Noch immer geben sich in der großen Thomas-Mann-Villa in der Beethovenstraße, in der ich seit gestern wohne (Foto), interessierte Gäste die Klinke in die Hand. Es ist, als wäre außerhalb Schwabings noch mehr los als eben am Hohenzollernplatz, von dem aus ich zuletzt berichtete (beziehungsweise ´bloggte´, wie Broeckers es zu nennen pflegt). Es sind hier wohl die etwas betuchteren Münchnener, die noch nichts von der Finanzkrise mitgekriegt haben, die mich besuchen kommen. Meine charmante Gastgeberin Eva Maria Ribéry, Tochter der Altschwabinger Malergröße Walter Ribéry und Ur-Ur-Cousine Franziska Gräfin von Reventlows, hält alle solange im Salon auf, bis ich ausgeschlafen bin und empfangen kann. Prominentester Besucher war gestern der Lyriker Frank Hartung, ein vermögender Mann, der mit Geldanlagen mehr Glück hat als mit der Kunst. Er ist der einzige mir bekannte Banker, der schon vor Jahren alle Derivate und ´kreativen´ Papiere mit Verachtung strafte. Sein Institut steht heute auch strahlend da, völlig ungetrübt von der Bankenkrise. Ich hatte daher nichts dagegen, ihn zu empfangen. Er war in blendender Verfassung, scherzte mit der Gastgeberin, legte die Zähne frei wie der junge Helmut Schmidt. Es war eine Freude, mit ihm über alles zu reden.
Dann kam Jutta Winkelmann. Wir zogen uns in einen schmalen Seitenraum zurück, um Privates auszutauschen. Sie fragte sofort, ob ich zur Zeit verliebt sei, und ich antwortete, Christina Friedmann sei sicher keine schlechte Wahl. Frau Winkelmann – sie stammt von dem Altertumsforscher ab – meinte ungeduldig, dabei hätte sie wohl ein Wörtchen mitzureden.
„Warum das?“ wollte ich wissen.
„Du kannst diese Bürgerliche nicht mir vorziehen.“
Die Mutter von Jutta war eine von Winzenburg, daher hatte sie diese Idee, von hoher Geburt zu sein. Genealogisch stimmte das ja auch. Im Gothaer war sie immer noch eine große Nummer. Aber auch Christina Friedmann kam aus einer alten Familie. Immerhin gehörte ihr ein Teil der Süddeutsche Zeitung – das mußte doch auch etwas wert sein. Trotzdem gab ich ihr natürlich recht:
„Teure Freundin, sorge dich nicht. Mich kriegt keine Frau so ohne weiteres unter die Haube, egal ob bürgerlich oder vornehm.“
„Du bist gewiß ein großer Dichterfürst, aber eben auch ein Mann. Und die kleine Friedmann soll ja recht artig anzusehen sein. Nimm dich bloß in acht! Es gibt Frauen, die sind ein bißchen zu hübsch für unseren guten Lottmann.“
Ich küßte ihr beide hände. Dann kam mein Neffe Severin. Er hat seinen zweiten Film fertig, und er wird heute im Fernsehen gezeigt (*). Ich schlug vor, gemeinsam mit Hartung, der noch in der Lobby telefonierte, spazieren zu gehen. Ich begründete das damit, so lange nicht mehr die Leopoldstraße entlang flaniert zu sein (wie ich es als junger Geck direkt nach dem Beginn des Studiums getan hatte, zusammen mit Claudius Seidl und Richard L. Wagner). Eva Maria Ribéry wandte ein, ihre Mutter sei nun im Salon und könne nicht einfach ignoriert werden. Es sei schicklich, mit ihr nun das Frühstück einzunehmen.
„Um diese Zeit?“
„Meine Mutter hat ihre eigene Zeit.“
Nun gut. Ich hastete zum Salon und begrüßte sie. Sie sagte:
„Ah, da kommt endlich einer, der mit mir frühstücken will!“
Sie hakte sich bei mir unter, und ich führte sie zum Wintergarten, wo Joseph Lenbach, ihr Faktotum, bereits seltsame Dinge vorbereitet hatte: fein zerkleinerte Drogen, selbstgebrannte Holundermarmelade, hundertjähriges Knäckebrot, schwarze Dominosteine von Rossmann, ausgewähltes Obst von Aldi. Hier war ein ganz spezieller Geschmack zu konstatieren. Wahrscheinlich der der alten Dame, vielleicht aber nur der des Faktotums.
„Möchten Sie noch ein Ei, Herr Lottmann? Wenn man schon einen Gast hat, sollte man wenigstens ein Frühstücksei anzubieten haben. Aber die Eva hat es vergessen. Obwohl ich es ihr extra gesagt habe.“
„Böse Eva.“
„Sie ißt ja auch zu wenig.“
„Männer mögen das, gnädige Frau.“
„Sie ißt wie ein Spatz, meine Evi. Sie schiebt alles beiseite, was der Lenbach ihr bringt. Und dann wird es ihr irgendwann zu arg, und sie frißt dann ALLES in sich hinein. Das ist auch nicht gut.“
„Aber sie ist so schlank geworden, gnä´ Frau.“
„Was?“
„Ihre Tochter hat eine gute Figur gekriegt, Madam!“
„So, so.“
„Ja, man sieht, daß sie zur Zeit glücklich ist!“
„Ja, ja.“
Ich bekam eine Konstruktion gereicht, von Lenbach, die hundertjähriges Knäckebrot mit geschmacksneutralen Käse und Gourmetschinken vom Bio-Schlachter verband. Zwischen Käse und Schinken klebte eine zentimeterdicke Senfschicht. In meiner Kehle tobte bald der Ausnahmezustand. Die verschiedenen Elemente kämpften gegeneinander wie die Studenten und Polizisten in Athen. In dem Moment kam aber Christina Friedmann.
„Christina!“
Sie sah herrlich aus. Frau von Winkelmann hatte recht: zu hübsch für unseren guten Hausfreund Lottmann. Ihr graziler Körper steckte in einem gelb-schwarz gestreiften Bienenkleid, die dunkel glänzenden Haare trug sie scharf und kurz geschnitten wie ein Hütchen. Sie übernahm dann hellsichtig die kommunikative Betreuung von Eva Marias Mutter, damit Severin, Hartung und ich aufbrechen konnten.
Wir fuhren mit dem Taxi bis zum Odeonsplatz, ignorierten die Feldherrenhalle (Hartung: „Ich denke gar nicht daran, an dieser scheußlichen Nazi-Halle einen Kranz niederzulegen!“), gingen den strahlenden Sonnenfluten entgegen bis zum Siegestor und von da als gute Demokraten vorbei am 90 Meter hohen weißen Gips-Mann vor der Münchener Rück (Foto), bis zum Roxy Café. Dort kehrten wir kurz ein. Ein Vögelchen von Bedienung blinkerte an uns rauf und runter, die war ja wohl ziemlich gut gelaunt, und den jungen Busen hatte sie halb freigelegt wie in alten Illustrationen aus dem Oberbayerischen. Das muß Tradition da sein, denn sonst wäre es die pure Pornographie gewesen.
Dann an der Fendstraße vorbei bis zur Münchener Freiheit, und von da die Leo überquert, links an der ´Klappe´ vorbei und dem ´Café Venezia´, in die Hohenzollernstraße eingebogen und durchgelaufen bis zum Kurfürstenplatz. Dann Kurfürstenstraße und deren Verlängerung, die ganze Türkenstraße bis zum Ende. Dann retour. Am Ende hatten wir eine längere Strecke abgewandert als Tags zuvor am Starnberger See. Und gesünder war es auch, wegen der guten Männergespräche.
Die kann man natürlich nicht offenlegen.
Am nächsten Tag dann Empfang bei Gisela Getty. Hartung, Jutta Winkelmann und ich zogen uns schon bald wieder zu dritt in ein Gästezimmer zurück. Inzwischen kannten wir uns gut genug, um in aller Offenheit alle grundsätzlichen Fragen, also die Weltlage, zu diskutieren. In meiner ganzen Berliner Zeit hatte ich nicht solch eine feurige, ernsthafte und erhellende Einlassung erlebt, die sich auf die gesamte letzte Epoche, die Gegenwart und die daraus folgende Zukunft bezog. In den Grundzügen waren wir uns stets einig. Ich darf versuchen, das vage zu skizzieren. Also wiederzugeben, wie Jutta die Dinge beurteilte:
„Die Wahl George W. Bushs markiert natürlich die Wende zum Schlechten in der Welt, war jedoch nur die Gestaltwerdung und der Nachvollzug von etwas, das schon in der zweiten Hälfte der 90er Jahre schmorte, hervorgerufen durch das Internet. Nämlich Bedeutungsverlust der klassischen Medien, Rückgang von Bildung, Bürgerlichkeit und Privatsphäre. Spätestens die Jahre der Lewinski-Affäre zeigten, daß das Land bereits völlig krank geworden war. Hunderte Millionen Dollar Steuergelder wurden für die Beschnüffelung der Unterhose des Präsidenten ausgegeben, und alle machten ein ernstes Gesicht dazu. Hochrangigste Staatsanwälte, alle Medien von billig bis superseriös, der Präsident selbst mit verantwortungsvoller, staatstragender Miene spielten mit, kein einziger Mensch stand auf und rief: „Leute, das ist doch alles Wahnsinn!“ Amerika war bereits ein vollkommen vulgäres, pornographisches Land geworden, als Bush die Macht an sich riß…“
So in etwa ging die Rede, und Hartung und ich trugen unseren Teil dazu bei. Das eine Prozent der Kapitaleigner hatte mit Hilfe der neuen Medien die Unterschicht unter Kontrolle gebracht – und an die Macht. Die historisch einzigartige Ausplünderung der Welt durch 3000 wohlhabende Familien konnte auf diese Weise unbemerkt vollzogen werden, wie Hartung bestätigte. Die Finanzkrise trifft diese Leute nicht – sie haben ihre gigantische Vermögensausweitung natürlich in realen Werten angelegt. Früher gehörte ihnen Amerika, heute die ganze Welt. Und wehe, Obama tut etwas gegen diese Patrizier…
So ging es hin und her, wobei die Figur Barack Obamas die große Unbekannte in allen Prognosen blieb. Wie hatte es so einen Mann bloß geben können? Warum wurde er immer erfolgreicher, unangreifbarer, besser? War er klüger als wir alle zusammen, und warum?
Später stießen wir wieder zu den anderen. Mir fiel auf einmal die Trunkenheit der Gäste auf. Wir drei hatten nur Tee zu uns genommen und einen klaren Kopf behalten, was natürlich viel schöner war. Nur Christina Friedmann wirkte aufgrund ihrer angeborenen Schüchternheit wie stets sehr aufnahmefähig. Sie trug einen beispiellos flauschigen, magentafarbenen (vielleicht war er auch matt rosa, ich bin etwas farbenblind), eng am Körper sitzenden Pullover, den nicht zu berühren äußerste Zurückhaltung von den männlichen Gästen erforderte.
Ich hielt mich nicht daran. Der Joseph Lenbach, also das Faktotum, fuhr uns im geschlossenen Wagen nach Hause. Der arme Bursche hatte den ganzen Abend in der schwarzen Limousine gesessen und auf seine Herrschaft gewartet. Nun war es aber trotzdem schwer, mit ihm Mitleid zu haben, da er eine russische Pelzmütze trug, die seine zum Pferdeschwanz gebundenen eisgrauen, in Strähnen auch silbernen Haare nur zum Teil verdeckte…
(wird fortgesetzt)
Fotos von oben nach unten: 1. Joachim Lottmanns Münchener Domizil dieser Tage in der Beethovenstraße (oberste beiden Etagen), 2. Blick auf die Leopoldstraße beim Spaziergang durch Schwabing, 3. der Autor winkend vor Frank Stellas ‚Großes weißes Männchen, die Feldherrnhalle grüßend‘ (1997), 4. der Autor mit Frank Hartung an der Kreuzung Giselastraße / Leopoldstraße.
(*) heute, Mittwoch, 10. Dezember 2008, um 23.45 Uhr auf BR III „Mein amerikanischer Cousin“, Dokumentarfilm über Balthazar Getty, BRD 07, Regie: Severin v. Winzenburg