vonWolfgang Koch 17.06.2015

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Philipp Felsch zeichnet anhand der Produktionen des Merve Verlags eine stimmige  Biographie der deutschsprachigen Postachtundsechziger. Beginnend mit Adorno und den Autoren der Kritischen Theorie führte die lange Sommerreise über Jakob Taubes und Louis Althusser, Krahl, Negt und Kluge hin zu den Galliern Lyotard, Barthes, Certeau, Foucault, Baudrillard, Kojéve, Virilo, und von diesen hermetisch sprechenden Denkern an der Seine – mit Hilfe von Seitter, Dietmar Kamper und Harald Szeemann – weiter zur Lektüre von lange verpönten und randständigen deutschen Autoren wie Schmitt,  Jünger und auch Luhmann.

Das wird natürlich jeder Teilnehmer an dieser Leseveranstaltung  zwischen 1960-90 ein wenig anders erlebt haben. Bei mir zum Beispiel rangierte Walter Benjamin stets höher als Adorno, auf Jünger bin nicht über Virilo, sondern durch LSD-Experimente gestoßen, das erste Lob auf Konsums und Passivität hörte ich nicht von Lyotard, sondern von Baudrillard in der verblichenen Wagenbach-Zeitschrift Freibeuter, und auf Luhmann habe ich immer tatkräftig verzichtet.

Solche individuellen Abweichungen von der kollektiven Lektüre ändern im Rückblick aber nichts an der großen historischen Bewegung des schwierigen Denkens, am besonderen Move in der Choreographie unserer »Vulkantänze«. Erst überwandten wir taschenbuchsüchtigen Protestleser die marxistischen und psychoanalytischen Orthodoxien durch die Entfaltung der Diskursanalyse, dann begeisterten wir uns für die Kunsttheorie und schwärmten mit unserem neuen Wissen aus in Galerien, Seminare und besetzte Häuser, um auf der jeweils zeitrichtigen Stufe Distinktion zu üben.

Felsch schreibt Seitter gleich zweimal eine zentrale Rolle im »Hyperintellektualismus« der Merve-Kultur zu. Gemeinsam mit einem anderen Nicht-Deutschen, dem Schweizer Ausstellungsmacher Szeemann, habe er ganz wesentlich zum Material Turn der Verlagsproduktion beigetragen. Damit ist der Anfangs dessen gemeint, was uns heute als Powerpoint-Präsentation an den Kulturwissenschaften nervt.

Diese, vielleicht besser als Iconic Turn beschriebene Hinwendung zu einem kaleidoskopischen Denken, unter Einsatz multimedialer Mittel, habe geschehen können, so Felsch, weil Seitter die illustrationsfreudigen Seiten der französischen Theoriezeitschrift Traverses bewundert habe.

»Nein, nein«, sagt Seitter, »für die Bildwelten habe ich mich schon viel früher interessiert. Für diese Obsession musste ich nicht erst einen Umweg über Paris nehmen. Schon meine Habitilationsschrift bewegte sich auf dem Terrain der Heraldik«.

Wenn Seitter heute, mehr als drei Dekaden später, die Demonstrationstilistik der Femen analysiert, wie er das aktuell in der Zeitschrift Tumult tut, so kategorisiert er die zweifärbigen Protestschriften auf den nackten Frauenkörpern, die durch Abklatsch von Farbe entstehen, immer noch reflexartig als »Somographien« und entdeckt in ihrer symmetrischen Zweifarbigkeit erneut einen »Heraldik-Effekt«.

Der zweite Paukenschlag von Seitter in der Merve-Kultur bestand laut Felsch darin, umstrittene deutsche Autoren, ja das Denken von deutschen Köpfen überhaupt, in Spontikreisen und auf Theoriekongreßen salonfähig gemacht zu haben.

Auch falsch! Er, Seitter, sagt er, habe den Umweg zu deutschen Philosophen über die Nietzsche-Lektüre der Franzosen gar nicht gebraucht, »ich habe mir Nietzsche selbst erlaubt und seine Tagebücher als Gegenbewegung zum Bramarbasieren des Akademismus genossen. Nietzsches stilles Beiseitestehen hat mir schon in der Jugend imponiert«.

Felsch zitiert Seitters brieflichen Kontakt zum betagten Carl Schmitt im April 1981, in dem er den Plettenberger auf Lacan aufmerksam gemacht hat. Von Schmitts vielzitierten Begriff des Politischen, mit dem sich in den 1980er-Jahren die Hegemonie der Sozialwissenschaften zurückdrängen ließ, hat Seitter sich später verabschiedet. Anders als Chantal Mouffe substituierte er dabei den Feind nicht einfach durch den Gegner.

Was wäre nun also das Politische, diese politischen Dimension des Sozialen, im Unterschied zur Politik? Schmitts berühmte Definition über den Anatagonismus von Freund/Feind, erläutert Seitter, enthalte ein Oder, und er zerdehne dieses Oder so weit wie nur möglich, er entschärfe die Polarität der Unterscheidung mit dem Begriff der Diplomatie. »Ich plädiere für langsame Entscheidungen, für eine Vergrößerung des Zwischenraums zwischen Freund und Feind, damit der Gegner als die dritte Gestalt zwischen dem unnachgiebig verfeindeten Paar Platz finden kann«.

Denkarbeit, erinnert Seitter, habe auch immer etwas mit der »Lust an Absetzung« zu tun. Absetzung der Kritische Theorie vom Marxismus, Absetzung der Diskursanalyse von der Kritischen Theorie, usw. – Distanz ist eine wesentliche Voraussetzung für den freien Blick. Und die katastrophale Parteinahme Foucaults für die iranische Revolution sei eben auch dem Spiel mit einer Rivalität geschuldet gewesen, das Foucault und Sartre miteinander gespielt hätten.

Zwei notwendige Schwächen bemängelt Seitter an Felschs verdienstvoller Arbeit. Die beiden großen theoretischen und nachhaltig wirksamen Leistungen der französischen Philosophie würden in der Milieustudie unterbelichtet bleiben.

Das sei zum Ersten die »Hinwendung des philosophischen Fragens zu den historischen Fakten«, eine Bewegung die man heute bagatellisierend einen Historical Turn nennen könnte. Seitter meint das damals erwachte Geschichtsbewusstsein der Philosophie, eine Archivlust der Forscher, ja geradezu eine Geschichtsversessenheit, trotz der erkenntnistheoretischen Absage an das Subjekt und den dialektischen Geschichtsprozess.

Zum Zweiten unterbewerte Felschs Mileustudie »das Starkmachen der Wünsche«, die Analyse der Bildwelten der Wunschökonomie, jenen Punkt, an dem das Geheimnis des Unbewussten zur Form erhoben wird, eben zu einem unvermeidlichen Abenteuer. Seitter denkt hier an die Diskursvervielfachung bis hin zur rhizomatischen Unterwanderung des diskursiven Denkens mit Poesie.

Der Kalauer von der kleinsten Weltstadt ist schließlich nicht vom Himmel gefallen.

© Wolfgang Koch 2015

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990,  326 Seiten, München 2015, ISBN 978-3-406-66853-1, EUR 24,95

Foto: Peter Kubelka

 

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