Das Prekariat tanzt.
Vielleicht hätte man es schon länger ahnen können, möglicherweise müssen. Doch seit diesem Album Nummer Drei besteht kein Zweifel mehr: Die Türen sind eine, wenn nicht die beste Band des Landes.
Gerade jetzt, nachdem auch die letzten Ausläufer der vielgerühmten Hamburger Schule Vergangenheit sind (Blumfeld), im allgemeinen Desinteresse verglühen (Die Sterne), Schriftsteller werden (Rocko Schamoni) oder die Rolle der elder statesmen mit Würde übernehmen (Tocotronic), füllen Die Türen diese Leerstelle mit atemberaubenden Liedern.
Diese Songs sind Agitprop für die Tanzfläche – und damit etwas, das sie sogar der Hamburger Schule voraus haben: wie die späten Blumfeld versuchen sie sich an einem blue-eyed-soul, aber shaken ihren booty nicht als Pose, sondern aus Prinzip, haben den Funk der Sterne, aber die Texte der Straße, den Witz von Schamoni, nutzen aber Disco nicht als Zitat, sondern als Grundlage und brüllen die Parolen der Zitronen, aber vermeiden deren Verkopftheit.
Kurz: wurde die Hamburger Schule immer mit dem etwas dämlichen Vorwurf der Gymnasiastenmusik belegt, sind die Türen das tanzende Prekariat. Uncool ist das neue cool und keine Arbeit, aber Disco sind nur zwei Textstellen, die exemplarisch für das dritte Türen-Album stehen.
Musikalisch kommt den Türen zu Gute, dass Berührungsängste nicht existieren. Die Isley Brothers der 70er, Power Chords, Twist & Shout, The Rapture und selbst Status Quo sitzen einträchtig nebeneinander. „Wenn es nicht rockt, ist es für den Arsch“ scheint die einzige Bedingung auf „P-O-P-O“ zu sein. Insbesondere die erste Hälfte dieser Platte ist dabei durchweg gelungen. Ein textliches Feuerwerk, das es verblüffender weise schafft, Allgemeinplätze, Floskeln, Slogans aneinanderzureihen, ihrem angestammten Kontext zu entreißen und dem Türen-Agitprop einzuverleiben. Maurice Summen deklariert seine Parolen über einen handwerklich perfekt gewebten Soundteppich, der Liedtiteln wie Tanz den Tanz die notwendige Dringlichkeit verleiht.
Wenn auf der zweiten Hälfte dieses extrem hohe Niveau auch nicht mehr ganz gehalten wird, schafft diese doch nur die Möglichkeit zum Atemholen für den größten Hit der Türen-Geschichte, mit dem die Berliner Band dieses Album beschließt: „Indie Stadt“. Eine auf Power-Chords gebaute Hymne über die Sehnsucht nach der großen Stadt, die nur eine bereits in Berlin lebende Gruppe derart überzeugend singen kann, weil die Türen wissen: hier ist auch alles scheiße. Der Eskapismus – nie wieder hier sein, immer nur da sein – er funktioniert nicht. Du bleibst da unten, die Arbeit will deinen Tag diktieren und wenn du ein besseres Leben willst, dann bleibt dir nur das Tanzen. „Indie Stadt“ vereint plakatives mit subtilem: während auf der einen Seite liebevoll belustigend all die Verzweifelten, die immer noch hoffen, dass es woanders besser sein könnte, angesprochen werden, hält die kleine Textzeile „Ich will eine ganz große Nummer werden. Eins, zwei, drei, vier.“ soviel bittere Enttäuschung in feiner Ironie bereit, dass man vor den Türen nur noch den Hut ziehen kann.
Den Türen ist die vielleicht beste, mit Sicherheit aber wichtigste deutsche Platte des Jahres gelungen. Das berühmte Emma Goldman Zitat schien nie passender: if I can’t dance, it’s not my revolution.
(Christian Ihle)
Anhören!
* Indie Stadt (hier)
* Die Welt wird mich von meiner spießigsten Seite kennenlernen (hier)
* Der Blues kommt zurück in die Stadt
* Sei schlau, bleib dumm
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