vonErnst Volland 09.05.2014

Vollands Blog

Normalerweise zeichnet, schneidet, klebt Ernst Volland, oder macht Bücher. Hier erzählt er Geschichten.

Mehr über diesen Blog

Sieger

Im „Presse und Bild“ Shop, Bahnhof Friedrichstraße.
Die FAZ liegt neben der ‘Welt’. Beide Zeitungen haben auf der Titelseite das gleiche Foto.
Unter dem Foto steht:
‘Zurückerobert: Ukrainische Soldaten besetzen eine Straßensperre nahe Slawansk, die von Separatisten errichtet worden war.’
Der Blick des Fotografen fällt zwischen zwei Helme auf ausruhende Soldaten.
Ein Foto ist nie Realität, wir nehmen es als Realität war. Auch wenn zwei und mehr Zeitungen das gleiche Foto so exponieren, bleibt die Wahrnehmung unverändert. Wir sehen ein gedrucktes Foto und sind mit unserer Phantasie allein.
Vor ein paar Tagen machte die FAZ mit der Schlagzeile auf „Russland will den dritten Weltkrieg anzetteln.“ Direkt darüber ein buntes Foto mit Nonnen in weiß, ein Foto mit einem heiligenscheinumkränzten Papst Johannes Paul II., also Wojtila, betrachtend.
Ich nehme ein Exemplar der FAZ und gehe an die Kasse. Die Dame hinter der Kasse lächelt freundlich, blaues Firmen T-shirt, ca 55 Jahre alt.
„Ich bin Putinversteher, Sie auch?, sage ich und lege einen 10 Euroschein genau auf das Foto der Titelseite.
„Warum soll ick Putin verstehen, muss ick nisch.“
„Sind Sie Obamaversteher?“
„Ick muss Putin nicht verstehen, nee.“
Das Wechselgeld liegt auf dem Foto mit den ukrainischen Soldaten, 7 Euro 50.
„Danke und auf Wiedersehen.“
Eine Treppe tiefer hält die U-6. Am Halleschen Ufer steige ich aus und
erinnere mich, wie ich vor fast zwanzig Jahren den russischen Fotografen Jewgeni Chaldej
am jetzigen Franz Mehring Platz fotografierte. Ein Originalfoto in seiner Hand von den
Kämpfen dort an diesem Platz, gleich bei der U- Bahn Station Hallesches Tor.
Chaldej ist der Fotograf, der am 2. Mai 1945 das berühmte Foto der Flaggenhissung auf dem Reichstag gemacht hat. Das Foto stellt symbolisch das Ende des 2. Weltkrieges dar, das Ende des Faschismus und das Ende Hitlers.
Vom Halleschen Ufer sind wir damals zum Reichstag gegangen, aufs Dach, zu der Stelle, an der er das Foto der Flaggenhissung geschossen hatte. Das Dach hatte noch keine Foster Glaskuppel.
„Ich stand ungefähr hier. Nicht an der Vorderseite des Reichstages. Nein, hier nach hinten raus, überall Trümmer und Zerstörung. Der Soldat kletterte auf den Sockel dort, ein zweiter hielt ihn fest und ein dritter sicherte den Vorgang mit seiner Maschinenpistole. Der Soldat schwenkte die Fahne. Ich hatte mein Bild.“
Tränen liefen über seine Wangen.
„Bin ich Sieger?“ fragte er. Bin ich Sieger? Ich habe nichts gewonnen. Eure Rentner fahren jedes Jahr nach Mallorca und ich habe nicht einmal 5 Kopeken, um mit der Tram von meiner Wohnung ins Zentrum von Moskau zu fahren.“
Vor unserem Aufstieg auf das Dach des Reichstages waren wir auf einer Ausstellungseröffnung seiner Kriegsfotos in Freiburg.
Als bedeutender Zeitzeuge stellte er sich nach der Eröffnung zur Diskussion. Die erste Frage aus dem zahlreichen Publikum war keine Frage, sondern eine Behauptung.
„Das Flaggenfoto ist doch gestellt. Ich meine es ist inszeniert und gefälscht.“
Vor Freiburg hatten wir bereits eine Rundreise absolviert, über ein Jahr verteilt, mit insgesamt vier Eröffnungen und als ob sich das Publikum jeweils abgesprochen hätte, war diese Frage bzw Behauptung, immer die erste an den russischen Fotografen. Jewgeni Chaldej, inzwischen 76 Jahre alt, benutzte einen Gehstock, da er kaum laufen konnte. Sein Gesicht bedeckte eine Brille mit dicken weckglasähnlichen Brillengläsern. Der Fotograf, einer der bedeutendtsen Fotografen des 20. Jahrhunderts, hörte dem deutschen Publikum zu und antwortete in deutchjüddicher Sprache:
„Es ist gutes Foto. Ich war auf Reichstag. Bitte nächste Frage.“
Man gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Einige hatten erfahren, dass auf dem rechten Handgelenk eine Uhr retuschiert war. Auch zwei aufsteigende Rauchwolken wurden später hinzugefügt, um die Szene zu dramatisieren. Diese beiden unmittelbar nach Aufnahme des Motivs, also noch 1945 vorgenommenen Veränderungen, belegen jedoch nicht, dass es sich hier um eine komplette Fälschung oder einen Inszenierung handelt. Chaldej war auf dem Reichstag, am Morgen des 2. Mai. Die Eroberung des Reichstages durch kleine russische Spezialeinheiten fand zwei Tage vorher in der Nacht statt. Es war bereits dunkel, überall wurde noch von deutschen Soldaten Widerstand geleistet und geschossen. Man kann nachvollziehen, dass bei einer ersten provisorischen Flaggenhissung um zehn Uhr nachts oben auf dem riesigen Gebäude kein Fotograf dabei gewesen ist. Also wurde das historische Foto etwas später geschossen und Chaldej hat ganz recht, wenn er sagt, es sei ein gutes Foto geworden. Wenn es nicht gut gewesen wäre, wäre es keine Ikone geworden.
Dann wurde Chaldej gefragt, wie er sich hier unter Deutschen fühle. Er antwortete.
„Ich kann vergeben, aber nicht vergessen. Mein Vater und zwei meiner Geschwister sind bei lebendigem Leibe in meiner Heimatstadt bei Donezsk, Ostukraine, in eine Kohlengrube geworfen worden, mit siebzigtausend anderen, meist Juden. Das waren Deutsche.“
Schweigen. Dann stand Chaldej langsam auf, ging zu den Bildern seiner Ausstellung und erklärte Details auf den Abbildungen. Er konnte sich an jede Szene, sogar an jeden Namen der abgebildeten Personen erinnern.

Ich trete aus dem Haus und gehe am Kiosk vorbei. Schlagzeile der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. Mai 2014:
‘Nato Generalsekretär Rasmussen: „Die Nato muss ihr Militärbudget aufstocken.“’

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/vollandsblog/2014/05/09/sieger/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Jewgeni Chaldej –

    hat dieses wahrer als wahre Foto
    geschossen –

    und hat wiewohl verboten –
    während des Vaterländischen Krieges
    ein beeindruckendes Tagebuch geschrieben –

    ich kann nur allen ans Herz legen –
    es zu lesen –
    auch weil dann solche durchsichtig
    angeschrägten Fragen hoffentlich
    im Hals stecken bleiben.
    – und Hetzer Rassmussen endlich den Rand hält.
    Nach Rüstung kommt Krieg –
    Schon vergessen?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert