vonWolfgang Koch 23.11.2006

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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ROBERT PFALLER. Kunstphilosoph im Bannkreis von Freud, Althusser und Richard Sennet (»Tyrannei der Initimität«). Der Žižek-Schüler und Suhrkamp-Autor lehrt in Linz und Wien. Seine Auftritte wenden sich mit viel Verve gegen alles Betuliche. Pfaller beschäftigt sich vorzugsweise mit Fragen politischer Ästhetik und des privaten Lebens. Er entwickelte als Echo auf den Begriff der »Interaktivität« den Begriff der »Interpassivität«. Pfaller vertritt die These einer infamen Sentimentalisierung der Gegenwart durch mediale Kommunikation. Feindbilder: das Authentische, die
Selbstverwirklichung, die Ichzentriertheit. Pfaller plädiert im Sinn der klassischen Avantgarden des Futurismus und des Surrealismus für mehr Sarkasmus in der Kunst: »Her mit den grausamen Worten! Nur böse Kunst führt zu guter Politik«.

CHRISTIAN REDER. Sozial- und Strukturknobler, behauptet die Wissenschaftsähnlichkeit der Kunst. Das ist die spezifische Bedeutung, die Reder von anderen absetzt. Dieser Selbstdenker deliriert nie über epistemologischen Veränderungen, die zu Begriffsungetümen führen. Bei ihm dominiert vielmehr die Vorstellung, Kunst habe mit unseren Gefühlen zu experimentieren. (Hat sich ein Michelangelo nichts als Forscher verstanden?) – Entsprechend gewinnt Reder seine Erkenntnis in unzähligen in Ateliers und in auf Reisen geführten Gesprächen. Er belehrt uns eindrucksvoll über die »Metamorphosen von Strukturen«. Weg vom Mythos, weg von der Geheimnistuerei! Hin in Richtung konkretes, vielschichtiges Denken und Empfinden als Basis für offene, auf Grund ihrer Qualität mitteilungsfähig bleibende Reflexionsgebilde. Der alte Gestus des Aufdeckens weicht einem stark cartesianischen Blick. Philosophie gewinnt Positionen zurück.

MARC RIESS. Kulturphilosoph, lehrt Bildtheorie u.a. in Jena. Der aus Luxemburg stammender Denker hat lange über Magnetismus bzw. Mesmerismus geforscht, er intessiert sich heute für die Transformation der Identitätskonstruktion und die Dezentralisierung der Information, sprich: Geschlechterverhältnisse und Massenmedien als Zivilisationsmaschinen. Seine stark rhizomatisch konnotierte Gedankenwelt konfrontiert mal Pythagoras mit dem Kinematographen, mal modernen Wohnbau mit Netzideen. Die Texte erschliessen sich schwer. Nach 911 schrieb Riess den rätselhaften Satz: »Zwischen den meisten Bürgern der westlichen Kulturen und jenen der islamischen Kulturen hat sich ein – soziomedialer – Raum gebildet, in welchem das politische Vokabular der Annäherung, des Relationalen, das zugleich das Eine und das Andere Denken, langsam die Überhand gewinnt.«

FRANZ SCHUH. Literaturphilosoph, Radioessayist, Lehrbeauftragter an der Hochschule für Angewandte Kunst und freier Mitarbeiter bei der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit«, passionierter Krimileser. Seit vielen, vielen Jahren Österreichs grösste Hoffnung, an die Wiener Moderne von Schnitzler bis Hofmannsthal anzuknüpfen. Gilt als Universalgelehrter und als »Weltschmerzensmann in bester austriakischer Tradition«. Mischt munter Textgattungen und Themen; seine Essays sind viel Zitat von einem Ich umflossen. Von befreundeten Journalisten gerne zum grossen Aussenseiter des intellektuellen Lebens hochstilisiert, was er natürlich nicht ist. Schuhs Denken ist hochgradig sprachreflexiv, seine denkerischen Slapsticks knüpfen u.a. an die Systemtheorie von Luhmann an. Blieb bisher das Epochenwerk schuldig.

LEONHARD SCHMEISER. Freischaffender Philosoph und Wissenschaftstheoretiker. Wenig bekannter, aber umso aufregenderer Erforscher des neuzeitlichen Denkens. Machte mit einer Buchpublikation von geradezu kontemplativer Genauigkeit über die Erfindung der Zentralperspektive von sich reden. Seine Essays analysieren die Bildlichkeit des Denkens, ohne gleich eine neue Sprache der Engel auszurufen. Schmeiser nimmt sich überragende Gestalten der europäischen Geschichte wie Descartes, Newton und Velázques zu geistigen Gesprächspartnern und diskutiert mit ihnen das geistige Fundament eines Weltzeitalters, das noch lange nicht abgeschlossen sein dürfte. Der akademische Denkbetrieb kümmert sich um diesen Mann so wenig wie er sich um ihn.

BURGHART SCHMIDT. Kunst- und Sozialphilosoph, studierte Biologie, Physik, Philosophie und Kunstgeschichte; Schüler des blinden Sehers Ernst Bloch. Professor für Sprache und Ästhetik in Offenbach, seit vielen Jahren Lehrtätigkeit an der Uni für angewandte Kunst und der Akademie der bildenden Künste in Wien. Hier konfrontierte der 1942 geborene Deutsche Wien konsequent mit den Illusionen der nachbebenden Studentenbewegung von ’68. Schmidt entwickelte sich dabei vom Schlachtross der Kritischen Theorie zum spielfreudigen Begleiter und Kommentator junger Kunst. Er beschäftigt sich heute nach eigenen Angaben mit »Wissenschafts- und Kunsttheorie in utopischer Perspektive«, hat demnach den Kontakt zu jungen Generation nicht verloren. Glänzt im gesprochenen Wort, ohne je aufdringlich zu sein. Seine Aperçus stechen zu wie ein scharfes Messer und drehen die Klinge im Fleisch noch einmal um.

WALTER SEITTER. Philosoph der Psychoanalyse, studierte einst am heissen Pariser Pflaster bei Foucault und Raymond Aron, seit 1979 Mitherausgeber der Zeitschrift »Tumult«, lehrt Kommunikationstheorie an der Angewandten. Lacanist mit entsprechend schwieriger Artistik der Gedanken. Erwarb sich unschätzbare Verdienste als Übersetzer von Kollegen, die heute dem französischen Strukturalismus zugeordnet werden. Merve-Autor, Heraldiker, gewitzter Stadtspaziergänger und Liebhaber des Stephansdoms. Vertritt das eigenwillige Konzept einer »Physik des Denkens« mitsamt der dazugehörigen Beschwörung des Primären, der realen Präsenz. Gegenstände seiner Bücher: u.a. Grillparzer, Jesus, Helmbrecht, Dietrich, Piero della Francesca, El Greco, Kaiserin Elisabeth, Pierre Klossowski. Walter Seitter liebt multiple Existenzen als Ausdruck der Moderne. Aufschrift auf dem Messingtürschild zu seiner Wohnung: »Analytiker«.

Teil I enthielt:
Gerda Ambros
Rudolf Burger
Isolde Charim
Frank Hartmann
Herbert Lachmayer
Konrad Paul Liessmann
Wolfgang Pircher

© Wolfgang Koch 2006

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