Der Bär flattert in nördlicher Richtung.
Volker Weidermann schrieb gestern in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, über den soeben erschienenen ersten Roman von Jean Améry, ›Die Schiffbrüchigen‹ unter anderem: »Und im Leben, 1976 kurz nachdem er sein Buch über den Selbstmord veröffentlicht hatte, hat er auf die Frage eines Journalisten, warum er sich nicht einfach umbringe, statt gelehrte Bücher darüber zu schreiben, geantwortet: ›Nur Geduld.‹ Zwei Jahre später hat er sich, bei einem seiner wenigen Ausflüge zurück in die Heimat, in einem Salzburger Hotel das Leben genommen.« In dieser Passage stimmt eine wesentliche Aussage nicht: Es war nicht Christian Schultz-Gerstein, der Jean Améry die Frage stellte, warum er sich eigentlich nicht umgebracht habe. Diese Frage stellte vielmehr ein Student, den Jean Améry zitierte.
Es geht uns nicht um Wortklauberei. Aber wer das Buch ›Der Doppelkopf. Nach einem Gespräch mit Jean Améry‹ (März Verlag, 1979) gelesen hat, weiß, daß Christian Schultz-Gerstein eine solch plumpe Frage nie gestellt hätte. Wir bringen hier die Eingangsspitze und die Schlußsätze des Interviews:
Das Gespräch mit Améry hatte in einem Brüsseler Luxushotel stattgefunden, in das er für eine Zeit umgezogen war, weil er die seit Wochen in seiner Wohnung sich stauende Hitze nicht länger aushalten wollte. Da redeten wir also im vollklimatisierten Komfort über den Selbstmord, zwischendurch brachte der Zimmerkellner eisgekühltes Mineralwasser und Améry erzählte dann, ohne sich unterbrochen gefühlt zu haben, weiter von KZ und Tortur.
Jean Améry. Foto: Lutz Möhring
Gerstein: Was sind aber dann Ihre Gedanken über den Freitod? Ist das die letzte Stufe der Aufklärung, falls man mal Aufklärung als den Versuch versteht, die fehlerhafte Schöpfung rückgängig zu machen?
Gerstein: Oder sind Ihre Freitod-Gedanken …
Améry: … der Anfang der Gegenaufklärung?
Gerstein: Nein.
Améry: Sondern?
Gerstein: Gegenaufklärung wollte ich tatsächlich nicht sagen. Aber irgend etwas, was mir auch nicht ganz geheuer ist, also nicht geheuer in dem Sinne, daß es sich meiner Logik, meiner Erkenntnis, meiner Erfahrung und vielleicht auch meiner Verständnisbereitschaft entzieht. Vielleicht halte ich ihren Gedankenflug hinweg über die konkrete Gesellschaft für Mystik. Und andererseits ist dann aber auch wieder meinem, ja auch meinem politischen Gemütsleben ganz nahe, wie Sie die Faust gegen das Ganze, Sie nennen es die Schöpfung, ballen. Ich bleibe also jetzt einfach mal bei der Frage: Ist es die letzte Stufe der Aufklärung, das Menschenrecht auf den Freitod zu proklamieren?
Schultz-Gerstein. Foto: Karola Kraesze
Améry: Für mich als alten Aufklärer, der sein ganzes Leben lang im Zeichen der Aufklärung gelebt und gedacht hat, für mich ist es die mir erreichbare, also ich sage, die mir erreichbare letzte Stufe der Aufklärung.
Gerstein: Eine Frage, die sich auch blöd anhört, aber: Was kann man nach so einem Buch eigentlich noch schreiben?
Améry: Das ist keine blöde Frage. Jetzt will ich Ihnen etwas sagen, das sollten Sie nicht schreiben: Eigentlich sollte ich nichts mehr schreiben. Da ich nun aber weiterlebe und nicht sicher bin, ob und wann ich die Courage zu einem weiteren Suizid-Versuch aufbringe, tue ich das, was mein Metier ist und schreibe und versuche, wissend, daß dieses Buch eigentlich das letzte Wort sein sollte, da und dort noch irgend etwas zu schreiben. Ich habe im Augenblick ein literarisches Projekt, das auch sehr viel mit dem Tod zu tun hat. Also mir hat neulich ein Student gesagt: Warum haben Sie dieses Buch über den Freitod geschrieben und warum haben Sie sich eigentlich nicht umgebracht? Ich habe ihm dann gesagt: Nur Geduld.
Gerstein: Was für ein literarisches Projekt haben Sie da vor?
Améry: Ach, ich möchte gerne … Ich weiß nicht, ob Sie den Roman ›Madame Bovary‹ kennen. Also ich möchte gerne die Geschichte des Charles Bovary schreiben, des Mannes, der in diesem Buch schrecklich schlecht wegkommt. Und die ganze Geschichte von diesem dort als dummen Spießer hingestellten Menschen mir anschauen.
Gerstein: Sie haben ja mit der deutschen Öffentlichkeit, was jetzt Ihre Bücher angeht, sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Gab es zu diesem Freitodbuch schon Reaktionen? Oder haben Sie eine Vorstellung, wie man darauf reagieren wird? Das ist die eine Frage. Und die andere: Was erschiene Ihnen als die angemessenste Reaktion?
Améry: Was ich erwarte, sind heftige Angriffe von fast allen Seiten, von christlicher Seite sowieso, von Psychologen natürlich, von Marxisten, daß diese Probleme sich in einer gerechteren Gesellschaft gar nicht mehr stellen würden. Ich glaube zwar, aber bitte schreiben Sie das nicht, ich glaub’ zwar, daß sich dieses Buch gut verkaufen wird, ja. Aber ich glaube auch, daß es höchst unfreundlich, nein, nicht unfreundlich, mit Empörung aufgenommen wird. Die angemessene Reaktion? Schwer zu sagen. Das ist schwer zu sagen. Es gibt keinen Menschen, der sich nicht freuen würde, wenn etwas freundlich aufgenommen wird.
Zwei weitere Blogs über Christian Schultz-Gerstein:
Augstein und Schultz-Gerstein (1) und (2)
(VW / CSG / JA / BK / JS)