11.09.2019 | Dienstag | FUTURZWEI Nr. 6
Die Politik muss Angst kriegen
Heinrich Strößenreuther hat alles anders gemacht als die etablierten Umweltverbände und -parteien. Wie hat er das Fahrradgesetz in Berlin genau hingekriegt und was kann man davon lernen?
Niemand nennt Heinrich Strößenreuther »sympathisch«, jedenfalls nicht als Erstes. Er überziehe, wird gern gesagt, sei zu hart, zu aggressiv, zu pietätlos, zu kompromisslos, zu feldherrnhaft. Man hätte es gern etwas weicher.
Aber Strößenreuther, 50, hält es für essenziell, dass verantwortliche Politiker mehr Angst vor den Fahrradfahrern haben als vor der Autolobby. Daran hat er gearbeitet und mit dieser Strategie hat er etwas Wegweisendes geschafft: die Dominanz der autozentrierten Verkehrspolitik in deutschen Städten geknackt und den Aufbruch in die radgerechte Stadt eingeleitet, und zwar jenseits des bisherigen uninspirierten Minimalprogramms. Am 29. Juni dieses Jahres verabschiedete das Berliner Abgeordnetenhaus das erste Radgesetz Deutschlands, das zwar unter dem Namen Mobilitätsgesetz firmiert, im Kern aber die fahrradgerechte Stadt anstrebt. Optimistisch betrachtet, bedeutet es einen Qualitätssprung in Sachen Infrastruktur, deren Finanzierung sowie deren Verankerung in der Verwaltung und die Absicherung einer Strategie des kontinuierlichen Ausbaus. Zum ersten Mal könnte die Verkehrsplanung in einer deutschen Großstadt ernsthaft das Auto zurückdrängen. Ein Grund zum Feiern für die Umweltverbände, den ADFC, den VCD und für alle, die sich sonst noch in Deutschland seit Jahrzehnten engagiert für eine Verkehrswende einsetzen?
Leider ist das Gegenteil wahr. Das Berliner Radgesetz ist für die Verbände ein Grund, in Zukunftsklausur zu gehen. Es offenbart die Schwächen der Umweltbewegung und die Niederlagen des letzten Jahrzehnts.
Dass sich in Deutschland in Sachen Verkehrswende so wenig tut, hat auch mit deren unzureichenden Strategien zu tun. Dieses Radgesetz ist nicht gekommen, weil die politische Lobbystrategie der wichtigsten Verbände aufgegangen wäre. Die Verbände haben sogar lange gebraucht, um geschlossen hinter der Berliner Initiative Volksentscheid Fahrrad zu stehen. Und wie die Berliner Grünen sich am Ende dafür abfeierten, hatte schon etwas Befremdliches.
Möglich wurde der Durchbruch nur durch den Ostfriesen Strößenreuther und seine kleine, aber hocheffiziente Gruppe sehr engagierter und professioneller Mitstreiter. Die etablierten Akteure, wie der Berliner ADFC, haderten lange Zeit mit dem Außenseiter Strößenreuther und der kämpferischen und konfrontativen Strategie, die er verfolgte. Viele haben offenbar in all den Jahren des schwierigen Klein-Kleins um die Ausstattung einzelner Radwege verlernt, die Dinge groß zu denken und entsprechende politische Strategien zu entwickeln.
Gerade der jahrzehntelange Stillstand der Verkehrswende steht beispielhaft für eine generelle Entwicklung in Deutschland. Die deutsche Umweltbewegung ist im europäischen Vergleich gut ausgestattet mit Geld, Personal und gesellschaftlicher Unterstützung. Aber sie hat bei ehrlicher Analyse in wesentlichen Feldern (Verkehr, Landwirtschaft, Kohle) im letzten Jahrzehnt wenig erreicht. Der Stillstand in der Klimapolitik ist die dramatischste Niederlage der Ökos. Wenn das Verfehlen der vierzig Prozent CO2-Reduktion bis 2020 um vermutlich satte acht Prozentpunkte nicht der sofortige Anlass ist, die bisherigen Strategien als gescheitert zu akzeptieren und neue zu finden, dann ist alles zu spät.
Was ging im Verkehr schief? Seit dreißig Jahren setzen sich die Verbände für die Verkehrswende ein, also weniger Autos, Verkehrsberuhigung, mehr Fahrrad und öffentlicher Nahverkehr. Im direkten Vergleich mit progressiven Ländern wie Dänemark, den Niederlanden oder der Schweiz wurde vor allem im Bereich der Zurückdrängung des Autos in den Städten sehr wenig erreicht. Auch wenn aktuell die juristische Strategie der Deutschen Umwelthilfe erfolgreich ist: Sie zwingt einzelne Städte letztlich zu nichts mehr, lediglich zur bloßen Einhaltung von Gesetzen. Gerade das Dieseldesaster der deutschen Autoindustrie zeigt auch das Desaster derjenigen, die im letzten Jahrzehnt Umweltinteressen vertreten haben.
Die Berliner Mobilitätsforscher Weert Canzler und Andreas Knie haben in ihrem jüngsten Buch Taumelnde Giganten beschrieben, welche drei Voraussetzungen zur Verkehrswende fehlen:
1. die attraktive Alternative zur Ideologie des Autos als Krone des privaten Glücks, die bis heute von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt wird
2. eine professionelle Alternative zur autozentrierten Planung in der Verkehrsverwaltung, die vom Bundesverkehrswegeplan bis zur kommunalen Verkehrsplanung reicht
3. die notwendigen politischen Mehrheiten in Parlamenten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, um die herrschende Autokratie zu brechen und alternative Investitionen und Richtungsentscheidungen zu verabschieden
Die Initiative Volksentscheid Fahrrad hat sich an genau diesen drei Punkten abgearbeitet. Sie schaffte es durch teils spielerische, teils provozierende Aktionen wie Mahnwachen für tote Radfahrer Gefühle dafür zu schaffen, dass Autos eben nicht nur persönliches Glück bedeuten, sondern auch Belästigung, Krankheit und Tod. Entscheidend war, dass viele Medien diese Kommunikation aufgriffen. Fahrradschnellwege als neue Form des Glücks – das sprach Leute an. Und zwar als großer Wurf: Hatten sich die Fahrradlobbyisten bisher für die Ausbesserung der lausigen Infrastruktur eingesetzt, ging es jetzt um die gesetzliche Verpflichtung zum Bau von hundert Kilometern Radschnellwege.
Allerdings sind große Ziele schnell formuliert. Viel schwieriger ist die konkrete Umsetzung in wasserdichte Gesetze. Deshalb war es so innovativ, dass Strößenreuthers Initiative die konkrete Gesetzesvorbereitung effizient und sachkundig organisierte, die im Rahmen des Volksbegehrens vorgesehen ist. Mit eigenen Experten schaffte die Initiative in kurzer Zeit die Ausarbeitung eines umfassenden Radgesetzes. Auch wenn die Verwaltung das Gesetz später in weiten Teilen neu verfasste, verstärkte das die Akzeptanz als professioneller Akteur und Verhandlungspartner der Politik.
Damit verknüpft war die Drohung einer gesellschaftlichen Mehrheit. Einerseits ein Schock für die Politik, andererseits aber auch eine Chance, um auf dieser Basis agieren zu können. Die mehr als hunderttausend Unterschriften als Vorbereitung eines Volksentscheids hatten die politische Landschaft tatsächlich verändert und dynamisiert. Radpolitik wurde ein Thema des Abgeordnetenhaus-Wahlkampfs 2016. Die Wahrnehmung der Politik wurde damit komplett gedreht. Hatten zuvor weder die Grünen noch die Umweltverbände an einen ernsthaften Bürgerbedarf für eine konsequente Radpolitik geglaubt, war plötzlich klar, dass in Berlin tatsächlich Mehrheiten jenseits der bisherigen Vorstellung möglich waren. Glück gehörte auch dazu, dass mit Rot-Rot-Grün jene Koalition zustande kam, die sich mit Blick auf die eigene Klientel verpflichtet sah, die fahrradgerechte Stadt ohne Volksentscheid nach der Wahl tatsächlich anzugehen.
Damit hat eine kleine Initiative etwas geschafft, was der großen Umweltbewegung nie gelang: die Ideologie des Auto-Glücks zu dementieren.
Sicher, einige urbane Milieus, darunter viele junge Leute, haben das Interesse am eigenen Auto verloren. Das wird als Mantra bei jeder Ökoversammlung beschworen. Das ist aber alles andere als ein Massentrend. Die Zahl der Neuwagen erreichte 2017 mit über drei Millionen einen neuen Rekord. Über neunundneuzig Prozent davon sind Benziner oder Diesel.
In Brüssel setzt sich die Bundesregierung für eine Zukunft von Diesel- und Benzinmotoren ein, ohne dass es in Deutschland größere Teile der Gesellschaft kratzt. Doch wenn 2030 noch die Mehrzahl der Zulassungen Verbrennungsmotoren sind, kann man die Klimaziele im Verkehr komplett vergessen. Dann scheitert das Pariser Klimaabkommen bereits am europäischen Autoverkehr.
Der Ruf nach einer Welt mit viel weniger Autos, so schön er klingen mag und so richtig er theoretisch sein mag, ist aber angesichts der steigenden Zulassungszahlen auch eine fatale Strategie. Die Frage ist: Was bringt wirklich was? Und die Antwort lautet: weniger Autos ja, aber vor allem weniger Verbrenner und damit viel mehr Autos, die mit erneuerbaren Energien fahren. Für viele auf dem Land ist das Elektroauto absolut anschlussfähig, an ihren Bedarf, an ihre Garage, in der sie laden, und an ihren Strom vom eigenen Dach.
Während in anderen Ländern NGOs erfolgreiche Kampagnen machen, haben die deutschen Verbände das Ende des Verbrenners nicht mal als wichtige Priorität formuliert. Beim ökologischen Verkehrsclub VCD fand man das bis vor Kurzem noch zu radikal. Auf der anderen Seite scheuen sich viele Umweltaktivisten, das Elektroauto gut zu finden oder gar zu fordern. In Ausrufesätzen und den immer gleichen Leserbriefen donnert diese Spezies gern, dass man gefälligst gar kein Auto fahren, sondern den ÖPNV ausbauen solle. Grundsätzlich sicher richtig, aber faktisch Realitätsverweigerung. Die Entscheidung im richtigen Leben der überwiegenden Mehrheit wird nicht zwischen Auto oder kein Auto fallen, sondern lautet: Was für ein Antrieb? Die Halbherzigkeit der angeblichen Ökos gegenüber E-Mobilität droht dazu zu führen, dass bis 2030 weiterhin massiv Verbrennungsmotoren verkauft werden.
Beispiel VCD: Der hatte jahrelang eine sogenannte Umweltliste veröffentlicht. Aus heutiger Sicht absurd, da die Kaufempfehlungen auf völlig unrealistischen CO2-Angaben der Hersteller beruhten. Elektrisch fahren gehörte noch bis vor Kurzem nicht zum Beratungsprogramm. Wer ein Elektroauto sucht oder besitzt, informiert sich sicher nicht beim VCD. Auch hat weder BUND oder Greenpeace noch ein anderer Verband eine Kampagne, die kulturell und emotional das Ende des Verbrennungsmotors thematisiert und befördert.
Was es auch nicht gibt: professionelle Szenarien zum Ausstieg aus dem fossilen Verkehr, die auch breit diskutiert werden. Greenpeace hat Studien vorgestellt, allerdings haben die Verbände es nicht geschafft, deutlich zu machen, dass ein Zulassungsende bis 2030 tatsächlich machbar ist. Ganz zu schweigen von den politischen Mehrheiten. Winfried Kretschmann ist hier ein interessanter Fall: Selbst dem grünen Ministerpräsidenten fehlt die Fantasie dafür, dass man den für den Klimaschutz essenziellen Technologiewandel als elektrisches Glück und industriepolitische Notwendigkeit verkaufen kann und dafür politisch nicht bestraft wird. Tatsächlich hat er vielleicht sogar recht mit seiner Skepsis. Die deutsche Umweltbewegung hat sich bisher zu wenig darum gekümmert, das gesellschaftliche Klima dafür zu bereiten.
Das ist die Leistung von Heinrich Strößenreuther und seiner Fahrrad-Initiative: den Ort gefunden und so hart und effizient bearbeitet zu haben, an dem ein zentraler Bereich der sozialökologischen Wende nicht mit Moral, sondern mit den Emotionen des gelebten Lebens so verknüpft werden kann, dass daraus politische Dynamik entsteht. Zu sehen, dass es wirklich geht, das hat Radentscheide in vielen anderen deutschen Städten angestoßen.
Martin Unfried
Martin Unfried ist Dozent am Europäischen Institut für Öffentliche Verwaltung im niederländischen Maastricht und Autor mehrerer Kolumnen, darunter der „Ökosex“-Kolumne auf den Blogseiten der taz. Seit zwei Jahren ist er auch an der Universität Maastricht am Institut für grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Mobilität ITEM tätig
(Foto: Wikimedia Commons: User MOLGREEN)
Vorwort des Herausgebers:
In der letzten Ausgabe haben wir die klassischen Ökobewegungen kritisiert. Der Vorwurf: Zu wenig erreicht, zu sehr Teil des politischen Gesamtbetriebes. Einige reagierten beleidigt, andere sind hellhörig geworden. Eine Kritik nehmen wir selbst komplett an: Das Titelthema »Das Öko-Update« war zu wenig lösungsorientiert. So geht’s, lautet das Motto. Konkret: Wie hat Heinrich Strößenreuther es so schnell hingekriegt, dass in Berlin ein Fahrradgesetz kommt, und was hat er anders und besser gemacht als die etablierten Umweltverbände und -parteien?
Das Öko-Update:
Fahrradstadt – so geht’s:
* Umwelt- und Klimaschutz befreien von Fragen nach
Umweltbewusstsein und moralisch richtigem individuellem
Handeln. Schwerpunkt setzen auf Gesetzesänderungen
und Investitionen.
*Klimaschutz mit den gelebten Emotionen einer relevanten
Anzahl von Leuten verknüpfen. Selbst wenn
es denen beim Fahrradfahren gar nicht darum geht:
Das Fahrrad ist systemrelevant für den Klimaschutz und
emotional aufgeladen, das kann man nutzen.
* Kein Öko-Klein-Klein, sondern ein attraktives und anschlussfähiges
Großprojekt als erforderlichen Zielzustand
entwerfen: Die Fahrradstadt ist heute anschlussfähig,
Radschnellwege haben Appeal, Verkehrssicherheit
ist Familienthema.
* Den Kern des Konflikts herausarbeiten und dann
permanent bespielen, hier: den Flächenkonflikt
zwischen Autofahrern, die Fläche haben, und Fahrradfahrern,
die sie haben wollen.
* Straffe Organisation, knallharter Plan und klares
Zeitfenster.
* Scharfes Profil, viel schärfer als Umweltverbände das
qua Größe zu tun können glauben.
* Strategisches Denken, wie beim Schach, mit der
Bereitschaft, einen Gegner zu personalisieren und
notfalls auch fertigzumachen (unschön, ja, aber hilft).
* Die Politik nicht nur mit Pressemitteilungen oder
moralisch bespielen, sondern eine Mehrheit organisieren
– per Volksentscheid –, auf deren Grundlage die
Politik tätig werden kann.
* Hausaufgabe bis zum nächsten Mal: Eine radikale,
attraktive und anschlussfähige Elektrostrategie mit
E-Auto und E-Bike entwickeln. Wir sind gespannt.
futurzwei [ät] leserbriefe.de
11.09.2018 | Dienstag | FUTURZWEI Nr. 6 | Seite 48 | taz.futurzwei.org | Magazin für Politik und Zukunft | Titelthema: JETZT NEU: DIE JUGEND | Martin Unfried: Die Politik muss Angst kriegen | Heinrich Strößenreuther hat alles anders gemacht als die etablierten Umweltverbände und -parteien. Wie hat er das Fahrradgesetz in Berlin genau hingekriegt und was kann man davon lernen? | Bio: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Unfried
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https://oekotainment.eu/archiv/html/die-politik-muss-angst-kriegen/
https://oekotainment.eu/20180911a/
https://oekotainment.eu/userspace/EXT/oekosex/archiv/pdf/20180911futur2-politik–die-politik-muss-angst-kriegen.pdf