vonWolfgang Koch 29.01.2007

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Flucht – das konnte für ein jüdisches Kind 1938 heissen, dass es die eigene Mutter mit hochrotem Kopf in einem Umkleideraum auf dem Prager Flughafen sah, bis auf die Unterhose ausgezogen, in Büstenhalter und Korsett auf die Zollbeamtin einschreiend – weil irgend ein doofer Kerl im Bus Richtung Flughafen den blöden Witz gerissen hatte: »Wo hast du die Diamanten versteckt, Elly?«

Flucht – das konnte 1940 für ein jüdisches Kind heissen: im Garten eines Châteaus in Frankreich sitzen, in dem es Erdbeeren gab. Im offenen Pritschenwagen durch den Wald fahren, während das Haar im Wind flatterte.

Fluchten haben viele Gesichter. Sie halten mehr überraschende Situationen für die Betroffenen bereit, als das gewohnte Leben. Die in New York lebende Hanna Papanek wollte das Skelett ihrer eigenen Geschichte noch einmal in Briefen, Tagebucheinträgen und Dokumenten erahnen – das Skelett einer Geschichte, die sie doch selber im Fleisch erlebt hatte.

Geht das überhaupt? Es geht, wenn man Objektivität bewusst nicht sucht.

Hanna Papanek begann in einem Archiv in Amsterdam, stöberte in Briefen auf dem Dachboden der Präfektur von Montauban. Dort nahm sie die Papierspur ihrer Jugend auf. Entsprechend ist im 580-Seiten-Bericht viel von Gruppenfreundschaft, Gruppensolidarität und Freundschaft innerhalb der Emigrantengruppen die Rede. Diese Kinder des französischen Exils verbrachten ihre prägenden Jahre in einer engen ideologischen Bindung.

Wir machen uns heute keine Vorstellung davon, welche Rollen Listen und Aufstellungen bei Verfolgten und Verfolgern damals spielten. – »Auf einer bestimmten Liste aufgeführt zu werden, bedeutete das Leben. Auf einer anderen oder gar keiner Liste zu stehen, konnte die Deportation in ein Vernichtungslager bedeuten. Zumindest hiess es, dass man untertauchen musste, einen Menschen finden, eine Familie, eine Klostergemeinschaft, die bereit waren, ein gefährdetes Kind, einen Erwachsenen, vielleicht eine ganze Familie bei sich zu verstecken.«

Die jüdischen Rettungsgesellschaften JLC und ERC wurden erst nach Frankreichs militärischer Niederlage gegründet. Die in Deutschland und Österreich verbotenen Parteien unterhielten im Ausland eigene Hilfswerke, Quäker und Unitarier griffen den Menschen unter die Arme.

Papanek erinnert an schroffe Auseinandersetzungen unter den zersplitterten sozialdemokratischen Exilanten. Man stritt zunächst über die Ereignisse in der Heimat; darüber ob man im Zufluchtland bleiben oder sich anpassen sollte. »Emigrantenquatsch« nannte das genervte Beobachter.

Vor allem aber stritten die ohnmächtigen Sozis über ein Bündnis mit den ohnmächtigen Kommunisten. Die Moskauer Schauprozesse und die verstörenden Ereignisse während des Spanischen Bürgerkriegs hallten noch vielen im Ohr. Wer vorschnell den Plan für eine »sozialistische Konzentration« guthiess, wurde auch im Exil noch aus der Partei ausgeschlossen.

Drüben, über dem Teich, baten Gewerkschaftsvertreter den US-Aussenminister Cordell Hull darum, Männer und Frauen aus den demokratischen Parteien Europas wenigstens ein befristetes Asyl in den USA zu gewähren. Die Präsidentengattin wurde bekniet, und als es schliesslich ein Okay für amerikanische Notaufnahme-Visas der Flüchtlinge gab, schloss man Parteikommunisten kategorisch davon aus.

Der erste lebensrettende Schritt für Emigranten war es auf eine Liste zu kommen: Visas galten für die Gatten und Kinder der Begünstigten – vorausgesetzt, die Beziehung war ehelich. Unverheiratete Frauen mussten schauen, wo sie blieben. Ihr Leben hing davon ab, als wie gefährdet man sie unter den »ernsthaften politischen Flüchtlingen« einschätzte. Und gefährdet hiess in der Praxis bekannt.

Papanek erinnert daran, dass in den Kadern der Arbeiterparteien die Männer bei weitem überwogen, auch wenn die Linken bei Wahlen gerne Frauen aufgestellt hatten – »Folglich bekamen Männer und mit ihnen ihre rechtmässigen Familien viel eher einen Platz auf den Visumslisten, als die unverheirateten Frauen, die nur Sekretärinnen oder unsere Mädels waren.«

Briefe sandten die Gefährdeten damals übrigens per Luftpost, mit den so genannten Clipper-Flügen, über den Atlantik. Schneller waren Telegramme mit Western Union. Dagegen funktionierte das Telefonnetz in Frankreich schlecht. Auslandsgespräche waren so teuer, dass kaum jemand telefonierte.

Fluchtlingsschicksale hingen im Zweiten Weltkrieg also überwiegend vom Geschriebenen ab, nicht vom telematisch gesprochenen Wort. – Das sind doch Fakten, die wir auch einmal in einer Mediengeschichte lesen wollen!

Die zweite lebensrettende Frage für Emigranten war: Wer zahlte für die Überfahrt? Viele Tragödien hätten verhindert werden können, wenn die Betroffenen wenigstens den Platz auf einem Schiff hätten bezahlen können.

Papanek spricht hier offen von »Triage« – der Methode, die in pervertierter Form auch an der Rampe von Auschwitz Anwendung fand. Das Überleben des einzelnen Emigranten hing von einem schwer kalkulierbaren Zusammenspiel aus Fürsprache und Verhandlungen ab. Die Beharrlichkeit von Freunden konnte ebenso entscheidend sein, wie politische Flügelkämpfe, irrtümliche Auslassungen und bürokratische Hürden.

Papenek rekonstruiert u.a. das tragische Ende von Bruno Kurzweil und seiner Familie. Als die NS-Schergen in Frankreich Ausschau nach arischen Männern im wehrfähigen Alter hielten, glaubte dieser Vater sich und die Seinen geschützt, indem sich, Frau und Kind als Juden polizeilich anmeldete. Der komplett falscher Schachzug in einer Zeit, in der die Gegenseite das Recht nach Belieben änderte und streckte.

Letztlich, das zeigt dieses Buch, waren immer jene im Vorteil, die bereit waren, sich durch Urkundenfälschungen, Falschausagen und Bestechungen Vorteile zu verschaffen. – »Wo der Staat zum Verbrecher wird, muss sein vorgesehenes Opfer zum Gauner werden, um ihm zu entgehen.« Wer Wagnis und Trickserei scheute, war zum Untergang verdammt.

© Wolfgang Koch 2007
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Hanna Papanek: Elly und Alexander. Revolution, Rotes Berlin, Flucht, Exil – eine sozialistische Familiengeschichte. 580 Seiten, Berlin (vorwärts) 2006. 29,80 EUR, ISBN 978-3-86602-600-1 (alt 3-86602-600-5)

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