vonWolfgang Koch 03.01.2008

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Ich setze im neuen Jahr meine Kleine Wiener Stadtgeschichte fort, und da trifft es sich wunderbar, dass im Moment gerade die dritte Epoche beginnt.

Diese Serie, ich wiederhole, versucht einer Neuperiodisierung der kurfenreichen Wiener Vergangenheit. Ich beschreibe die grossen politischen Epochen der Stadt in vier markanten Zeitabschnitten. Nämlich:

a/ das Schwarze Wien der Habsburger

b/ das Weisse Wien der klassischen Moderne, mit einer liberalen und einer christlichsozialen Phase

c/ den Aufbruch des Roten Wien bis zur doppelten Niederlage in der Austrodiktatur und gegen den braunen Faschismus

d/ und schliesslich den Weg des Grünen Wien von seinen Wurzeln im 18. Jahrhundert bis zur Realisierung nach 1945

Keine dieser Perioden lässt sich ideengeschichtlich scharf abgrenzen, jede strahlt in die anderen aus. In den folgenden Beiträgen des Blogs geht es um die rote (sozialdemokratische) Stadtverwaltung, um die politische Trennung von Wien und Niederösterreich, um Theorie und Praxis des Modellsozialismus zwischen den Kriegen, sowie schliesslich um die Spuren, die Austrodiktatur und Nationalsozialismus in Wien gezogen haben.

***

Am 16. Oktober 1918 proklamiert ein erschöpfter Kaiser Karl sein Völkermanifest, ausgearbeitet von einem deutschnationalen Abgeordneten namens Teufel. »Jeder Volksstamm bildet auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes Gemeinwesen…«, heisst es in dem Dokument. Der untergehende Kaiser [Nickname: der Plötzliche] glaubt damit die Grundlage einer föderativen Neuordnung der Monarchie geschaffen zu haben.

Fünf Tage später versammeln sich gehorsamst die Abgeordneten der deutschen Siedlungsgebiete der zisleithanischen Reichshälfte (101 Deutschnationale und Liberale, 70 Christlichsoziale, 39 Sozialdemokraten) und erklären sich selbst feierlich zur Provisorischen Nationalversammlung eines noch unbestimmten Staatsgebildes.

»Jeder Volksstamm sein eigenes Gemeinwesen…« – Ja, warum denn nicht?, denkt man. Nur: Wer gehört eigentlich zum Stamm, wie weit reichen die Wurzeln und die Zweige, wo sollen die neuen Grenzen verlaufen? Die Habsburgermonarchie ist bekanntlich die letzten viereinhalb Kriegsjahre lang unter Kuratel des Deutschen Reiches gestanden.

Oktober 1918 ringt ein gutes Dutzend politischer Ideen um Realität – darunter das republikanische Staatskonzept unter mindestens vier verschiedenen Flaggen. Die Zigarrenpaffer mit dem Zylinder, sie lassen ihre Zigarren einen Augenblick in der Kiste, die Arbeiter marschieren auf der Ringstrasse, täglich rattern Züge mit unzähligen militärischen Subjekten in die Hauptstadt.

Wie soll das Land morgen aussehen? Wie soll der neue Staat heissen? Braucht man überhaupt einen? Oder braucht man nicht vielmehr Zucker, Milch und Brot?

1. Vorschlag: DEUTSCHÖSTERREICH oder OSTMARKDEUTSCHLAND. So nennen die Anschlussfreunde die Eingliederung samtlicher deutschen Siedlungsgebiete der Monarchie, also einschliesslich Südtirols und des Sudetenlandes, in das benachbarte Deutsche Reich. Zwar ist noch gar nicht klar, wer dort in Zukunft das sagen haben wird; ob der Neue eine Krone trägt oder einen Zylinder. Aber die Anschlussbefürworter lehnen forsch jede Kleinstaatlösung für den verbleibenden Rest der Monarchie ab. Zu ihnen zählen die Deutschnationalen, die Mehrheit unter den Sozialdemokraten und die Mehrheit unter den Christlichsozialen.

2. Unter dem Titel SÜDOSTDEUTSCHLAND firmieren mehr föderalistische Ideen, mal von einem Bundesstaat, mal von einem Staatenbund im alten Gebietsrahmen der Monarchie. Prominentester Vertreter: Karl Renner – ein Sozialdemokrat, der den Krieg gut überdauert hat und bei der ersten Versammlung der neuen Herren – na, sowas! – eine provisorische Verfassung aus der Tasche zieht. Der richtige Mann. Zum richtigen Zeitpunkt. Am richtigen Ort.

Das Kuriosum dieser Tage und Wochen besteht darin, dass mit den Staatsnamen meist das Gegenteil vom Bezeichneten gemeint ist. Die Flagge mit der Aufschrift Südostdeutschland richtet sich klar gegen den Anschluss; die Föderalisten versuchen bloss das Wort Deutschland eingemeinden, um den Zauber ihrer Gegner zu brechen. Ähnlich verhält es sich mit der letzlich erfolgreichen Bezeichnung Deutschösterreich: So ein Staat wäre partout kein Österreich, noch weniger ein Festhalten an der Monarchie, sondern eben ein Teil des zukünftigen Deutschlands.

3. Unter dem programmatischen Titel NORIEN ruft ein sehr weiser alter Kopf von der Schweiz aus nach einem neutralen, selbstständigen Kleinstaat. Das ist zwar stimmungsmässig die im Land selbst unpopulärste IdeeM realpolitisch aber wäre sie am aussichtreichsten, wie sich Monate danach zeigen wird.

Durchsetzen kann sich vorerst die Anschlusslinie, in der Sozialdemokratie vehement vertreten durch Otto Bauer. Durchsetzen kann sich der Anschlussgedanke aber nur politisch – nur im eigenen Land, und nur für zehn Monate. Nach aussen vertreten wird das Deutschösterreich-Konzept vom unterlegenen Protagonisten der Südostdeutschland-Idee, Dr. Renner. So läuft der Hase im neuen Land.

Heinrich Lammasch, der einzige prominente Politiker und Wissenschafter, der für einen selbstständigen Kleinstaat eintritt – noch dazu unter dem zukunftsweisenden Dach einer internationalen Garantie der Völkergemeinschaft – Lammasch wird von Renner als renommierter Rechtsexperte ohne Stimmrecht zu den Friedensverhandlungen beigezogen. So erledigt man die besten Ideen in Österreich.

Was die Verhandler aus Wien in Paris wollen und wünschen, was sie herbeifantasieren – den repubilkanischen Teilstaat einer zukünftigen Grossmacht –, dieser Idee ist am Verhandlungstisch mit den Kriegssiegern ein jämmerlich kurzes Leben beschieden.

Es wird 36 Jahre dauern, 36 Jahre vom Vertrag in Saint Germain bis zum Moskauer Memorandum von 1955, es braucht einen Bürgerkrieg und noch einen Weltkrieg, bis Lammaschs kluge politische Idee einer zweiten Schweiz unter der Ägide der UN Wirklichkeit wird. Knapp vor diesem Ereignis wird erneut Renner an der Staatspitze stehen, und dann wird er das zweite zu ihm selbst konkurrierende Staatskonzept von 1918, die Neutralität, auf das Schild heben – diesmal erfolgreich.

© Wolfgang Koch 2008
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