vonErnst Volland 22.04.2009

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

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Es werde Licht

Seit vier Wochen wartet Anatoly auf einen Platz im zentralen Krankenhaus in Moskau. Die Operation an einem seiner Augen ist nicht schwierig, viel schwieriger ist es, kurzfristig ein Bett im Krankenhaus zu bekommen. Als Dokumentarfilmer ist er mehr als andere auf seine beiden Augen angewiesen. Die Produktion seines neuesten Filmes muss auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Endlich wird ein Platz im Krankenhaus frei. Sein Frau Tamara packt frische Wäsche für vier Tage in einen kleinen Koffer und legt ein Marzipanbrot zwischen Bademantel und Unterhemd, eine Überraschung für den kranken Mann. Die drei Tage Wartezeit im Krankenhaus sind nicht sehr angenehm. Draußen ist es bitterkalt und er möchte nicht spazieren gehen. Mit seinem schlechten Auge kann er jetzt die Bücher nicht lesen, die er im letzten halben Jahr gekauft hatte und wegen der zeitraubenden Arbeit an seinem Film nicht berührte. Die Patienten schlurfen wie Blinde durch die Flure oder sitzen vor dem TV Gerät im Gemeinschaftsraum. Sehen kann kaum einer von ihnen, nur hören. Aber das schon alte Gerät wärmt sie wie ein Kaminfeuer und vermittelt ihnen eine Vorstellung vom eigenen zu Hause. Auch in russischen Haushalten liest man nicht mehr, man schaut vielmehr nur noch auf den Fernsehapparat. Anatoly ist eine Ausnahme. Er kauft auch Bücher. Endlich bekommt er von der Krankenschwester das Zeichen, dass seine OP am nächsten Morgen ist und er schon um sieben Uhr an der Reihe ist. In der Nacht kommt er durch das Husten seines Bettnachbarn nicht in den Schlaf. Er wacht sehr früh mit der Vorstellung auf, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Sein Bett wird in einen Vorraum des OP geschoben, wieder muss er eine halbe Stunde warten. Dann fordern ihn zwei vermummte Schwestern auf, sich auf den OP Tisch zu legen. Sie markieren sein zu operierendes Auge mit einem dunklen Filzstift und setzen auf die Markierung ein zylindriges Metallgerät. Der Rest des Kopfes wird durch ein grünes Tuch abgedeckt, so dass nur der der Zylinderaufsatz zu sehen ist. Mehrere kleine Schläuche verbinden seinen Körper mit verschiedenen Geräten, die Blutdruck und Atmung kontrollieren. Er meint im Nirgendwo zu sein. Sein gesundes Auge erkennt nur ein schwaches diffuses Licht. Die OP-Schestern unterhalten sich über eine Fernsehserie, deren letzte Folge sie gestern im Abendprogramm gesehen hatten. Sie warten auf den operierenden Arzt. Eine der beiden Schwestern spricht jetzt über die Schwierigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören. Der Arzt betritt den OP Saal, grüßt kurz, nennt Anatoly beim Namen, tätschelt seine Hand und sagt.

„Jetzt kann es losgehen.“

In diesem Augenblick wird es dunkel im Saal, vollständig dunkel. Keiner spricht ein Wort. Der Arzt durchbricht die Stille.

„Wer hat? Was ist, wo sind Sie?“

Er meint mit diesen Fragen seine beiden OP- Schwestern. Diese sagen nichts. Anataloy liegt still unter dem grünen Tuch und murmelt.

„Ich kann nichts mehr sehen, ich kann nichts mehr sehen.“

„Wir können auch nichts sehen „ erwidert der Arzt.

„Ich sehe überhaupt nichts, was ist hier los? Hat denn keiner ein

Taschenlampe oder eine Kerze?“

Anatoly denkt unter dem Tuch jetzt an seine Familie, an einen Tag am Lagerfeuer, an das Holz, das sie gemeinsam gesucht haben und an die Lieder, die sie gesungen haben. Irgendjemand streift an seinen Körper, berührt ihn, unabsichtlich. Eine der OP Schestern hat die Tür erreicht, öffnet diese, es bleibt dunkel. Anatoly schiebt die Halterung des zylindrischen Gerätes von seinem Auge, entfernt das grüne Tuch und versucht aufzustehen. Er stößt mit dem Arzt zusammen.

„Funktioniert denn in diesem Land überhaupt nichts mehr?“ fragt der Arzt. „ Sie können nach Hause gehen. Die Elektrik ist ausgefallen, gehen Sie. Schwester Lara, helfen Sie dem Mann, Jesus Christ.“

Die Schwester ruft nach seinem Namen und beide tasten sich aus dem OP Saal ins Krankenzimmer. Anatoly findet seinen Koffer, verstaut die Wäsche und schleicht aus dem Krankenhaus, das noch immer vollständig im Dunklen liegt. Zu Hause angekommen, fragt ihn seine Frau wie die Operation war und wer ihm die schwarze Markierung um das Auge gemalt habe. Er sagt nichts und starrt stundenlang in die Tischlampe, die vor ihm steht.

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https://blogs.taz.de/vollandsblog/2009/04/22/es_werde_licht/

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kommentare

  • Ostern – vergeblich!

    Egal, ob katholisch, orthodox… !
    (Pardon: Sonst feiert ja keine Sekte oder Kirche das alles klärende Lichtfest der Auferstehung!)

    Aber:
    Aus simpler Mitmenschlichkeit bedanke ich mich für die wahre Geschichte! (Und verzichte auf Parodieversuche zu Genesis 1,3!)

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