vonWolfgang Koch 30.05.2009

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Peter Gorsen ist für den Wiener Aktionismus, was der Kunstschriftsteller Ludwig Hevesi im Wien um 1900 für die Secessionisten war: ein Stier, der ein richtiger Stier sein wollte – Vordenker, Gesprächspartner und Kommunikator der aufsässigen Künstler, ohne den die avantgardistische Bewegung mit Sicherheit anders verlaufen wäre, als sie letztlich verlief.

Der Kunst- und Mentalitätshistoriker Gorsen hat Wien zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht. Er ist – neben Burghart Schmidt – der zweite kreative Kopf aus dem Zirkel der berühmten Frankfurter Schule, der in den Siebzigerjahren seinen Weg in die Donaumetropole gefunden hat. Ab 1977 lehrte er als Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst und prägte dabei das Profil einer ganzen Künstlergeneration mit. Dass die Begriffe Surrealismus, Sexualästhetik und Happening in unserer Stadt einen besonderen Klang haben, ist wesentlich Gorsen zu verdanken.

»der grössten sau, der ich je beegnete, nämlich peter gorsen herzlich zugeeignet« – Mit dieser grotesken Bildwidmung bedankte sich der ehemalige Zeichenlehrer und spätere Kommunegründer Otto Mühl am 30. September 1969 beim damaligen Adorno- und Habermas-Studenten Gorsen für dessen Unterstützung im Vorfeld der sagenumwobenen Kunstaktion »Scheisskerl« in Frankfurt am Main.

Warum ging es bei dieser Aktion? Gorsens Frau Hanel Köck hatte mit Mühl ein gleichnamiges Drehbuch verfasst, um die paraphilie Lust vor laufender Kamera über die genitale Liebe triumphieren zu lassen. Ein Kunstwerk sollte entstehen aus einer orgiastischen Ferkelei, eine zutiefst feierliche Exzentrizität, um gewisse Unzulänglichkeiten unseres Verstandes zu offenbaren.

Doch, ach, als ein für den 19. Oktober 1969 zur Realisierung der »Materialaktion« eingeladener Pariser Koprophager seine Kommen im letzten Moment absagte, wäre die minutiös geplante Absurdität beinahe geplatzt, hätten sich nicht kurzerhand die aus Wien angereisten Mitglieder der Filmcrew um Hermann Jauck und Kurt Kren als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt.

Mühl, der Hauptprotagonist der Ekelaktion, verglich die folgenden vierstündige Scheiss- und Pisshandlungen mit Strumpfbandage und Klistierspritze, in deren Verlauf er Kot ass, während er gleichzeitig von mehreren Personen masturbiert wurde, retrospektiv mit der Geisselung Christi: »Sie haben mich sexuell erniedrigt und fertiggemacht«.

Das Drehbuch zur koprophagen und urethalsadistische Orgie »Scheisskerl« wird im vorliegenden Sammelband nun erstmals veröffentlicht und mit sechs Abbildungen aus dem zwölf Minuten dauernden 16mm-Film, der das extravagante Ereignis festhielt, illustriert. Vierzig Jahre lang hat es also gedauert, bis diese sinnstörende Provokation der Aktionskunst das volle Licht der Öffentlichkeit erblicken durfte – und es ist immer noch erstaunlich, mit welcher Emphase die radikalsten VertreterInnen dieser 68er-Generation, die damals alle um die Dreissig waren, an das Niederreissen von Schamgrenzen gingen.

Die Dokumente der Aktion »Scheisskerl« sind ohne Zweifel der Höhepunkt dieses mit klugen und informativen Texten von 1969 bis 2008 gut bestückten Sammelbandes. Was hat uns Gorsen mitzuteilen? Seiner Interpretation nach bestritt der ästhetische Widerstand des Wiener Aktionismus am nachhaltigsten den Führungsanspruch von Kultur & Kirche in den Nachrkriegsjahrzehnten. Die Wiener Aktionistenkiste befahl, so Gorsen, »das zivilisatorische Märtyrertum der leiblichen Existenz in den Zeugenstand«, sie setzte der kleinen, zittrigen Vernunft des Geistes die grosse Vernunft der körperlichen Errregung entgegen.

Wanderten wir Esel bis dahin etwa nicht im Licht? – Nein, sagt Gorsen, »performativ« und »nachauratisch« sei die Ästhetik der Wiener Modernisten in den zehn Jahren ab 1961 gewesen. Der Autor erzählt lakonisch und in einer, wieder an Hevesi gemahnenden intellektuellen Strenge, welche der Erzählungen der fordistischen Gesellschaft die Aktionisten ad absurdum geführt haben.

Die Gruppe der Wiener Aktionisten, zu der Gorsen übrigens elf und nicht vier Personen zählt, hätte sich – anders als die Fluxus-Künstler der Fünfzigerjahre oder spätdadaistische Tendenzen – auf die Idee eines von Staat, Recht und Sitte unverfälschten Naturzustand gestützt und eine »Kultur der Authentizität« (Charles Taylor) ins Leben gerufen.

Dies ist der Kern der hier versammelten historischen Rückblenden: die Entdeckung der philosophischen Position de Sades für die künstlerische Produktion, Selbstmündigkeit als Alltagserfahrung, Selbstermächtigung als aufklärerisches Ziel, Überschreitung und Gesetzesverletzung als staatsbürgerliche Grundschule im Sinn von George Bataille.

Nur den Künstler Hermann Nitsch nimmt Gorsen aus dem existenzialistisch verwackelten Hippietum aus: Während Mühl, Brus und Schwarzkogler nach der Schönheit des Ernsten im Unernst, nach hintergründiger Weisheit oder Gefährlichkeit suchten, habe Nitsch mit seinem Orgien Mysterien Theater, seiner Privat-Theodizee, schwarzpoetisch und inbrünstig das Sein angerufen. Nitsch habe damit ein Tor zur Transzendenz aufgestossen. Die Stichworte dazu: »remythisierter Lebensprozess« und »kontemplativer Irrationalismus«.

1995/96 legte Gorsen fünf theoretische Grundlinien fest, die seiner Ansicht nach den Auftritt des Wiener Aktionismus am internationalen Parkett der Kunstproduktion solitär erscheinen lassen: 1. das Katharsiskonzept, 2. die wilde Psychoanalyse, 3. das Kreativitätstheorem einer regressiven Entsublimierung, 4. die antiethische Ästhetik und 5. die Entgrenzung des Kunstbegriffs.

Wie wirkten diese fünf Grundlinien des Wiener Aktionismus zusammen? Nach Gorsen mischte die Aktionskunst den »Hass auf die Überproduktion« des Wiederaufbaus und die damit verbundene Kritik an der Warenästhetik mit einem originär libertären Glücksversprechen, das auf die grosse Befreiung der Lüste anzielt. Hände hoch also, wenn Sie dieses Buch lesen! Gorsen konfrontiert Adorno und Horkheimer mit einer geistesgeschichtlichen Tradition, die von den pornografischen Moralisten des 18. Jahrhunderts über Fourier, Baudelaire und Artaud bis eben Bataille reicht. Dabei gibt er dem Prälogischen und der Kunst als Erkenntnisprinzip den Vorzug vor einer systematischen Philosophie.

Was hier als bescheidene Sammlung von Aufsätzen und Reden daherkommt, ist in Wahrheit die Summa einer lebenslangen theoretischen Anstrengung. Gorsen kritisiert wortgewaltig den »konsumhedonistischen Verrat an der freien Sexualität« in den Sechzigerjahren. Die Darstellung von Erotik sei nach einem ersten Aufschrei der Revolte zur »Konsumpornografie« degeneriert – und die flatterhaften Gravitationskräfte der freien körperlichen Anziehung zum »abgeschlossenen Kapitel der sexualökomischen Revolution« verkommen.

Dieser theoretische Ansatz umfasst an Breite und Tiefe der Gedanken mehr als das lacanistische Lager der Wiener Gesellschaftskritik seit Jahren zu bieten hat; mehr als flotte Kulturwissenschafter in ihre Gender studies packen sowieso. Gorsen wiederholt und präzisiert ein Reihe spannender Thesen zur Lage der postsituationistischen Kunst – zum Authentizitätenpostulat des Wiener Aktionismus; zur antispektakulären Sprachverweigerung dieser Kunst; zur paradoxen Wirkung von Schwarzkoglers Schwarz-Weiss-Inszenierungen; zur Verdrängung des inzestuösen Wunschtraumes im gekreuzigten Christus, usw.

Gorsens Texte sind wie Blitze, die mehrmals am selben Ort einschlagen. Stets setzen sie neue Felder in Brand. So konstatiert dieser Autor in der »Materialaktion« eine unerwartete Wiederkehr des Stilllebens; Gorsen beschreibt Musik als Moment im Theater der Gleichzeitigkeit; er unterstreicht die Rolle von Geräuschen im Happening sowie das »irrationale Vertrauen in direkte körperliche Kontakte«; sehr orginell äussert sich der Kunsthistoriker zum mutmasslichen Unfalltod Rudolf Schwarzkoglers und zu dessen nachhaltiger Verklärung als künstlerisch geplanten Suicid.

Das Nachleben des Wiener Aktionismus ist also keineswegs zu Ende. Dieses kulturelle Monster hat noch nicht ausgezuckt, auch wenn der Kunstbetrieb beschlossen hat, Vegetarier zu werden. Gorsen fordert den feministischen Diskurs auf, endlich den mündlich ausgeübten Einfluss der Frauen am Geschehen in den Ateliers, Kellern und Weinstuben wahrzunehmen (Valie Export, Susanne Widl, Anni Brus, Hanel Köck, Edith Adam). Gorsen verlangt mit guten Argumenten, dass die Kunstgeschichtsschreibung endlich die verfälschende Rolle der Bildjournalistik aufdeckt (»Diktatur der Fotografie«). Und er regt uns an, die rhetorische Figur des stellvertretenden Märtyrertums durch den Künstler mit linken Weltveränderungsmodellen zu vergleichen.

Schwer folgen können wir nur Gorsens Urteil über die Mühl-Kommune. – »Das ganze Ausmass an monströsen, kriminellen Möglichkeiten der Gesetzesverletzung, die sich die Erotik de Sades vorstellte, konnte für die Gewalthandlungen der Materialaktion und Mühls Lebenspraxis gewiss nicht zum Tragen kommen«, beteuert Gorsen in der 2008 verfassten Einleitung des Buches.

Hier stutzt man. Will denn der Autor das Eisenstädter Gerichtsurteil über den Ex-Aktionisten und späteren Kommunegründer nicht zur Kenntnis nehmen? 1991 wurde Otto Mühl wegen Notzucht (Vergewaltigung), Beischlaf mit Unmündigen, Unzucht mit Unmündigen, sittlicher Gefährdung von Personen unter 16 Jahren, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses und Delikten nach dem Suchtgiftgesetz zu sieben Jahren Haft verurteilt.

Im Prozess hat Mühl den Missbrauch von Unmündigen unter 14 Jahren klar eingestanden, das Urteil dann aber nie anerkannt. Der reulose Kommunardenhäuptling ist also mit Sicherheit mehr als ein »radikaler Subilimationskritiker mit bildkünstlerischen Mitteln«. Mühl betrachtet seine Kunst ja »immer als die Gestaltung eines Weltbildes«. Noch 1997 rechtfertigte er aus der Haft heraus das AAO-Experiment als kollektiven Versuch, die »Niederträchtigkeit des offiziellen Österreich« zu therapieren.

Möglich, dass Mühl, wie Gorsen schreibt, ein »grosses Einfühlungsbedürfnis in die destruktiven Impulshandlungen des Menschen« besitzt – nur das ist nicht der Punkt! Der Punkt aus heutiger Sicht ist, dass Mühl Destruktives und Verbrecherisches gegen Kommunarden und ihre Kinder moralisch zu verantworten hätte. Stattdessen leugnet er die katastrophalen Folgen seiner Machtausübung in der Psycho-Sekte und verdrängt die Symptome seiner Gewaltausübung.

Gorsen stellt sich auf den theoretisch Standpunkt, dass die klassische ontologische Differenz zwischen Kunst und Leben nicht einforderbar sei. Auf der anderen Seite, auf der lebenspraktischen, aber sollen Kunst und autoritäres Gebaren von Mühl nichts miteinander zu tun haben – der Künstler wird von jeder sozialen Verantwortung freigesprochen, ja im Gestus »des revoltierenden Subjekts der radikalästhetischen Moderne« zur tätlichen Überschreitung von zwischenmenschlichen Grenzen geradezu ermutigt. Hier fehlt es an Stringenz.

Was die Regressionstheorien des Aktionismus betrifft, wäre übrigens einmal der Freud-Schüler Jakob Pilzbart [1844-1911], Erfinder der Anthropolyse, näher ins Auge zu fassen. Dessen kuriose therapeutische Praxis, Patienten bis zum Dahinvegetieren im Tierstadium gewähren zu lassen, liegt weit näher an der sogenannten Aktionsanalyse als Otto Ranks Vorstellung von einer therapeutischen Kraft der Kunst oder Wilhelm Reichs Charakteranalyse.

Fazit: Ob bei Peter Gorsen von »Abreaktionsekstatikern« (Nitsch, Mühl), von »Aggressionsmetaphysikern« (Nitsch) oder von »Radikalnaturalisten« (Mühl) die Rede ist, von »melancholischen Autodestruktivisten« (Schwarzkogler) oder von »Fiktionalisten« (Brus) … hier beweist ein gedankenreiches Buch, dass der Wiener Aktionismus noch lange nicht eingesargt werden kann.

Peter Gorsen: Das Nachleben des Wiener Aktionismus. Interpretationen und Einlassungen seit 1969, 240 Seiten
mit Abb., ISNB 978-3-85415-419-8, Klagenfurt/ Graz/ Wien: Ritter Verlag, 29,- EUR


© Wolfgang Koch 2009
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