21 Gegenstimmen ist er damit gewählt. Der Landrat sagt: „Dann kommen Sie mal nach vorne!“ Und er sagt auch noch, dass er selbst erfahren hat, wie schwer das ist, nicht als Protegierter angesehen und politisch ernst genommen zu werden. Und sie würden sich schon zusammenraufen. Eine merkwürdige Laudatio.

Finale furioso

Hanke kriegt Blumen und sagt Zusammenarbeit zu. Die Fraktionsvorsitzenden treten an ihn heran und gratulieren ihm, jetzt wieder händeschüttelnd. Sie bilden dazu eine Reihe, in der sich auch der Grünen-Abgeordnete B. angestellt hat, der wahrscheinlich schon angefangen hat, belastende Informationen gegen den neuen CDU-Spitzenmann zu sammeln. Gratulationscour nennt man das – oder Gratulations-Kur, denn das wird ihm gut tun, nach dieser Hängepartie. Wenn ich in den Kreistag gewählt worden wäre, wäre ich eine Einzel-Abgeordnete und müsste mich hier jetzt auch anstellen, Hand schütteln, Format zeigen. Oder haben die Fraktionslosen keinen Anspruch auf Teilnahme am Handschüttelcorso? Oder würde ich das einfach nicht tun? Hätte ich das Rückgrat, mich unbeliebt zu machen, aus der Reihe zu tanzen? Nur da zu schütteln, wo ich das auch möchte? Nein, hätte ich nicht. Rollenverweigerung in den Inszenierungen wird hier nicht bekämpft, sondern per Geschäftsordnung flach gehalten oder als Peinlichkeit übergangen. Mit offenen Konflikten käme ich wohl eher klar als damit, einfach isoliert und ignoriert zu werden.

Drei Stunden sind vergangen. Ich will nach Hause. Aber die Sitzung hat noch gar nicht richtig angefangen, inhaltlich jedenfalls. Jetzt kommt endlich die Bürger-Fragestunde. Es meldet sich jemand, der eine Frage zur Streichung des Umbaus der Musikschule in Strausberg stellt. Es wird eine langatmige Beschwerde, die in ihrer Formulierung bereits ihre Vergeblichkeit vorwegnimmt. Frau B., die aufmerksame Vorsitzende, ermahnt, die Frageform einzuhalten. Den genauen Sachverhalt habe ich nicht mitgekriegt, weil ich selbst an einer Frage formuliere. Nach allem kommt mir die Rolle der fragenden Bürgerin sehr attraktiv vor. Der zuständige Referent gibt gelangweilt Auskunft zur Musikschule und bestätigt darin die vollkommene Aussichtslosigkeit des Bürgereinwandes.

Dann komm ich. Wer kontrolliert die Flüchtlingsunterkünfte? Wer ist für die Versäumnisse zuständig? Wonach werden die Betreiber ausgewählt? Herr A. wird als Zuständiger um Beantwortung der Frage gebeten. Er tritt vor das Saal-Mikrofon, dreht mir dabei den Rücken zu, spricht die für solche Fragen zurechtgelegten Antworten in den Saal. Sie gucken sich die Betreiber an, welche Erfahrungen sie haben, wie kompetent das Personal ist, usw. Auch A. klingt genervt. Mit dem hab ich’s mir jetzt verdorben, die Verabredung kann ich vergessen, wenn ich ihn hier öffentlich zur Rede stelle. Aber warum sagt er nicht, was er weiß und denkt? Die Linke ist jetzt in der Opposition, er ist abgewählt, nur noch bis zum Ende des Jahres überhaupt zuständig. Er ist kein junger Mensch mehr, der seiner Karriere schaden könnte. Also warum redet so jemand nicht mal Klartext? Aber nein: immer schön die Decke dichthalten, wer weiß, wozu es gut ist! Vielleicht ist sein Salbadern auch nur der Reflex von Berufspolitikern.

Ich bitte höflich um Nachfrage-Möglichkeit. Wird mir gewährt. Das Personal gibt es ja noch gar nicht, wenn ein Betreiber den Zuschlag für einen Unterkunft erhält. Wonach also dann zu beurteilen? Oder kann jeder, der will, ein Flüchtlingsheim aufmachen und die die dafür bestimmten Gelder abgreifen?

Der Landrat antwortet jetzt selbst vom Rednerpult herab, das unter ihm zur Kanzel wird. Er wird zum Notstandspolitiker, der zeigt, dass er die Lage im Griff hat. Mit mir wird die gesamte Medien-Öffentlichkeit abgekanzelt, die Bevölkerung, für die er sich verantwortlich fühlt, alle ignoranten Abgeordneten, die sich im Saal wegducken mögen, die Welt, die auf dieses Märkisch Oderland schaut. Was glauben wir denn, was sie zurzeit tun? Was sie für eine Aufgabe zu bewältigen haben? Er kennzeichnet die Lage mit ein paar rauen Strichen. Er nennt ein paar Zahlen. Er nennt Vorhaben. Er weist nochmal darauf hin, dass im Landkreis bisher niemand in Zelten oder in – Seitenblick zu Friedemann Hanke – Containern untergebracht werden musste. Und da komme ich mit so läppischen Fragen danach, wo das Geld für die Flüchtlinge in den Sümpfen privater Bereicherungsinteressen versickert? Sie haben weiß Gott andere Sorgen. Obwohl sie Missbrauch und Versagen natürlich im Blick haben, da passen sie schon auf!

Abtritt

Was ist eigentlich so schlimm an Containern, denke ich. Da sind immerhin Zimmer mit Betten drin. In den Hallen werden an die hundert Menschen auf Pritschen untergebracht. Sieht man aber von außen nicht. Geht es darum? Geht es um den Eindruck? Das frage ich aber nicht. Ich bin nicht mehr dran und das gehört nicht hierher. Da müsste ich schon pöbeln. Da müsste ich aus meiner Rolle als besorgte Bürgerin herausfallen, die vom Landrat immerhin mit Namen angesprochen wird, eine, mit der man Flurgespräche führt, der man die Hand schüttelt. Selbst das kleine bisschen lächerliche Bürgerinnen-Reputation zu riskieren, schaffe ich nicht, ich Feigling! Ich würde unter den Spielregeln dieses Hauses so was von zusammenbrechen! Und mich mit irgendwelchen politischen Mini-Intrigen über Wasser halten, selbstbewusstseinsmäßig. Nee, also nee.

Während die Vorsitzende in der Tagesordnung fortfährt, Vorlagennummern von Abgeordneten-Anfragen verliest und dann auf die Antworten verweist, ebenfalls durch Verlesen der Nummer der entsprechenden Vorlage, ohne dass ich die geringste Ahnung habe, um welchen Inhalt es sich handelt, nehme ich Jacke und Handtasche und verlasse den Saal, verlasse das Gebäude, verlasse die Kreisstadt. Der Weg zurück nach Reichenow scheint irgendwie kürzer als der Hinweg.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2015/10/23/haendeschuetteln-im-kreistag/

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