vonHelmut Höge 02.03.2010

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„Wein, Weinbund Gesang“ hieß es früher, dann „Sex & Drugs & Rock’n Roll“ und schließlich „Fressen, Ficken, Fernsehn“

„Der Hausmeister und Hobbyschnitzer Detlev P.aus G.entwickelte diesen Damenpoller, den er hier stolz am Frauentag präsentiert,“ schreibt Peter Grosse zu diesem Photo.

Wein oder Weib

Im Jahr 1805/06 veröffentlichte der Populärphilosoph und braunschweigische Hofrath Carl Friedrich Pockels „eines der wichtigsten Werke zum Männlichkeitsdiskurs um 1800“: das zweibändige „Der Mann. Ein anthropologisches Charaktergemälde seines Geschlechts“. Wie fast alle Aufklärer vor und nach ihm kommt er darin zu der Auffassung, dass der Mann seiner Natur nach asozial/egoistisch, aggressiv und unzivilisiert ist, erst durch den Einfluß einer Ehefrau wird aus ihm ein das Soziale nicht mehr gefährdendes Individuum.

2008 hat der Soziologe Christoph Kucklick die Männer-Studien von Pockels, Kant, Hegel, Fichte usw. als eine „Negative  Andrologie“ zu Beginn der Moderne bezeichnet – in seiner Doktorarbeit: „Das unmoralische Geschlecht“. Pockels machte sich darüberhinaus jedoch auch laut Kulick Gedanken, „wie Sozialität unter Männern denkbar ist“ – unter Männern, die keine Ehe eingehen (können oder dürfen). Für sie gibt es statt einer Frau den Wein! Pockels Abhandlung über „das Verhältnis des Mannes zum Wein“ ist fast 100 Seiten lang. Sie las sich damals weniger kurios als heute, meint Kulick, denn auch Kant u.a. Aufklärer erörteren um 1800 den Wein als Vehikel der „Offenherzigkeit“. Während Frauen laut Pockels durch den Alkohol „lüstern“ wie Männer werden, bewirkt der Wein bei Männern umgekehrt, dass „mäßiger Rausch“ sie zu Frauen macht. Sie werden toleranter und liebenswürdiger. Sie sind „keiner Verstellung und Hinterlist“ mehr fähig, kurzum: sie machen „zur Freude der ganzen Welt“ eine Wandlung zum Guten durch. Aber vor allem öffnet der Trunk ihr Herz – „und ergänzt so die weibliche Kardialbelebung durch eine alkholische“ (Ch. Kulick). Der Alkohol wirkt „als Antidot zu den Differenzen der Gesellschaft und den Egoismen der Männer“, ihre mit Wein verbundene Geselligkeit „ist eine Art konkrete Utopie, die Versöhnung nach Feierabend“ – indem  sie sich beim gemeinsamen Zechen laut Pockels „untereinander zu einem Geiste der Offenheit bekennen“. Für Kulick  „könnte das auch die Beschreibung einer Ehe sein. Und in der Tat entspricht das Trinken bei Pockels genau einem Eheschluß – ohne Frauen. In der Kneipe heiraten Männer. Der Alkohol sorgt dafür, dass Männer miteinander einen ähnlichen Grad an sozialer Kohäsion erreichen wie sonst nur mit ihren Frauen in der Ehe.“ Das ist utopisch gedacht, Pockels hat dabei nicht die schlechte Realität (in den Wirthäusern) übersehen: Der „Schwermüthige“ wird im Rausch zum „wirklich gefährlichen Menschen“, der Geschäftsmann wird zum Angeber, der Soldat spricht „mit nicht geringerm Egoismus von seinem Metier“, der Gelehrte „träumt sich eine Celebrität“, andere Männer werden „zanksüchtig, empfindlich und ungestüm.“ Der Geheimrat Goethe sah in  diesem Phänomen anscheinend auch was Gutes: „Der Wein, er erhöht uns, er macht uns zum Herrn und löset die sklavischen Zungen“. An dieser Ambivalenz – einerseits verblödet das Trinken auf Dauer, andererseits steigert es aber auch die Kreativität und den Gedankenmut, wie zuletzt der Philosoph Gilles Deleuze in seinem Film-Interview „Abécédaires“ ausführte –  hat sich bis heute wenig geändert.

In einem Schloß bei Schlüchtern im Oberhessischen lebt ein  Freiherr von Kühlmann-Stumm, der einen „adligen Saufclub“ gründete, sein Vereinsabzeichen besteht aus einer geschwollenen Leber in Gold. Auf die Frage, warum er nicht wie andere Adlige in der Gegend auch mit den sozusagen normalen Leuten in der Kneipe trinkt, antwortete der Freiherr, das „die bürgerlichen“ nicht richtig saufen können: „Sie werden entweder sentimental oder aggressiv“. Eine Beobachtung, die durchaus trifftig ist – jedenfalls in den hiesigen Kneipen, wo sich desungeachtet auch immer mehr Frauen einfinden und wohlfühlen. Im Weinland Italien käme man dagegen zu ganz anderen Beobachtungen.

Gleichzeitig machen die Weindiskurse, mit denen sich immer mehr Männer zu Weinkennern aufschwingen, aus diesem altehrwürdigen Verbindungsmittel der Geselligkeit eine Art Endzweck: Man öffnet nach Feierabend eine Flasche und gönnt sich bzw. genießt – für sich alleine – einen „guten“ oder „edlen Tropfen“. Und der oder das soll neuerdings auch noch möglichst gesund sein: Weinkonsum senkt den Cholesterinspiegel, schützt vor Herzinfarkt, hält schlank und kann sogar Krebs vorbeugen, meinen einige französische Wissenschaftler anhand von Versuchen mit Zellkulturen herausgefunden zu haben. Wer allerdings auf Nummer Sicher gehen will, der greift statt zum Wein zu einem „guten Buch“. Dabei ist dann allerdings Folgendes zu beachten: „Allein das Lesen von Begriffen wie Bier, Wein oder Schnaps kann die männliche Lust auf Sex steigern, wie Psychologen jetzt herausgefunden haben“ – und der „Spiegel“ sofort berichtete.

All diese Weindiskurse haben natürlich das gesellige Trinken nicht völlig aus der Welt geschafft, nach wie vor gibt es z.B. jede Menge Weinfeste. 2009 wollten u.a. die Weingutsbesitzer in Westdeutschland den „Mauerbruch ’89“, und natürlich ihre guten Weine gleich mit, zünftig feiern. Sie sind seit 1910 im „Verband Deutscher Prädikatsweingüter“ (VDP) organisiert. Unter dem Motto “ Die Freiheit zu Genießen – Genuss ohne Grenzen“ lud ihr Ehrenpräsident Michael Prinz zu Salm-Salm, ein pfälzischer Finanzfondsmanager und Weingutsherr, ins Wiesbadener Kurhaus. Die Gäste zahlten zwischen 195 und 650 Euro für eine „Galakarte“. Dafür wurde ihnen „Ostalgie in allen Sälen“, ein „Trabicorso“, ein Auftritt der Ostband „Die Prinzen“ und ein Udo Lindenberg-Look Alike geboten. Vor der Tür hatte zudem Bundesverteidigungsminister Jung ein Segment der Berliner Mauer aufstellen lassen. Daneben platzierte man dann einen hessischen Gelegenheitsjobber in Volkspolizisten-Uniform, mit dem die illustren Gäste sich photographieren ließen. Einige taten dabei auch so, als würden sie über die Mauer klettern bzw. sie einreißen.  Vorher gab es aber noch eine „Audienz“ beim Schirmherrn des 9. VDP-Balls Ministerpräsident Roland Koch. Dort erschien auch der anscheinend einzige Gast aus Ostdeutschland: Roy Metzdorf, Besitzer des „Weinstein“ am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg – dem laut „Kleinen Johnson“  besten Weinlokal Deutschlands. Er kam zusammen mit dem Weinkritiker und FAZ-Autor Stuart Pigott und hatte sein altes FDJ-Hemd dabei, das er jedoch nicht überzog, weil ihn das ganze reaktionäre Brimborium an dem Abend zu sehr irritierte. So mahnte z.B. Roland Koch, bei aller Freude über die gewonnene Freiheit nicht die Bundeswehrsoldaten zu vergessen, die früher an der gefährlichen innerdeutschen Grenze Dienst taten. Und der aus dem niedersächsischen Fürstentum Lippe stammende Schweinfurter Unternehmensberater Georg Prinz zur Lippe hielt eine Rede auf Sächsisch, denn er hatte 1990 das bei Meißen gelegene Weingut seiner Familie „Schloss Proschwitz“ zurückgekauft. Der Prinz zu Salm-Salm stellte sich bescheiden als „Michael Salm“ vor, erlaubte aber langjährigen Weggefährten, ihn einfach „Prinz“ zu nennen  Wieder zurück im Osten erzählte Roy Metzdorf uns in seinem Weinlokal: „Beachtenswert war außerdem, dass man zum Dinner sechs westdeutsche Weine reichte, die von ostdeutschen Kellnern serviert werden durften, dass Ministerpräsident Koch zum Prinzenlied ‚Du musst ein Schwein sein‘ stehend und rhythmisch mitklatschte, während man zum Lied ‚Ich wär‘ so gerne Millionär‘ Kerzen schwang. Und ferner die Bemerkung des Prinzen: ‚Man müsse sich das mal vorstellen – dieses Haus sei noch vom Kaiser eingeweiht worden und nun schlügen wir uns hier mit kleinen Prinzen rum’…

20 Jahre nach ’89 hat man sich dort also den Osten so richtig kommen lassen!  Solche Geschichten hören wir gerne, besonders in Krisenzeiten. Aber, so fuhr Roy Metzdorf fort, „wer glaubt, derlei Skurrilitäten können nur im Westen blühen, irrt. Noch vor dem Mauerbruch spielte sich in der DDR, wie mir erzählt wurde, folgendes ab: Den Wehrdienst leistend, musste einmal eine komplette Kompanie im Winter in kurzen Hosen antreten. Es kam ein Offizier, der die Beine der Soldaten begutachtete und die zehn Jungs mit den dicksten Waden abführte. Sie wurden in ein Waldstück gebracht, in dem ein bajuwarisch blau-weiß geschmücktes Bierzelt stand. Die Dickwaden bekamen Krachlederhosen und Trachtenhemden verpasst und mussten einen Abend lang, Maßkrüge schleppend, so tun, als seien sie Almbuben. Zu bayrischer Live-Blasmusik tafelte an Holztischen niemand anderes als das Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Abgeordneter der Volkskammer, Träger des Karl-Marx-Ordens, der Minister für Nationale Verteidigung Genosse Armeegeneral Heinz Keßler mit der versammelten militärischen Elite der DDR. Einige Jahre vor ’89 hatte man sich also hier den Westen so richtig kommen lassen!“

Bei dieser West-Ostdeutschen Geselligkeit stand allerdings Wein- gegen Bier-Seligkeit, ein Thema, dem sich bereits Nietzsche angenommen hat, der selbst jedoch statt Alkohol lieber Cannabis zu sich nahm: „Ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig.“ Diese  illegale „Droge“, d.h. der herumgereichte „Joint“, trat spätestens mit der Studentenbewegung langsam an die Stelle des Alkohols als „verbindendes Mittel“ einer Geselligkeit, die – wie auch schon um 1800 – gleichbedeutend mit Gesellschaft war, was sich nun jedoch vollends als utopischen Gegenentwurf verstand. Nur wenig später schon meldeten die Frauen daran erhebliche Korrekturen an. Die Autorinnen in dieser neuen „Frauenbewegung“ waren es dann, die noch einmal die Schriften der Aufklärer lasen – jetzt im Hinblick auf die Rolle der Frauen in deren (patriachalischen) Gesellschaftsentwürfen.

Demgegenüber behauptet Christoph Kulick: Nach den großen  Hexenverfolgungen und der Verhäuslichung und Moralisierung der überlebenden Frauen auf der Schwelle zur Moderne, „fixiert“ diese dann „in Männern ihre Ressentiments gegen sich selbst. Das Misstrauen an Maskulinität ist also weder neu noch systemgefährdend, sondern gepflegter Bestand der Moderne. Sie hadert von Anfang an mit ‚den Männern‘. Über dieses Erbe haben sich die Genderwissenschaften bislang nicht hinreichend selbst aufgeklärt.“

Wenn es stimmt, dass mit der Verfolgung der „weisen Frauen“ und „Hebammen“ auch das empfängnisverhütende Wissen der Frauen vernichtet wurde, dann resultierte die größere Soziabilität des „moralischen Geschlechts“ in der Moderne nicht zuletzt aus ihrer übergroß gewordenen Furcht vor (unerwünschter) Schwangerschaft, die eigentlich erst mit der „Pille“ wirklich gebannt werden konnte – von den Frauen  selbst und individuell.

Aber das ist nicht das Thema von Kulicks umfangreicher Studie über „Das unmoralische Geschlecht“ die Männer – wie es „um 1800“ begriffen wurde und woraus sich dann für ihn sowohl „der moderne Feminismus wie der moderne Wohlfahrtsstaat“ formierten, was sich zudem mit einer „Idealisierung von Mütterlichkeit“ verband:  „Kurz gesagt, Mütter plus Wohlfahrtsstaat bildeten eine neue Machtachse, die der Konstruktion von Frauen als universale Opfer männlicher Herrschaft, wie sie in feministischen Diskursen vorherrschte, widersprach.“ Das klingt zuletzt verdächtig an die  männiglichen Scheidungsopfer-Klagen  von Frank Schirrmacher, Matthias Matussek, Norbert Boltz u.a.. Wahr ist auf jeden Fall, dass der Alkoholismus bei Frauen in den Industrieländern rapide zunimmt, in Deutschland stellen sie bereits ein Drittel aller „Alkoholabhängigen“. Der Handel und die Winzer haben sich bereits darauf eingestellt – und bieten immer mehr Weinverköstigungen „nur für Frauen“ an. Der „Spiegel“ warnt: „Alkoholismus kann sich bei Frauen noch dramatischer auswirken als bei Männern. Einer aktuellen Studie zufolge erleiden Frauen nicht nur früher als Männer Herz- und Leberschäden, auch ihr Gehirn schrumpft im Laufe der Abhängigkeit stärker.“

Hallu oder Poller?

Ein- und  Aussteiger-Drogen

„Morgens Ritalin und Modafinil, abends Valium und Noctamid,“ damit wird laut Spiegel das Gehirn gedopt: „Viele Manager greifen zu Tabletten, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern.“ Das wäre nicht weiter schlimm, wenn man nicht von immer mehr Menschen verlangen würde, das sie ihr Leben besser „managen“ – zur Not eben mit sogenannten „Neuro-Enhancern“, „Smart Drugs“ auch genannt, die einen geistig und mental „gut drauf“ bringen. Sie sind eine Art „Tuning“ oder „Viagra für das Hirn“. „Glück ist machbar, heißt die Devise. Nachhelfen erlaubt,“ so sagte es der Hamburger Drogenexperte Günter Amendt, die „ideologische Grundlage“ dafür liefert seiner Meinung nach die „Positive Psychologie“.

Die Entwicklung und positive Einschätzung von „Stimmungsstabilisiatoren“ begann in den USA – mit „Prozac“. Eine Harvard-Studentin, Elisabeth Wurtzel, die diese Droge regelmäßig nahm, wurde mit dem (inzwischen verfilmten) Roman „Prozac Nation“ (1994) berühmt. Derzeit ist dort „Paxil“ die Nummer-1-Droge:  „Die Pille für Stille“, nannte „Die Woche“ das in Deutschland unter dem Name „Seroxat“ vertriebene Mittel, das gegen Schüchternheit, Sinnverlust und Verklemmung hilft. Als der Pharmakonzern Glaxo SmithKline es erfand, wußte er zunächst nicht  wofür. Aber dann stieß man bei der Krankheit „Social Anxiety Disorder“ (Sozialangst)  auf ein riesiges Einsatzfeld, das mit Hilfe von Selbsthilfegruppen beackert wurde. „The way to sell drugs is to sell psychiatry illness“, so beschrieb der Bioethiker Carl Elliott diese Umdrehung in der Forschung, die zuletzt Christopher Lane in seinem Buch „Shyness:  How Normal Behavior Became a Sickness“ thematisierte. Inzwischen sollen angeblich bereits 27 Millionen Amerikaner regelmäßig Antidepressive einnehmen.

Derzeit findet in Deutschland eine Debatte über die Freigabe von Neuro-Enhancern statt, die Argumente geben auch hier wieder die Amerikaner vor. Sie sagen: Kaffee, Tee, Nikotin etc. sind auch Neuro-Enhancer, jeder muß  selber entscheiden dürfen, welche er bevorzugt, um „gesellschaftsfähig“ zu sein bzw. zu bleiben.

Den angepriesenen neuen Leistungsdrogen stehen die verbotenen alten Spaßdrogen gegenüber: Opium, Morphium, Haschisch usw. Dazwischen z.B. Amphetamin: als „Speed“ ist es eine Leistungsdroge für Soldaten, Piloten und LKW-Fahrer, als „Ecstasy“ eine Enthemmungs- und Partydroge. Ähnliches gilt für die „Autohändlerdroge“ Kokain, das unter Geschäftsleuten als Einstiegsdroge für die legalen „Neuro-Enhancer“ fungiert.

Der taz-Drogenredakteur Matthias Bröckers spricht statt von Spaß- und Leistungsdrogen von „Us“ and „Them“: Erstere, das sind z.B. all jene Millionen „Leistungsträger“ in den USA, die regelmäßig Kokain schnupfen. Für sie wurde das Betäubungsmittelgesetz dahingehend geändert, dass man nun für  500 Gramm 5 Jahre ins Gefängnis kommt. So viel Koks kauft kein Konsument auf einmal (ein Gramm kostet etwa 100 Euro). Es ist also eine Strafe nur für Dealer. Anders sieht es mit der Unterschicht-Droge „Crack“ aus. Sie besteht aus Kokainsalz und Backpulver (Natron) – ist also viel billiger (und schlechter als Kokain). Dafür wird bereits der Besitz von 5 Gramm mit 5 Jahren Gefängnis bestraft.

In der Hippiebewegung hieß es „Turn on, tune in, drop out“: Nimm einen LSD-Trip oder einen Joint, stell dich auf die neuen Umgangsformen – z.B. im Hippieviertel Haight-Ashbury von San Francisco – ein und steig aus – aus dem ganzen „Schweinesystem“: der verfluchten „Leistungs- und Konsumgesellschaft“. Statt LSD und Haschisch wurde aber schon bald an allen Ecken Heroin verkauft. Der Dichter Allen Ginsburg durfte sich über diesen Drogen-Wechsel  auf der Seite 1 der New York Times äußern. Er schrieb, dass die ganzen Heroin-Dealer von der US-Regierung mit dem Stoff beliefert werden. Und diese will damit die Bewegung der „Aussteiger“ (Drop-Outs) zerschlagen. Der NYT-Herausgeber Arthur Sulzberger fand diese Anschuldigung so absurd, dass er auf der selben Seite dagegen Stellung nahm. Jahrzehnte später mußte er jedoch einräumen, dass Allen Ginsburg Recht gehabt hatte. Der ganze „War on Drugs“ der US-Regierungen reduziert sich darauf, daran mit zu verdienen und Drogeneinahmen für Waffengeschäfte zu nutzen. Bevor die Heroin-Dealer auf die kalifornischen Hippies losgelassen wurden, hatten US-Armee und Geheimdienste die Aussteiger-Drogen getestet – u.a. in Harvard. Einen solchen Test – an englischen Soldaten – findet man auf „YouTube“ – unter „LSD test“: Ein Soldat klettert auf einen Baum und kommt nicht mehr runter, andere wälzen sich lachend auf dem Boden – der Offizier ist schließlich nicht mehr Herr der Lage. Fazit: Mit dieser Spaßdroge ist kein Staat zu machen. Verbieten! Und so geschah es dann auch.

Im übrigen war auch die am Aufbau eines alternativen (sozialistischen) Staates beteiligte Linke, „Politfraktion“ in der Studfentenbewegung genannt, durchaus drogenfeindlich eingestellt: „Hasch macht lasch!“ so lautete eines ihrer Credos. Die Spaßdrogen sind als praktische Leistungsgesellschaftskritik aber auch analytische „Werkzeuge“. Tausende von Dichter und Maler haben mit der dadurch  bewirkten Wahrnehmungs- und Empfingungs-Verschiebung im Sinne einer „Bewußtseinserweiterung“ gearbeitet – z.B. Nietzsche: „…So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur. Ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig.“

Der „Druck“ dieses speziellen Schweinesystems äußert sich hier und jetzt u.a. darin, dass es infolge der Computerisierung Zigmillionen Menschen arbeitslos (d.h. überflüssig) macht, sie jedoch gleichzeitig zwingt, „Mehr Leistung“ zu zeigen. Die Arbeitsagenturen werden bald darauf dringen, dass ihre „Patienten“ entweder Neuro-Enhancer schlucken oder man kürzt ihnen die HartzIV-Bezüge. Auch die Nebenfolgen dieser Leistungsdrogen sind äußerst staatsgefällig: Ritalin schluckende Kinder (allein in den USA sind es 4 Millionen) „verzwergen“ (dadurch passen mehr in eine Klasse) und Erwachsene sind spätestens mit 40 „burned-out“ und mit 50 so gut wie tot (das entlastet die Rentenkassen). 2007 wurden  in Deutschland etwa 54.000 Menschen als „burned-out“ anerkannt, jeder fünfte Deutsche leidet unter Depressionen. Spiegel-online porträtierte unlängst ein solches Staats-Wrack – unter der Überschrift: „Wow, was für ein Gefühl“.

2009 fand in Herisau bei St.Gallen ein „Suchtsymposium“ statt, auf dem u.a. der Hamburger Sozialwissenschaftler Günter Amendt ein Referat hielt. Dieses hat nun die Zeitschrift „konkret“ nachgedruckt. Amendt geht darin von einer Studie der Deutschen Angestelltenkrankenkasse  (DAK) aus, die 3000 Erwerbstätige im Alter von 20 bis 50 Jahren zum Thema „Doping am Arbeitsplatz“ befragen ließ. Danach haben hochgerechnet „zwei Millionen Deutsche bereits Erfahrungen mit hirnaktivierenden Substanzen, und 800.000 gesunde Arbeitnehmer schlucken, um den Alltag zu bewältigen, regelmäßig Pillen.“

Günter Amendt hält diese Zahlen für ebenso alarmierend wie das „autoaggressive und selbstdestruktive Konsumverhalten vieler Jugendlicher im Umgang mit der Droge Alkohol“. Andererseits stimmt er dem kürzlich mit 93 verstorbenen Psychoanalytiker Paul Parin grundsätzlich zu, wenn der fordert, alten Menschen alle Drogen, nach denen sie verlangen, zugänglich zu machen. Parin hat selbst regelmäßig Haschisch, Kokain, Opium  und Morphium genommen. Er sieht auch kein Problem darin, dass jemand z.B. morphinsüchtig wird: „Das ist doch egal, wenn er dafür ein besseres Alter hat.“

Dennoch will Günter Amendt seine „Bedenken und Einwände nicht verschweigen…Mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen sind unzufrieden mit der Arbeit, die sie verrichten. Jeder zweite hat Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Jeder zehnte empfindet seine Arbeit als gesundheitlich belastend. Mehr als 4 Millionen Arbeitnehmer in der BRD schlagen sich durch mit einem Zweitjob…“  Amendt reicht die Empfehlung der DAK-Studie – statt Neuro-Enhancer, die erhebliche Gesundheitsrisiken und Suchtgefahren beinhalten „eine ausgewogene Work-Life-Balance“ – nicht: Angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Situation „ist eine ausgeglichene Work-Life-Balance kaum zu erwarten.“

Zuvor hatte die US-Journalistin Anjana Shrivastava angesichts des  Verkaufserfolgs der Drogen (Paxil, Fluoxetin u.a.) – gegen Depressionen, „Sozialangst“, „Lampenfieber“ etc. zu bedenken gegeben, dass deren massenhafter Konsum Ausdruck eines seit den Reaganomics übersteigerten Selbstdarstellungs- und Präsenz-Wahns sei, der vor allem den Mittelschichtfrauen zusetzt, bei denen die anerzogene Schüchternheit und Bescheidenheit in der ihnen auferlegten Karriere bremsend wirkt. Sie werden von dreierlei Anforderungen belastet: „Einmal vom Schönheits- und Jugendgebot, dann vom Mutterideal und schließlich vom Erfolg im Beruf. Ohne diese Drogen könnten die Frauen nur ein ganz, ganz einfaches Leben führen. Die Natur des Menschen ist vielfach den Anforderungen des modernen Großstadtlebens nicht mehr gewachsen, deswegen muß die Chemie hier helfend eingreifen“.

Günter Amendt sieht als Alternative zu chemischen Mitteln vor allem den kollektiven Widerstand – gegen diese gesellschaftlichen Zustände. Dazu  erwähnt er u.a. die Betriebsbesetzungen von Belegschaften in Frankreich, die teilweise ihre Manager in Geiselhaft nahmen. Ebenfalls als einen Art kollektiven Widerstand begreift er aber auch die 23 Mitarbeiter bei France Télécom, die seit Anfang 2009 Selbstmord begingen, weil sie das „Betriebsklima“ nicht mehr aushielten, sowie alle jene – besonders in Ostdeutschland, die sich „neonazistischen Parteien und Gruppierungen anschließen“. Noch wahrscheinlicher aber ist, dass die Massen „ihren Frust und ihre Verzweiflung – flüssig oder pillenförmig – einfach runterschlucken. Explosion oder Implosion – darauf wird es hinauslaufen“.

Drei holländische Spaß-Pilone und fünf Plastikhelme. Photo: Peter Grosse


Transsubstantiationen

In Dietmar Kampers Buch „Zur Geschichte der Einbildungskraft“, geht es u.a. um das Marburger Religionsgespräch zwischen Luther und Zwingli. Luther hat dabei noch – ganz mittelalterlich und ganz katholisch – gegen Zwingli an der „Transsubstantiation“ festgehalten. Es ging ihm dabei „um die Maßgeblichkeit des menschgewordenen Gottes, des ‚Wortes‘, das Fleisch wurde, da es nicht Begriff werden konnte, das in der Transsubstantiation‘, im Stoffwechsel des Heiligen und des Profanen, des verklärten und des natürlichen Körpers existiert. Durch diese Transsubstantiation ist das Irdische unendlich geheiligt, wird aber auch das Heilige ganz irdisch.“

Bazon Brock schreibt – in „Sehnsucht und Flügel“ (1983) – über eine Werbekampagne des Schweizer Nahrungsmittelkonzerns Bell: Es geht dabei um eine „Wandlung“ – eine Metamorphose, eine Transformation. „Den Charakter dieser Wandlung veranschaulicht Bell mit dem Hinweis darauf, wie das Verzehren von Nahrungsmitteln die Nahrung selber und auch den Esser verwandelt. Denn: Bell propagiert ja den Verkauf von Nahrungsmitteln, indem er Passanten zu potentiellen Essern werden läßt. In theologischer Hinsicht ist diese Metamorphose auch ein Vorgang der Wesensverwandlung, beim Abendmahl der Christen verwandeln sich Brot und Wein in Blut und Leib Christi, bzw. Brot und Wein wandeln sich zu realen Repräsentationen des Blutes und des Leibes Christi (erstere Wandlung wird als Transsubstantiation, die zweite als Consubstantiation verstanden).“

In der Trans- bzw. Consubstantiations-Debatte wird zumeist ausgeklammert, dass diese vermeintliche „Wesensverwandlung“ eine weitere zur Voraussetzung hat: Die von Getreidekörner in Brot und von Trauben in Wein nämlich. Für diese beiden  Transsubstantiationen braucht es den gezielten Einsatz von Mikroorganismen. Praktisch wird damit bereits seit 11-15.000 Jahren experimentiert, das Wissen darüber – u.a. über die dabei wichtigen Hefepilze – verdanken wir den Weißkitteln um Louis Pasteur. Inzwischen weiß man mithin: Es gibt Wein- bzw. Branntweinhefen und Bäckerhefe. Beim Wein verwandeln die Mikroorganismen den Fruchtzucker der Trauben in Alkohol, beim Bier ist der Ausgangsstoff für die Gärung Stärke. Der Münchner Biologe Josef Reichholf stellte kürzlich in seinem Buch „Warum die Menschen seßhaft wurden“ die These auf, dass die ersten Agrikulturen im fruchtbaren Nahen Osten ihre  Getreideernten zunächst vor allem dazu verwendeten, Bier zu brauen – und nicht, um Brot daraus zu backen. In den DDR-Knästen machte man später – umgekehrt – aus Brot Bier, das aber nur am Rande. Um aus Getreide Bier zu machen, werden  zumindestens beim obergärigen Bier in Flandern neben Hefepilzen auch noch Milchsäurebakterien eingesetzt. Zweierlei ist dabei interessant: 1. schmeckt ein in Gent gebrautes Bier anders als ein in Brüssel hergestelltes – weil dort die Bakterien andere sind, wie ein flandrischer Braumeister mir versicherte. Und 2. wurden und werden viele flandrische Biere immer noch in Klöstern gebraut.

Hier beherrschen die katholischen Mönche also sowohl noch die Transsubstantiation von Getreide in Bier als auch die von Brot-Laibern in den Leib Christi. Flandern ist ein Bierland und ein katholisches Land. Kann es sein, dass die eine Transsubstantiation nicht ohne die andere zu haben ist? Natürlich setzt die Verwandlung von Wein in Blut die von Trauben in Wein voraus, aber ich meine eher eine psychologische oder neurologische Voraussetzung: Kann es nicht sein, dass die erste Transsubstantiation, wenn man ihr Endprodukt genießt (trinkt), empfänglich macht für die zweite, also dass man vulgar ausgedrückt erst besoffen sein muß, d.h. als Bevölkerung die massenhafte Erfahrung von Trunkenheit gemacht haben muß, um die Verwandlung eines alkoholhaltigen Erfrischungsgetränks in das Blut des Herrn beim Abendmahl zu akzeptieren?

Im orthodoxen Russland gilt der Betrunkene noch immer ein bißchen als „Heiliger Narr“. Während im protestantischen Amerika und Skandinavien, wo sich Zwinglis Ansicht durchsetzte, dass der Abendmahlswein sich nicht wirklich in das Blut Christi verwandelt, sondern dieses nur symbolisiert, ein Betrunkener moralisch diskreditiert wird, weil er seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Dementsprechend meinen dann auch einige Stockholmer Forscher, dass bereits 50 g Alkohol täglich (etwa ein Liter Bier oder ein halber Liter Wein) bleibende Schäden im Gehirn verursachen. Andere  schwedische Wissenschaftler (katholische?), vom Karolinska Institut, haben nun jedoch das Gegenteil „bewiesen“ – dass Alkohol die Bildung neuer Nervenzellen stimuliert.

Zwei einsame schottische Hochlandpoller. Photo: Peter Grosse

Als Alkoholtester in Polen

Ein Journalist in der Reisegruppe nach Polen erzählte, er hätte in der Toskana in einer Kneipe mit Einheimischen Grappa  getrunken und, obwohl er kaum Italienisch konnte, irgendwann alles und alle um ihn herum verstanden. Ein ähnliches Erlebnis hatte ein anderer Journalist einmal in einer Bar in Havanna mit Rum gehabt. Wir zogen daraus den Schluß, dass man im Ausland zum besseren Verständnis der Einheimischen den Alkohol trinken sollte, der dort auch produziert  wird. Was aber ist der den Polen sozusagen gemäße Alkohol – und kann oder mag man als Fremder da mithalten? Zur Beantwortung dieser Frage fuhren wir als Erstes in die Woiwodschaft Westpommern, wo wir in der Hauptstadt Stettin den Wodka des noch staatlichen Konzerns Polmos kosteten.

Vorweg: Alkohol wird aus dem Saft pflanzlicher Stoffe gewonnen, indem deren zucker- und stärkehaltige Substanzen mit Hilfe von Pilzen oder Bakterien zur alkoholischen Gärung gebracht werden. Es ist ein biologischer Prozeß, dem folgen u.U. ein bis drei physikalische, die aus einem thermischen Trennverfahren bestehen. Dabei entsteht mit Hilfe von Hitze und Destilliergeräten ein flüssiges Kondensat: (mehr oder weniger hochprozentiger) Schnaps.

Früher fanden diese beiden Prozesse sowie auch der Anbau der dazu notwendigen Pflanzen quasi unter einem Dach statt, heute unter mehreren getrennten, wobei die Zutaten teilweise von weit her kommen. Dies ist auch beim Wodka der Firma Polmos in Stettin der Fall: Die Grundsubstanz, Roggen, wird von pommerschen Bauern angebaut und an verschiedene kleine Destillerien in der Region verkauft, diese versorgen Polmos dann mit Alkohol, der in Stettin zunächst mit Wasser versetzt, d.h. auf trinkbare 40-50% reduziert wird, um dann in Kellergewölben gelagert zu werden. Die tiefen Keller waren früher Teil eines Stettiner Forts, in das 1863 eine Brauerei einzog, die dort „Victoria-Bier“ produzierte. Nach dem (verlorenen) Ersten Weltkrieg stellte sie auf Weinbrand um – und nach dem Zweiten auf Wodka der Marke „Starka“. Die Eichenfässer, in denen er lange reifen muß, bis zu 50 Jahre, werden zunächst für fünf  Jahre nach Spanien geschickt, wo sie mit Malagawein gefüllt werden – und dadurch ein Aroma ansetzen, das anschließend dem Stettiner Wodka zugute kommt. Wir probierten 5, 10 und 18 Jahre alten „Starka“, er sieht im Glas aus wie Cognac oder Whisky – und für die EU ist er das auch. Aber eigentlich handelt es sich dabei um einen in Polen schon seit 500 Jahren üblichen „Hochzeitsschnaps“, den man bereits kurz nach der Geburt des Bäutigams ansetzte und dann lagerte. Pro Jahr werden bei Polmos eine Million Liter produziert, im Keller lagern ständig 3 Millionen. Die Firma hat 84 Mitarbeiter, aber nur einen Geschmackstester, der für den Mix zuständig ist, durch den  eine gleichbleibende Qualität gewährleistet werden soll. Daneben produziert Polmos auch noch einen Kräuterschnaps sowie einen „Jonny-Walker-Lookalike“ – Whisky, der sich bei der zunehmend wodkaablehnenderen Jugend in Polen großer Beliebtheit erfreut. Auch der mitreisende SZ-Journalist meinte nach dem Probieren: „Das war schon mal ein sehr guter Einstieg“ – in das Thema polnischer Alkohol. En passant erfuhren wir dann beim Essen am Stettiner Hafen noch, dass man dort auch immer mehr Touristen an die einheimischen Alkoholikas heranführt, die aus ganz unterschiedlichen Motiven nach Westpommern reisen: Die Franzosen aus sentimentalen Gründen, weil seit den napoleonischen Kriegen etliche Franzosen hier hängen blieben. Die Deutschen wegen der Wellness- und Fitness-Angebote sowie auch der vielen  Zahnkliniken in der Stadt. Die Norweger wegen der Golfplätze. Die Dänen und Schweden wegen der Campingplätze. Die Italiener und Spanier, weil ihr Söhne oder Brüder hier auf einem Nato-Stützpunkt stationiert sind. Die Russen, weil man in Westpommern unkomplizierter Angeln kann als z.B. in Deutschland. Und die Finnen – wegen des billigen Alkoholangebots. Dazu zählen jedoch nicht die Wodkas der Marke „Starka“, von denen die teuerste Flaschenabfüllung über 150 Euro kostet.

Um noch mehr Touristen nach Stettin zu locken, setzt man auf maritime Freizeitvergnügen, u.a. Regatten und Segelschiffparaden, dazu will man die Wasserwege und vor allem Inseln erschließen, die Grünanlagen ausbauen und sogenannte „Floating Garden“ anlegen.

In der benachbarten Woiwodschaft Lubuskie, „favourable for investors and tourists“, geht es ebenfalls um die „Bewirtschaftung“ von Seen und Stränden sowie den Ausbau der zwei Nationalparks, wovon einer, an der Warthemündung, in den deutschen Nationalpark „Unteres Odertal“ übergeht. Deswegen gibt es hier auch mehrere grenzüberschreitende Projekte – u.a. das Jugendbegegnungszentrum „Lesna“, das man mit der Oderbruch-Gemeinde Golzow zusammen plant.

Unsere erste Zwischenstation auf dem Weg in das polnische Weinbaugebiet um Zielona Gora ist das 2001 eröffnete  Schloßhotel Mierzecin. Hier bauten deutsche Gutsbesitzer seit 1861 Kartoffeln an und machten daraus Wodka. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Gebäude fast vollständig zerstört. Jetzt gehört es den Besitzern der Lackfabrik Novol. Sie steckten bereits mehrere Millionen Euro in ihr Schloss-Hobby. Allein 80 Mitarbeiter sind hier mit der Pflege des Reitstalls, einer Fischzucht, des Hotelbetriebs, eines Weinbergs und eines englischen sowie eines japanischen Parks beschäftigt. In den nahen Gewässern kann man Kajak fahren, die Gemeinde Dobiegniew will sie für Segler ausbauen, für die Hotelgäste gibt es ein „Spa“-Angebot, das ebenfalls erweitert werden soll. Mit dem Weinanbau wird aber noch experimentiert. Zwar geht er auf Zisterziensermönche im 13. Jahrhundert zurück – und wurde im 19. Jahrhundert im „Lubusker Land“ noch einmal wiederbelebt, aber erst mit den neuen (privaten) Schloßbesitzern wurde jetzt ein neuer Versuch gewagt. Im kommunistischen Polen hatte es zuvor nur Obst- und Importweine gegeben.  Auf dem zu „Mierzecin“ gehörenden Weinberg wachsen derzeit 18 verschiedene Sorten, die „Technologie“ stammt von Weinbauern an der Mosel. Der Ertrag liegt bei 5000 Flaschen jährlich und wird für den Hotelbedarf verbraucht. Wir konnten ihn noch nicht kosten, da die erste Weinernte erst noch bevorstand, bekamen dann jedoch im Hotelrestaurant – ohne nähere Erläuterungen – Wein, Sekt und Weinbrand  aus Polen serviert. Auch bei unserer nächsten Zwischenstation, auf dem Zisterzienserkloster Paradyz in Goscikowo, gab es keine Weinverköstigung. Zwar wird dort noch Obst im Klostergarten angebaut, aber diesen hat man verpachtet. Das Kloster ist heute Sitz des Priesterseminars der polnischen römisch-katholischen Diözese Zielona Góra-Gorzów. Ein junger Diakon zeigte uns die derzeit von der EU und der Unesco finanzierten Restaurationsarbeiten im Inneren der 1230 erbauten Kirche. Insbesondere die Journalistinnen unserer Gruppe waren von seinen weltgewandten Ausführungen begeistert.

Die nächste Station auf dem Weg nach Zielona Gora war ein Weinberg nahe Zabor. Er gehört einem Lokaljournalisten, dessen Eltern früher Kirschbäume bewirtschafteten. Krzysztof Fedorowicz  baut seit fünf Jahren Wein an und hat einen eigenen Weinkeller – die „Winnica Milosz“, wo wir u.a. seinen Spätburgunder, Zweigelt und Traminer probierten. Der Weißwein war mir etwas zu geschmacklos und der Zweigelt schmeckte ähnlich wie ein in Tschechien weitverbreiteter Rotwein. Aus Mähren holt  sich der nebenberufliche Weinanbauer, der 2000 Liter jährlich produziert, auch seinen Rat. Es gibt etwa 30 bis 40 Weinbauern in der Gegend, erzählte er uns, sie bieten ihre Produkte vor allem auf dem alljährlichen Weinfest in Zielona Gora an. Da dem polnischen Staat noch nicht klar ist, wie er sie besteuern soll – ob als Bauern und/oder als Unternehmer (was einen großen Unterschied macht), behelfen sich die Weinbauern einstweilen noch damit, dass sie für 15 Zloty bloß ihre Visitenkarten verkaufen – und eine Flasche Wein gratis dazugeben. Seit Beginn der neuen Zeit in der nördlichsten Weinanbauregion Europas wird der Wein ungeachtet dieser Distributionsprobleme in Polen immer populärer, versicherten alle unsere  Begleiter und Informanten.

In Zielona Gora gibt es einen imposanten Weinberg  mitten in der Stadt – mit einem Palmenhaus obendrauf, das gleichzeitig eine Art Bürgerzentrum mit Restaurant und Veranstaltungsräumen ist. Unten in der Altstadt besichtigten wir noch ein Heimatmuseum, das dem örtlichen Weinanbau eine ganze Abteilung gewidmet hat. In dem einstigen Grünberg waren es zuletzt vor allem deutsche und jüdische Fabrikanten, die aus den einheimischen Trauben erst billigen Wein, dann aber auch Sekt und Weinbrand  machten. Unser Dolmetscher dort las uns eine von vielen um 1900 kursierende Satiren auf den sauren Grünberger Wein vor – und behauptete dann, dass sie – immerhin – dazu beigetragen hätten, dass später – im Kommunismus – die meisten Kabarettisten stets aus Zielona Gora kamen. Das sei noch heute in Polen so. Dass wir auf der „Fließend Polnisch“-Fahrt so wenig polnischen Wein zu kosten bekamen lag wohl auch daran, dass er noch eher ein Mittel zum Zweck – „gemütlichen Beisammenseins“ – ist (so wie vielleicht das Obstweinfest in Werder bei Berlin während der Baumblüte), als ein „guter Tropfen“, den man gerne auch alleine zu Hause genießt. Dabei mangelte es auf der Tour nicht an Gemütlichkeit. Diese stellte sich meist beim Essen in Kellerrestaurants ein. In Polen mag man anscheinend rustikale Kellergewölbe. Wir vermuteten, dass dies mit den ruhmreichen Perioden der polnischen Geschichte zusammenhängt, in denen das Land okkupiert war und nahezu die gesamte Gesellschaft in den Untergrund ging, um sich von da aus zu sammeln und den Aufstand zu wagen. Kaum befreit und auf ihren Nationalstolz beschränkt, drohte die polnische Gesellschaft aber auch schon wieder zu verzagen. Die Kellerrestaurants und -clubs wirken dabei als eine Art von Gegengift – d.h. wirkliche Gegenwart. Dazu paßt, dass unser polnischer RBB-Kollege uns versicherte, in Zielona Gora gäbe es eine sehr lebendige „Underground“-Scene – und dieser „Underground“ sei es, der die Gesellschaft immer wieder vorangebracht habe, nicht die Unternehmer und das Bürgertum.

Die Wodkafirma, die wir nach der Weinexkursion in Zielona Gora besuchten, war früher ebenfalls eine Weinbrand-Fabrik gewesen. Als man 1999 die Marken des staatlichen Wodka-Monopolbetriebs  „verteilte“, wurde die Marke Luksusowa an einen schwedischen Konzern verkauft, der u.a. „Absolut-Vodka“ produziert. Aber so wie in Autofabriken keine Autos mehr hergestellt, sondern nur Teile zusammengebaut werden, wird auch bei „Luksusowa“der Wodka nicht mehr destilliert. Die Firma bezieht den Alkohol aus den kleinen Schnapsbrennereien der Umgebung, die im Kommunismus wie auch schon während der deutschen Gutsherrschaft Teil  landwirtschaftlicher Betriebe waren. Die dort Beschäftigten taten dabei  nichts anderes als das, was auch die Landwirtschaftsminister der EU heute „ihren“ Bauern abverlangen: Dass sie ihre Produkte selbst weiter verarbeiten und wo möglich direkt verkaufen, denn Gewinn bringt heute vor allem der Handel. Die Firma „Luksusowa“, die quasi nur noch den Alkohol mit Wasser verdünnt und in Flaschen abfüllt, agiert heute primär am Markt und kreiert dafür immer wieder neue Wodkamarken – billige auf Kartoffel- und teurere auf Roggen-Basis. Bei ihrem letzten Luxuswodka – „Pan Tadeusz“, benannt nach dem gleichnamigen Epos des Nationaldichters  Adam Mickiewicz, geriet sie mit dem Staat in Konflikt, der eine derartig enge Verknüpfung dieses Kulturgutes mit dem Nationalgetränk der Jugend nicht zumuten wollte. Auf dem Etikett verschwand daraufhin ein Zitat von Mieckiwicz und sein Konterfei wurde mit mit dem Porträt eines Unbekannten (Dichters oder Trinkers) ausgetauscht. Den FAZ-Kollegen inspirierte das dazu, sich später ein Buch zu kaufen, in dem nahezu sämtliche Gedanken polnischer Schriftsteller über Alkohol aufgelistet waren. Sein polnische Frau würde ihm einige übersetzen – für seinen Reisebericht, meinte er. Es gab gleich mehrere Journalisten in der Gruppe, die sich über eine oder mehrere  Ehen mit einer Polin quasi zu Polenexperten entwickelt hatten. Bei unserer in Berlin lebenden Reiseführerin, Magdalena Korzeniowska, war es dagegen umgekehrt. Und wieder anders war es bei Friedrich Nietzsche, der zu viel „Bier“ in der deutschen Intelligenz fand – und darüber zu einem Polen wurde.

In der Luksusowa-Fabrik werden jährlich 60 Millionen Flaschen Wodka abgefüllt – auf zwei Produktionsstrecken: die eine schafft 5000 Flaschen, die andere 15.000 pro Stunde. Besonders beeindruckte uns dabei eine Arbeiterin, die fast allein in der Fabrikhalle in äußerst  unbequemer Haltung vor einem der Fließbänder saß auf einem Styroporstück und bei jeder Flasche den Verschluß und die Zollbanderole kontrollierte. An unserem Arbeitsplatz sitzen wir dagegen in der Regel auf einem ergonomisch ausgetüftelten Bürostuhl und haben es mit 26 verschiedenen Buchstaben zu tun. Nach dem Rundgang probierten wir im Verwaltungsgebäude vier Export-Marken der Firma „Luksusowa“, wobei uns der schlichteste (billigste) Wodka am Besten schmeckte, ihr „Kirschwodka“ dagegen am Wenigsten.

Weiter ging es nach Poznan – Hauptstadt  der Woiwodschaft Wielkopolska. Auf dem Weg dorthin kehrten wir noch in einer der vielen kleinen über das Land verstreuten Brennereien ein. Diese – in Koscian – produzierte den Alkohol für die größte polnische Wodka-Firma „Wyborowa“ in Poznan, hatte also einen festen Abnehmer und war dazu noch spezialisiert auf deren teuerste Wodka-Marke „Exquisit“ (die Flasche zu 120 Zloty), wofür sie eine besondere Roggensorte verwendete. Der Produktionsleiter bot uns im Keller der Destillerie fünf unterschiedliche „Wyborowa“-Wodkas zur Verköstigung an – nachdem er uns den Produktionsprozeß erklärt hatte. Hier waren die Arbeiter noch nicht von den Automatisierungs-Ingenieuren zu leidiger „Wetware“ degradiert worden. Zwischen den einzelnen Behältern und Pumpen für die biologischen und physikalischen Prozesse, die zur Alkoholproduktion nötig sind, standen Topfpflanzen – die liebevoll gepflegt schienen und überhaupt konnte man es in den Produktionsräumen gut aushalten. Der Betrieb liefert wöchentlich 20.000 Liter „Spiritus“, wie man im katholischen Polen sagt. Er wurde 1991 privatisiert und gehört jetzt zum englisch-irischen Agrarkonzern „Top Farms“, der skandalöserweise mit seinen zwei polnischen  Unternehmensteilen (in den  Wojewodschaften Oppeln und Wielkopolska) der größte Bezieher von EU-Agrarsubventionen in Polen ist. Diese sehen vor, große Agrarbetriebe zu bevorzugen, um sie wettbewerbsfähig zu machen, gleichzeitig sollen sie bewirken, dass von 4 Millionen polnischen Kleinbauern etwa die Hälfte aufgibt – und als Arbeiter sein Auskommen sucht. Der Alleinabnehmer der Brennerei, die älteste Wodkafabrik  in Poznan „Wyborowa“ , befindet sich im Besitz des französischen Spirituosenherstellers  „Pernod Ricard“. Als dieser sie erwarb, gab es ebenfalls Ärger wegen EU-Subventionen. „Wyborowa“-Wodka wurde bereits 22 mal als weltweit „bester Wodka“ ausgezeichnet, es gibt ihn in 91 Ländern, am meisten wird er seltsamerweise in Italien getrunken. Die „Exquisit“-Flasche entwarf Frank Gehry, ein US-Architekt, der winkelverdrehte Häuser baut – und so nun auch die Wodkaflasche.

Zum Mittagessen, in einem Restaurant am Marktplatz der Altstadt, servierte man uns dort selbst hergestelltes Bier – mit einer speziellen Sorte Gerste und teurem Hopfen gebraut. Bei den Mengen, die man zur Gänze im Restaurant verbrauche, 300.000 Liter im Jahr, könne man sich das gerade noch leisten, meinte der Braumeister, als er uns die Anlage vorführte. Und dann schimpfte er auf das „Scheißlager“ der großen Brauereien, die das Bier bis zum Gehtnichtmehr standardisieren und haltbar machen würden. So eine, die zur Zeit modernste der Welt, besichtigten wir dann am Nachmittag: die „Lech“-Brauerei. Sie gehört heute dem südafrikanisch-nordamerikanischen Getränkekonzern „SAB-Miller“. Ihre 700  Beschäftigten in der Brauerei bei Poznan werden von Eurest mit Fließband-Essen versorgt. Diese Catering-Firma gehört der US-„Compass Group“, die in 80 Ländern vertreten ist. Die alte Lech-Brauerei befand sich in der Innenstadt von Poznan, sie ist heute ein riesiges Kunst- und Kommerz-Zentrum, das als „schönstes Einkaufszentrum weltweit“ gilt. Die neue Brauerei am Stadtrand produziert nun noch mehr Bier als früher – nämlich 600 Millionen Liter jährlich. In Polen werden 96 Liter pro Kopf im Jahr verbraucht, insgesamt geht der Bier-Konsum jedoch zurück. Das Lech-Gebräu wird auch exportiert, es muß mindestens 6 Monate „stabil“ bleiben. Für einen Liter braucht es 3000 Gerstenkörner und 200 Gramm Malz, viel Wasser und ein bißchen Hefepilz. Die Produktion ist vollautomatisiert. Der Braumalz wird gleich nebenan von einer französischen Firma produziert. Den Bier-Herstellungsprozeß erklärte uns eine sprachkundige junge Frau, die zu einer ganzen Gruppe akademisch ausgebildeter  Fabrikführerinnen gehörte. Sie arbeitet auf Honorarbasis bei Lech. Die Besucher stehen dort Schlange. Während früher mehr Wodka in Polen getrunken wurde, verzehrt man jetzt mehr Bier und Wein, erfahren wir. Von Poznan fuhren wir zurück nach Berlin – mit weiteren Schnaps-, Wein- und Bierproben im Gepäck, dazu noch jede Menge regionales Informationsmaterial.

Als Biertester in Flandern

„Wen Bier hindert, der trinkt es falsch.“ (Gottfried Benn)

2008 argumentierte der Biologe Josef Reichholf in seinem Buch „Warum die Menschen seßhaft wurden“, dass das Getreide anfänglich nicht zu Brot verbacken, sondern zu Bier verbraut wurde, das man gemeinschaftlich auf Festen trank. Laut seiner „Bier-statt-Brot“-Hypothese war das Klima vor 10.000 Jahren so mild, dass der Mensch auch ohne den Anbau von Getreide leben konnte. Seine zunächst „umstrittene Theorie“ wurde nun von dem Archäologen Patrick McGovern erhärtet: „Uncorking the Past“ heißt sein Buch darüber. Der US-Autor untersuchte Funde in einem prähistorischen Dorf in China, in einer „feindlichen und rohstoffarmen Umgebung“, während Reichholf sich auf Ausgrabungen aus dem fruchtbaren Süden Jordaniens stützte. Seine „Überfluß“-Theorie steht somit im Gegensatz zu dem, was McGovern eine „weise Überlebensstrategie“ nennt – nämlich bei ständig knappen Ressourcen „energiereichen Zucker und Alkohol in sich hineinlaufen zu lassen“.

Eine dritte These, die sich auf die Region  Flandern in Belgien stützt, wo man noch heute über 500 Biere braut, könnte da lauten: Dass man über gemeinschaftsstiftende Gelage eher als mit Brot für sich und die Welt aus der Armut herausfindet. Dafür spricht eine Untersuchung der deutschen Agentur für Arbeit, wonach Arbeitslose, die viel Zeit in Kneipen verbringen, über mehr Kontakte verfügen und auch schneller wieder Arbeit finden, als solche, die bereits morgens anfangen, Sat1 zu kucken. Schon bei Bertolt Brecht kommt in „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ die Dialektik mittels Alkohol in Fluß. Brecht nimmt dabei den Hegelschen Begriff der „Flüssigkeit“ wörtlich. Laut Dieter Kraft gewinnt er dadurch eine ermutigende Botschaft: „Die Verhältnisse sind zwar dreckig, aber eigentlich kann man sie schon mit Kutscherschnaps wegspülen“.

Um 1400 gehörte Flandern zu den  Produktionszentren, in denen das Kaufmannskapital zur Bildung von Stadtgemeinden führte. Und während eine Mehrheit der Handwerker zu Arbeitern herabsank, gelang einer Minderheit der Aufstieg zu „experimentierenden Meistern“, zu Ingenieuren und Künstlern schließlich. Allein 140 „Flämische Maler“ zählt diesbezüglich Wikipedia auf. Die Scheidung zwischen Hand- und Kopfarbeit zeichnete sich laut Alfred Sohn-Rethel zuerst in den Produktionszentren der Textilindustrie, „namentlich in Florenz und Gent“, ab.

80 Jahre kämpften die selbstbewußten flämischen Bauern und Bürger dann um ihre politische Autonomie. In Charles de Costers Epos des Freiheitskampfes der Flamen gegen die spanische Herrschaft „Tyll Ulenspiegel“ geht es auch und vor allem darum, dass die beiden Helden sich kreuz und quer durch Flandern essen und trinken. Jedes Dorf hatte seine Spezialitäten. Und damals war bereits bekannt, dass man die Lebensmittel nicht weiter als eine Tagesreise (etwa 100 Kilometer) von ihrem Herstellungsort transportieren darf, wenn sie ihren Geschmack behalten sollten. Das gilt auch für Bier. Ein  Braumeister versicherte uns, das ein in Gent gebrautes Bier anders schmeckt als wenn man es in Brüssel herstellen würde, weil dabei andere Pilze und Bakterien mitwirken.

Im November lud das flandrische Tourismusbüro sieben deutsche Journalisten zu einer Bier-Verköstigungstour durch Gent und sein Umland. In Deutschland konnten die flandrischen Bierbrauer bisher, u.a. wegen des „Reinheitsgebots“, nicht so richtig Fuß fassen. Nun informierte man uns Journalisten vorab: „In Belgien hat sich die Vielfalt der Biersorten wie in keinem anderen Land erhalten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gab es mehr als 3.500 unabhängige Brauereien in Belgien. In der Nachkriegszeit mussten viele Brauereien ihren Betrieb einstellen, aber in letzter Zeit entstehen viele Hausbrauereien, so dass die Bierkultur eine wahre Renaissance erlebt. Heute werden die berühmten belgischen Biere in die ganze Welt exportiert“ – nur eben kaum nach Deutschland.

Als wir in der alten Universitätsstadt Gent ankamen, hatten die Bürger wegen  der „Klimaerwärmung“ gerade beschlossen, wenn man so sagen darf, an einem Tag in  der Woche kein Fleisch mehr zu essen – um die Treihausgasemissionen, die auf das Konto der Rinderzucht gehen, zu reduzieren. Man ist mit diesem „Entschluß“ quasi am anderen Ende der Wohlstandsspirale angekommen: Anfänglich war es in der Stadt am Zusammenfluß von Leie und Schelde primär darum gegangen, sich mindestens einmal in der Woche Fleisch leisten zu können. Noch die Arbeiter in den Genter Textilfabriken und Brauereien mußten hart dafür kämpfen. Das große Gebäude der Sozialisten im Stadtzentrum zeugt bis heute davon. Aus ihren   Fabriken wurden jedoch längst Museen, Einkaufspassagen und Büros.

Wir besuchten als erstes die kleine neue  „Stadtbrauerei Gruut“ – am Ufer der Leie. Hier wird nicht mit Hopfen, sondern mit einer Kräutermixtur, „Grut“ genannt, gebraut. Im 13. Jhd. teilte der Fluß Gent in  eine französische und eine deutsche Stadthälfte. Auf der östlichen Seite durften die Braumeister nur Hopfen und auf der westlichen nur Grut verwenden. Heute ist es hier eine Braumeisterin, Annick de Splenter, die uns „Gruut Blond“ zapft. Ihre Hausbrauerei produziert 10 Hektoliter in der Woche. Während der abendlichen „Bierwanderung durch Genter Kneipen“ finden wir zum gehopften Bier zurück. In den nächsten Tagen sollten wir noch „Kirschbier“ und süßsaures „Dark Bier“ sowie diverse Trappisten- und Abteibiere kennenlernen. Letztere in der Benediktinerabtei Affligem. Die 18 dort lebenden Mönche haben die Brauerei an den holländischen „Heineken“-Konzern verkauft. Einige der Affligem-Biere läßt man wie Champagner in der Flasche nachgären. Jährlich sind es insgesamt 200.000 Hektoliter.

Die Trappistenbiere werden noch immer unter Aufsicht von Mönchen gebraut. Ein Großteil der Erlöse aus ihrem Verkauf muß für soziale Zwecke verwendet werden. Ob dazu auch Alkoholentzugskliniken gehören, konnten wir nicht rausbekommen, wohl aber, dass es in den Kneipen verschiedene „Bierrituale“ gibt und in den Restaurants viele Speisen mit Bier zubereitet werden, es gibt ganze „Bier-Menüs“. Flandern schien uns reich – während wir über Land fuhren – von Brauerei zu Brauerei. Bei „Liefmans“ in Oudenaarde an der Schelde erwartete uns die älteste Braumeisterin Belgiens: Rosa Merckx. Sie hatte dort einst als Sekretärin angefangen, 1972 wurde sie Braumeisterin. Bei ihr kosteten wir neben warmem  „Glühbier“ mehrere Biere, die mit Milchsäurebakterien fermentiert werden – weswegen sie immer am selben Standort gebraut werden müssen, wie uns der junge Nachfolger von Rosa Merckx erklärte. „Der eher saure als bittere Geschmack kommt von dem speziellen Bakterien-Mix“. Die in der Flasche nachgegorenen „Liefmans“-Biere werden wie Sektflaschen verkorkt.

In  Oudenaarde wurde 1606 der Maler  Adriaen Brouwer geboren. Er malte ausschließlich Szenen aus dem Bauern- und Wirtshausleben, das ihn laut Wikipedia auch persönlich derart anzog, dass er schließlich verarmte. Wir tranken in seiner Geburtsstadt ein „Adriaantje“ auf den Maler, nachdem wir dort auch noch die Brauerei Roman besichtigt hatten. Sie ist seit 1545 in Familienbesitz, man sieht dem Fabrikkomplex noch an, dass er aus einem Landwirtschaftsbetrieb entstand. Wir probierten hier die Marken „Ename Double“, „Triple“ und „Blond“ sowie das Bier „Sloeber“ – so nennt man einen Genießer, „der vom Leben [anderer] profitiert“ und ferner das „Adriaen Brouwer Dark Gold“ – mit einem Alkoholgehalt von 8,5%. „Triple“-Biere können bis zu 9,5% haben. Deren Beliebtheit  wird mit dem Mönchsleben erklärt: „Sie brauten das Starkbier im  Winter – während der Fastenzeit, weil es nahrhafter ist, also im Winter dunkles und im Sommer blondes.“ Daneben kennt man in Flandern auch noch „Endjahresbiere“ – mit einem doppelten Hopfenanteil, was sie extrem bitter macht. In einer der Genter Kneipen  lernten wir außerdem das „Quak-Bier“ kennen: um es zu trinken, muß man einen Schuh abgeben, der in einem Korb an der Decke deponiert wird. In einer anderen Kneipe probierten wir ein perlendes „Geuze“. Es wird aus verschiedenen Jahrgängen des „Lambiek“-Biers hergestellt – was ein durch Spontangärung entstandenes Weizenbier ist. Es zählt zu den ältesten der Welt. Die Geschmacksbildner sind hierbei zwei Hefepilze, die nur in der Gegend um Brüssel vorkommen, der eine heißt „Brettanomyces Lambicus“, der andere „B. Bruxellensis“.

Ich hoffe, ich habe bei diesen vielen Bierverköstigungen und -belehrungen nichts durcheinander gebracht. Die Bierkultur entstand in Flandern jedenfalls  mit den Klosterbrauereien. Noch heute unterscheidet man Biere, „die man innerhalb der Klostermauern braut, von denen, die außerhalb gebraut  werden“. Beim Abendmahl verwandeln die Mönche und Priester  Brot und Wein in Blut und Leib Christi, bzw. Brot und Wein wandeln sich zu Repräsentationen des Blutes und Leibes Christi.  Die erste Wandlung wird als Transsubstantiation, die zweite als Consubstantiation bezeichnet. Beide haben eine weitere „Wesensverwandlung“ zur Voraussetzung: Die von Getreidekörner in Brot (bzw. Bier) und von Trauben in Wein. Für diese beiden  Transsubstantiationen braucht es den gezielten Einsatz von Mikroorganismen. Praktisch wird damit bereits seit 11-15.000 Jahren experimentiert, das Wissen darüber verdanken wir den Forschungen von Louis Pasteur. Inzwischen weiß man mithin: Beim Wein verwandeln die Mikroorganismen den Fruchtzucker der Trauben in Alkohol, beim Bier ist der Ausgangsstoff für die Gärung Stärke.

Flandern ist ein Bierland und ein katholisches Land. Kann es mithin sein, dass die eine Transsubstantiation nicht ohne die andere zu haben ist? Also  dass die erste Transsubstantiation, wenn man ihr Endprodukt genießt (trinkt), empfänglich macht für die zweite, dass man vulgar ausgedrückt erst besoffen sein muß, d.h. als Bevölkerung die massenhafte Erfahrung von Trunkenheit gemacht haben muß, um die Verwandlung eines alkoholhaltigen Getränks in das Blut des Herrn beim Abendmahl zu akzeptieren?

„Die Stadt, der Poller und der Müll…“ so Peter Grosse zu diesem Poller-Ensemble

Destinationen und Destillationen

Die Kunst des in Bukarest, Bergen und Oslo lebenden Künstlers  Dan Mihaltianu bestand lange Zeit aus Schnäpsen.

Schon Dans Großvater beherrschte die Kunst der Destillation – zur Selbstversorgung. „Mich interessiert jedoch nur der Brennprozeß – und der Alkohol als Geruchs- und Geschmacks-Erinnerung,“ meint der Künstler und denkt dabei weniger an den Rauscheffekt dieses Getränks als an die Proustsche Wiedereinsetzung aller Sinne in ihr altes Recht, am inneren Erleben, d.h. Erinnern, teil zu nehmen. Das Schnapsbrennen ist so gesehen auch ein Kampf gegen die Okulartyrannis, die nur (optische) Bilder gelten läßt. Andererseits verändert jedoch der Schnaps die optische Wahrnehmung derart, dass man in ästhetischer Hinsicht die verschiedenen Alkoholika durchaus bestimmten Kunstrichtungen zuordnen, d.h. dafür verantwortlich machen könnte – beispielsweise den in der Schweiz auf Wermutbasis destillierten Absinth („Grüne Fee“ genannt) für den Impressionismus, der einst in der französischen Bohème zum Kultgetränk aufgewertet wurde. Nicht wenige Maler gestalteten damals Etiketten von Absinthflaschen. Er wurde damals auf Druck vor allem der Weinhersteller verboten – und ist erst seit einigen Jahren wieder offiziell im Handel zugelassen.

Dan Mihaltianu sucht und findet die für das Schnapsbrennen benötigten (pflanzlichen) Grundsubstanzen jedesmal aufs Neue an den Ausstellungsorten, wo immer sein Künstlerschicksal ihn hinverschlägt – von seinen derzeitigen Basislagern Bergen, Berlin und Bukarest aus.  1994 verwendete er im Künstlerhaus Bethanien für seine Ausstellung „1954? zum einen Pflaumen, Sonnenblumenkerne und Wassermelonen, wie sie dort in der Umgebung von den Lebensmittelläden angeboten werden, und zum anderen Holunderbeeren vom Grab Marlene Dietrichs. Insgesamt entstanden dabei vier Destillate, die in kleine Flaschen abgefüllt, benamt und etikettiert wurden, das letzte nannte er „Der blaue Engel“.

1996 verwendete Dan Mihaltianu für seine New Yorker Ausstellung „Feuerwasser“ Früchte und Pflanzen vom Central Park in Manhattan. Im selben Jahr nahm er in Bukarest für seine Ausstellung „Sweet Child in Time Liqueur“ ein Gemisch aus Pepsi-Cola, aufgequollenem Getreide und Fruchtbonbons als Grundsubstanz. Für eine Ausstellung in Wien – „Kulturkonjak“ – 1997 nahm er Weine aus den ehemaligen KuK-Ländern – Ungarn, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Italien und Österreich – und brannte daraus einen Schnaps. 1998 benutzte er in Worpswede für seine Ausstellung „Worpswede – Parfüm“ Torf und Pflanzen aus dem nahen Teufelsmoor. Dieses Moor hat, beginnend mit den Impressionisten (u.a. Paula Becker-Modersohn und Otto Modersohn), immer wieder Künstler nach Worpswede gelockt – bis heute.

2002 nannte er eine Ausstellung in der Kunsthalle von Bergen „3rd space – a distillery at landmark“. Dazu stellte er einen gläsernen Destillierkolben an der Bar des „Landmark Cafés“ auf, zum Destillieren nahm er Wein. Außerdem installierte er drei Videokameras im Raum, die mit einem Videoprojektor verbunden wurden. Die erste Kamera nahm den Destillierprozeß auf, d.h. den aus dem Kolben tröpfelnden Alkohol, die zweite nahm die gesamte Installation auf, und die dritte – eine Web Cam, die ebenfalls auf die einzelnen Teile der Installation gerichtet war, erlaubte es, sich das Ganze im Internet anzukucken. „3rd space“ bedeutete in diesem Zusammenhang: 1. den realen Raum (der Installation), 2. seine Reflexion (als Videoprojektion) und 3. den virtuellen Raum (die Web Cam Bilder). Ebenfalls 2002 organisierte Dan Mihaltianu im schottischen Glenfiddich eine Ausstellung, die er „Degree 0? nannte. Zum Destillieren verwendete er hier reines Malz, wie es auch von den ortsansässigen Großbrennereien verwendet wird, die weltweit berühmt für ihren Whisky sind. In einigen Ausstellungen konnten die Besucher seine Destillate kosten. Meist kam dabei das Gespräch auf die Herstellung von Schnaps – gelegentlich auch auf die Gefahren übermäßigen Alkoholkonsums.

Britische Astronomen entdeckten Anfang April 2006 eine 463 Millionen Kilometer lange Alkoholwolke im All – und zwar im Abschnitt „W3 (OH)“. Sie besteht aus reinem Methanol – sogenanntem Fuselalkohol, der blind macht. Im Gegensatz zu Ethanol, der nicht nur trinkbar ist, sondern auch als Treibstoff, ähnlich wie Erd- oder Flüssiggas, verwendet wird – zur Substituierung von Benzin, d.h. von Erdöl. Gerade stellten einige Autofirmen ihre neuen, damit angetriebenen PKW-Modelle vor, u.a. den „Ethanol-Ford“.  Daneben wird auch immer öfter das Sumpf- oder Faulgas Methan (Methylwasserstoff), industriell genutzt – ebenfalls als Energiequelle. Die Kühe bzw. ihre Bakterien im Pansen produzieren es in solchen Mengen, dass die Tiere es nicht im Körper abbauen können, sondern sich dieses „Biogases“ durch Furzen und vor allem Rülpsen entledigen: Sie haben dadurch die Atmosphäre bereits zu 15% mit Methan angereichert, was u.a. den Treibhauseffekt bewirkt hat (Es gibt zwar nur 1,48 Milliarden Rinder auf der Welt, aber sie haben vier mal so viel Biomasse wie die Menschen). Dänemark will nun bei seinen Kühen, die allein 140.000 Tonnen Methan jährlich in die Atmosphäre abgeben, diese Gasproduktion drosseln, indem die Bakterien in den Rinderpansen ersetzen werden durch solche aus Känguruhmägen, die bei ihrer Verarbeitung der Gräser kein Methan freisetzen. (Die US-Zellbiologin Lynn Margulis gibt zu bedenken: Die Mikroorganismen im Pansen – „das ist die Kuh.“)

Umgekehrt produzieren immer mehr Bauern hierzulande gezielt das Biogas, indem sie Mist, Gülle, Klärschlamm und anderen organischen Abfall in Gärbehältern sammeln. Das bei der bakteriellen Zersetzung entstehende Methangas wandeln sie direkt über einen Motor, der einen Generator antreibt, in Elektrizität um, den sie in das Stromnetz einspeisen. Für jede Kilowattstunde zahlt man ihnen 14,7 Cent“, wobei jedoch die Energieausbeute der dabei verwendeten Verfahren noch nicht über 55% hinauskommt. Beim mikrobiellen Teil des Verfahrens „verarbeiten“ laut FAZ „in einem ersten Schritt fermentative Bakterien das ‚Futter‘ in Zucker, organische Säuren und Alkohole. Essigsäurebildende Bakterien machen daraus sodann Essigsäure sowie Wasserstoff. Und in einem dritten Schritt produzieren ‚Methan-Bakterien‘ das Biogas, das außer aus dem erwünschten Methan noch aus Kohlendioxyd, geringen Mengen an Wasser, Schwefelwasserstoff und Spurengasen besteht.“ Wenn im kommenden Jahr die Milchsubvention wegfällt, bekommen die Bauern wahrscheinlich für ihren verstromten Kuhmist mehr Geld – als für die Milch ihrer Kühe.

In Schweden will man sich vor allem mittels Bio-Ethanol vom Öl unabhängig machen. „Ist diese Schnapsidee ein Modell für den Rest der Welt?“ fragte sich der Spiegel. Dabei werden ganze Wälder, aber auch komplette Weizen-, Mais- und Zuckerrohr-Ernten (aus Brasilien) sowie schnellwachsende Weidenbäume in einem chemischen Wandlungsprozeß industriell verflüssigt, d.h. zu Ethanol verarbeitet. Die Schweden sollen den Alkohol fürderhin nicht mehr trinken, sondern verfeuern. Ihre neuen Ethanolfabriken und -abfüllanlagen werden deswegen vor verwegenden Trinkern besonders geschützt. Hier will Volkswagen demnächst Autos herstellen, die mit Ethanol fahren, das man beliebig mit Benzin mischen kann. Dazu liebäugeln die hessischen Weizenanbauer bereits mit der Umwandlung ihrer überschüssigen Ernten in Bio-Ethanol.  Die chemische Formel für Methan, dem einfachsten Alkan und Kohlenwasserstoff, lautet: CH4, seinen Alkohol nennt man Methanol oder Methylalkohol, er hat die Summenformel CH3OH. Als solcher kommt er in der Natur in Baumwollpflanzen, im Bärenklau, sowie in Gräsern und ätherischen Ölen vor. Bei der Verbrennung ist Methan effektiver als Methanol. Letzerer wird durch einen „Veresterungs“-Prozeß (d.h. durch eine Additions-Eliminierungs-Reaktion) zu „Biodiesel“. Die Produktion dieses Treibstoffs wird als erneuerbarer Energieträger derzeit subventioniert – sein Ausgangsprodukt ist hierzulande meistens Raps, aber auch Sonnenblumen. Etliche Bauern sind bereits dazu übergegangen, Biodiesel zu produzieren. In Mecklenburg gibt es einige Landwirte, die sich zusammengetan und Produktionslinien aufgebaut haben, die vom Rapsanbau bis zur Biodiesel-Tankstelle reichen, also in kleinstem Stil den gesamten Upstream- und Downstream-Bereich umfaßen, wie er auch von den meisten Ölkonzernen – im größtmöglichsten Stil – angestrebt wird.

Für den Künstler ist das Methanol wie erwähnt bloß „Fuselalkohol“, der giftig und somit nicht zum menschlichen Genuß geeignet ist. Aber gerade darum, d.h. um die Geselligkeit, geht es den meisten Künstlern, die in irgendeiner Weise mit „Allohol“ arbeiten, wie der „freischaffende Kunsttrinker“ Thomas Kapielski diesen Stoff – Ethanol, mit der Summenformel C2H5OH – nennt. Und womit er bereits auf seine Verwendung als „Rauschmittel“ anspielt, das man als die weltweit am häufigsten verbreitete Droge bezeichnen kann. Es wirkt besonders auf das Nervensystem und speziell das Gehirn: Man fängt an zu lallen (das gilt auch für Tiere), die Reaktionszeiten verlangsamen sich und das Blickfeld verengt sich (Tunnelblick). Aber so wie es unter den Prostituierten 0,1 bis 1 Prozent gibt, die ihre Arbeit zum eigenen Vergnügen tun und das Geld nur als zusätzliche Stimulanz brauchen, gibt es auch unter den Trinkern einige wenige, die quasi umgekehrt – im Tunnel Licht sehen, d.h. die mit steigendem Alkoholkonsum klarer denken und schneller und schärfer artikulieren (Oscar Huth z.B., siehe dazu seinen „Überlebenslauf“ im Merveverlag 2001).

Forscher – natürlich an der Universität von Stockholm – haben herausgefunden, dass bereits täglich 50 Gramm Ethanol (was etwa einem Liter Bier entspricht) „bleibende Schäden hinterläßt“. Die gesundheitspolitische Aufklärung weltweit ist deswegen voll von Warnungen vor zu viel Alkoholkonsum, während ein Großteil der privaten Reklameflächen voll von Alkoholwerbung ist. Zwischen dieser Spannung lebt der Trinker, was er mit fortschreitendem Alter besonders morgens tief, fast schmerzhaft, empfindet.  Es gibt noch eine weitere Spannung – in der nicht zuletzt auch Dans Destillationen stehen und die das Mischungsverhältnis zwischen heimlichem und geselligen Trinken mitbestimmt: Während in Russland der Begriff des „Heiligen Narrs“ und seine Wertschätzung sich dabei für lange Zeit, fast bis heute, quasi schmerzlindernd auswirkte, war in Deutschland der Adel stets davon überzeugt, das Bürgertum werde beim Trinken entweder aggressiv oder sentimental, weswegen er es vorzog, unter sich zu trinken. Die Bürger übernahmen später u.a. auch diese Meinung vom Adel – um sie dann ihrerseits gegenüber den Saufereien des Proletariats in Anschlag zu bringen. ()  Ganz anders verlief dieser Prozeß in Tschechien, wo sich (noch?) in den Kneipen eine sozusagen gesamtgesellschaftliche Geselligkeit erhalten hat. Für den Gießener Germanisten Georg Stanitzek war das mindestens im 18. Jahrhundert noch fast ein Pleonasmus, denn „Gesellschaft ist Geselligkeit – in der die Menschen einander ‚freudig‘, ‚gleich‘, ‚offen‘ begegnen, ist konversierende Interaktion, in der die Teilnehmer sich sympathisierend, symmetrisch, aufrichtig miteinander ins Verhältnis setzen“. Dieser „Gesellschaftsentwurf“ ist inzwischen jedoch fast schon zu einer Utopie geworden. Um der darüber aufgekommenden allgemeinen Trunksucht entgegenzuwirken, hat man in den USA neben einem vorübergehenden Alkoholverbot schon früh versucht, Alkoholsubstitute auf chemischem Weg zu finden, die sich zugleich als Massenprodukte herstellen lassen. Wobei es „inhaltlich“ stets darum ging und geht, Schüchternheit, Vereinsamung, Verklemmung, Blödigkeit, Lampenfieber, Sinnlosigkeit etc. mit dem Mittel (d.h. einer Droge in Form eines Medikaments) zu bekämpfen. Der Weisheit letzter Schluß heißt hierbei Paxil. ()  Letztendlich geben sich jedoch der russische Wodka und das amerikanische Medikament nichts – bzw. die Extreme berühren sich, obwohl sie als Drogen nicht einfach austauschbar sind: Während der US-Bürger übertrieben auf Alkoholgenuß reagiert, wirken bei den Osteuropäern andererseits die Tabletten nur halb so gut wie bei den Amerikanern. Dies hängt damit zusammen, dass man im Westen das Scheitern als persönliches Versagen begreift und im Osten eher als gesellschaftliches Problem. Dazwischen – in Westeuropa – versucht man sich gleichsam sozialdemokratisch auszubalancieren, d.h. es erfreuen sich Kombinationen von Alkohol mit Medikamenten und/oder anderen Drogen steigender Beliebtheit.  Auch hierbei kommt meistens Schnaps zur Anwendung.

Dan Mihaltianu bringt bei der Herstellung desselben genauso wie sein Großvater zwei Verfahren zur Geltung: Erst einmal ein mikroorganismisches, bei dem die zucker- und stärkehaltigen Substanzen durch Hefepilze oder Bakterien zur alkoholischen Gärung gebracht werden und dann ein physikalisches – die eigentliche Destillation: das Brennen, das aus einem thermischen Trennverfahren besteht. Dabei wird dem System Energie in Form von Hitze zugeführt, wodurch die vergorene Masse (bei der Bourbonherstellung nennt man sie Bier) hochkocht – und sich zwei gegenläufige Strömungen im Destillator ergeben: Der flüssige Teil fließt über Röhren nach unten, die gasförmigen Bestandteile strömen nach oben, darunter der Alkohol, der daraufhin in einem Kondensator abgekühlt wird. Das nunmehr wieder flüssige Kondensat wird aufgefangen. Es ist das, was man haben will: den Spiritus (von lateinisch Geist). Damit er reiner, konzentrierter wird, wiederholt man diesen Prozeß mehrmals. Das Wort Destillieren kommt aus dem lateinischen destillare – herabtröpfeln, es gewinnt, seitdem man vor etwa 1000 Jahren den Alkohol (Ethanol) entdeckte, stetig an Bedeutung. Das Alkoholbrennen ist in Deutschland ein beliebtes Hobby, so dass man hierzulande alle möglichen „Mini“-Destilliergeräte im Handel bekommt.

Dan Milhaltianu hat sich seine Apparatur selbst gebaut. In Sibirien besteht die einfachste Destillation darin, dass man die vergorene Fruchtmasse im Winter bloß rausstellt und einfrieren läßt – was dabei flüssig bleibt, ist der Alkohol. In Bulgarien haben viele Dörfer Gemeinschaftsbrennereien, wo jeder 200 Liter im Jahr für sich destillieren darf. Durch diese oder andere Destillierverfahren wird jedoch kein Alkohol produziert, sondern fast im Gegenteil – der zuvor von Hefepilzen und Bakterien produzierte Alkohol nur isoliert (gewonnen), durch wiederholte Destillation wird er jedesmal hochprozentiger.  Dass es sich bei seinen Produzenten überhaupt um selbstgesteuerte Lebewesen handelt, dass also schon bei der Entstehung von Alkohol so etwas wie Geist mitwirkt , offenbarte sich erst im späten 19. Jahrhundert – als Louis Pasteurs Laborexperimente in dessen Schrift „Études sur la bière“ gipfelten. Herrschende Lehrmeinung war damals die von Justus von Liebig, demzufolge es sich bei der Alkoholbildung um eine rein „chemische Reaktion“ handele. Die von Pasteur entdeckten Mikroorganismen schienen deswegen zunächst einen üblen Rückfall in den „Vitalismus“ zu bedeuten. Dieser behauptete nämlich ebenfalls einen Wesensunterschied zwischen der belebten und der unbelebten Natur – und befand sich damit im Gegensatz zum Mechanizismus und Materialismus, die alle Naturvorgänge auf chemische und physikalische Prozesse zu reduzieren trachteten und das auch immer noch tun, bis hin zu den Gehirnfunktionen.  Neben den Hefepilzen (Eukaryoten) können auch Bakterien (Prokaryoten) Alkohol produzieren: echten Tequila z.B., für den man das Bakterium Zymomonas mobilis mobilisieren muß – auf der pflanzlichen Grundlage von mindestens zehn Jahre alten Blauen Agaven, eine Sukkulentenart, deren „Herzen“ erst einmal gebacken werden, um dann daraus einen Sirup zu machen. Nachdem die Bakterien diesen verarbeitet und in Alkohol umgewandelt haben, wird er zwei mal destilliert. Ansonsten sind viele Bakterien eher an der Vernichtung als an der Produktion von Alkohol beteiligt. Namentlich die so genannten Essigbakterien, die ebenso wie die Hefepilze in freier Natur vorkommen: Sie ernähren sich von Alkohol und erzeugen Essig. Aus diesem Grund müssen z.B. die schottischen Whiskyhersteller ihre Gärbottiche und Fermenter regelmäßig mit hoher Temperatur sterilisieren, während die amerikanischen Whiykshersteller dafür chemische Substanzen verwenden. Auch hierzu hat Louis Pasteur die Voraussetzung geschaffen, indem er sich irgendwann fragte: „Wenn Bakterien Alkohol verderben, können sie dann nicht auch Menschen krank machen?“ Als seine Bakterientheorie endlich anerkannt war, rief sie jedoch ebenfalls (neue) Forschungswiderstände hervor, denn nun sah man in den Bakterien vor allem giftige, mehr oder weniger lebensgefährliche „Keime“ bzw. „Mikroben“, die es zu bekämpfen galt, diese Sichtweise gilt bis heute. Dabei sind wir ohne die Mikroorganismen überhaupt nicht lebensfähig.

Einige Biologen gehen inzwischen sogar so weit, zu behaupten: Es sind die Bakterien, die uns – Tiere und Pflanzen – überhaupt erst geschaffen haben (durch Symbiose und Assoziation) – damit sie stets und überall ein ausreichendes Nährmedium zur Verfügung haben (den Pansen der Kühe und unseren Darm beispielsweise; jeder Mensch hat etwa zwei Kilogramm Bakterien an und in sich.). Neben den allgegenwärtigen Essigbakterien gibt es auch noch solche, die erst Alkohol produzieren, um dann daraus Essig zu machen. Daneben haben auch noch einige höher entwickelte Pilze die Fähigkeit entwickelt, es ihnen gleichtun: Sie können ebenfalls von der Stärke bis zur Essigsäure durchreagieren, wie man das nennt. Grundsätzlich muß man jedoch sagen, dass das Vergären von Pflanzen und/oder Früchten ein gemeinsames Stoffwechselprodukt von (Hefe-) Pilzen und (fermentativen) Bakterien ist. Die alkoholische Gärung wird dabei von ihnen zur Energiegewinnung genutzt.  Während wir umgekehrt ihren Alkohol zuletzt zur Energieverschleuderung nutzen – einmal beim Einverleiben in geselliger Runde – mitunter bis spät in die Nacht und zum anderen beim anschließenden Abbau im Körper: Zunächst gelangt der Alkohol im Darm über das Blut in die Leber. Dort wird der Alkohol durch das Enzym Alkoholdehydrogenase zu Ethanal (Acetaldehyd) H3C-CHO abgebaut, das weiter zu Ethansäure (Essigsäure) oxidiert wird. Die Ethansäure wird über den Citratzyklus und die Atmungskette in allen Zellen des Körpers unter Energiegewinnung zu CO2 veratmet. Das Zwischenprodukt Ethanal ist auch für den so genannten Kater verantwortlich, der eine Folge stärkeren Alkoholkonsums ist. Der Abbau des Ethanals wird durch Zucker gehemmt, daher ist die Katerwirkung bei süßen alkoholischen Getränken, insbesondere Likören, Bowlen und manchen Sektsorten besonders hoch. Da Dan Mihaltianu seine Schnäpse nicht alle probiert bzw. serviert, ist schwer zu sagen, wie süß und damit schwer bekömmlich sie im Einzelnen sind, d.h. wie sauber er sie destilliert hat. In kleinen Flaschen abgefüllt und etikettiert dienen sie ihm vor allem als Geschmacks- und Geruchs-Dokumente – und so heißt seine Installation dann auch „Liquid Archive“

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Anhänge:

1. Sowohl die christlichen als auch die sozialistischen Organisationen organisierten in der Frühzeit der Arbeiterbewegung regelrechte „Feldzüge“ gegen den Alkoholkonsum – vor allem in den Armenvierteln, wo man mit Hilfe des Schnapses der Trostlosigkeit „entfloh“ – ähnlich wie in der Armee. Der Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet diesen „Massenalkoholismus“ als einen „fast unvermeidliche Begleiter schneller und unkontrollierter Industrialisierung und Verstädterung“. Beide Prozesse „verbreiteten die Schnapspest über ganz Europa,“ wie es im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ unter dem Kapitel „Trunksucht“ 1892 heißt. Die „geselligen Vereine und Gesellschaften zur Selbsthilfe“ der Arbeiterbewegung bildeten jedoch bald für die Massen der aus den dörflichen Gemeinschaften herausgerissenen eine Art Gegenkraft. In ihnen galt quasi die Alternative: Sozialismus oder Alkoholismus? Umgekehrt stieg nach jeder Niederlage der sich formierenden Arbeiterklasse auch wieder der Alkoholkonsum. In Berlin verdrängte dabei der Branntwein nach der gescheiterten Revolution von 1848 das damals noch obergärige Bier fast völlig. Die Gewerkschaften begannen gegen die „Schnapshöllen“ zu agitieren. Auf Druck der Basis wurde dafür von ihnen das Bier zur gesunden Volksnahrung aufgewertet – in der untergärigen (tschechischen) Brauart jedoch: „aechtes Bier“ genannt. In dieser harmloseren bzw. verharmlosten Variante wurde der Alkohol erneut – in den Arbeiterlokalen, wie früher auf dem Dorf – zum verbindenden Mittel der Geselligkeit: als Keimzelle einer neuen Gesellschaft. In Berlin entstanden die ersten „Bierschwemmen“. Anderswo kam es wegen des Verbots von Politik in Kneipen zu regelrechten „Bierkriegen“. In Kreuzberg wurde dagegen das Gartenlokal „Tivoli“ zu einem bevorzugten Ort von Massenveranstaltungen. 1868 fand dort die erste Großdemonstration gegen den Mietwucher statt. 1875 hielt August Bebel dort eine Rede. 1877 feierten nach einem Wahlsieg der SPD 22.000 Menschen auf dem Kreuzberg und sangen die Marseillaise. Auch Hegel, der am Kreuzberg ein Haus besaß, trank dort sein Bier. Die Politisierung des Berges machte den Ort auch für die Rechten attraktiv: 1892 verabschiedeten die Deutsch-Konservativen dort ihr agrarisch-antisemitisches „Tivoli-Programm“. Inzwischen hatte die Schultheiss-Brauerei die Bierproduktion auf dem Kreuzberg übernommen: Neben Prämien und übertariflicher Entlohnung bot das Unternehmen seinen Arbeitern einen kostenlosen „Haustrunk“. Als die Abstinenzbewegung wieder Tritt zu fassen begann und nun auch gegen die gesunde Volksnahrung Bier vorging, gründete Schultheiss mit anderen Bierhändlern zusammen einen „Schutzbund“, den die SPD-Führung heimlich unterstützte. Viele in der Arbeiterbewegung wegen ihrer Aktivitäten arbeitslos gewordene „Aufwiegler“ waren unterdes Wirte geworden. Sie zogen die früheren Arbeitskollegen in ihre Kneipen, die von Karl Kautsky als „Bollwerke des Proletariats“ gepriesen wurden. Auch die Gewerkschaften eröffneten Kneipen in ihren „Volkshäusern“. Dort machte man jedoch die bittere Erfahrung: Immer wenn die Funktionäre den Schankbetrieb selber bewirtschafteten, ging das Geschäft den Bach runter. Als selbstdisziplinierte Aufsteiger wollten sie die Trunksucht ihrer Gäste stets auf allzu „vernünftiges Maß“ (herunter-)bringen. Wenn sie die Kneipen dagegen an Arbeitslose verpachteten, brummte der Laden. Allerdings wurde es oft laut, und manchesmal startete man auch direkt von dort aus nächtens Aktionen gegen den Klassenfeind, was einige Gewerkschaftskneipen schwer in Verruf brachte. Von daher das Lied „Kreuzberger Nächte sind lang“. Im Wedding war insbesondere der „Schwedenkeller“ berüchtigt: Dort trafen sich die „Männer der Faust“ – um Erich Mielke. In der „Bärenquelle“, am Ende der Oranienburger Straße, agitierte das kommunistische Ehepaar Coppi Bauarbeiter, seit 1975 weist darauf ein Schild am Haus hin. Zunächst löste sich die Alkoholfrage jedoch erst einmal mit Beginn des Ersten Weltkriegs – von selbst: Nicht nur dass das Gros der „trinkenden Klasse“ eingezogen wurde, den Brauereien wurden auch Produktionsbeschränkungen auferlegt. Erst 1925 durfte das Bier wieder mit vier Prozent Alkohol ausgeschenkt werden. 1935 wurde die Schultheiss-Brauerei auf dem Kreuzberg zum „NS-Musterbetrieb“ erklärt, im Krieg hielt dort der „Reichstrunkenbold“ Robert Ley, als Leiter der Arbeitsfront, eine Durchhalterede – und sicherte weitere Fremdarbeiterkontingente zu. 1949 produzierte der Betrieb erstmalig wieder in „Friedensqualität“. Der Direktor ließ die Restauration zu seiner Dienstvilla umbauen. Bis zur Wende hatte die inzwischen zum Dortmunder Konzern „Brau und Brunnen“ gehörende Schultheiß-Brauerei den Westberliner Mark so gut wie „bereinigt“, ab 1990 langsam auch den im Osten, dabei übernahm sich „Brau und Brunnen“ jedoch – und mußte Konkurs anmelden. Die Schultheiß-Brauerei auf dem Kreuzberg wurde dicht gemacht, die letzten Arbeiter bekamen eine großzügige Abfindung, mit der einige sich als Kollektiv „ausgründeten“. Nun soll das Gebäudeensemble samt Dienstvilla des Direktors zu einer „Erlebnisgastronomie“ umgebaut werden.

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2. Als man das Medikament Paxil erfand, wußte man zunächst nicht, wofür. Aber dann stieß man bei der Krankheit „Social Anxiety Disorder“ auf ein Einsatzfeld. „The way to sell drugs is to sell psychiatry illness,“ so beschreibt der Bioethiker Carl Elliott die mittlerweile allem Aufklärungsdenken entrückte Profitlogik in der Pharmabranche. Das Publikum nahm die „Sozialangst“ und ihr Gegenmittel Paxil jedoch zunächst nicht gut an: Bis 1998 gab es dazu ganze 50 Erwähnungen in den Medien. Der Pharmakonzern Glaxo SmithKline startete daraufhin eine mehrere Millionen Dollar teure Werbekampagne für das Mittel. Zugleich wurden von unten einige Selbsthilfeorganisationen – wie die „Anxiety Disorders Association of America“ und die Gruppe „Freedom From Fear“ angeschoben, sowie die „American Psychiatric Association“ mit ins Boot geholt. Diese begründeten ihre Kampagne für die Droge damit, daß Nonprofitorganisationen wie sie nie mit einer „potent public health message“ herauskommen könnten, wenn nicht ein mächtiger Pharmakonzern dahinter stünde, wobei sie jedoch den Namen des Produkts – in diesem Fall Paxil – nie nennen würden. Der für das Produkt verantwortliche Direktor bei Glaxo SmithKline sagte es so: „Jeder Anbieter träumt davon, einen unbekannten Markt zu entdecken und zu entwickeln. Genau das gelang uns bei der Sozialangst“.  Die Washington Post berichtete, daß sich die teure Werbungs- und Aufklärungskampagne auf dem heiß umkämpften Markt für Antidepressiva bezahlt gemacht habe – in seinem Aktionärsbericht verkündete der Pharmakonzerns stolz: Paxil „became No.1 in the U.S. selective serotonin reuptake inhibitor markte for new retail prescriptions in 2000?. In den Medien wurde Paxil mehr als 1 Milliarde mal erwähnt. Die Pille für Stille, wie die Hamburger „Woche“ das in Deutschland unter dem Namen „Seroxat“ vertriebene Mittel nannte, hat allein in den USA zehn Millionen potentielle Käufer – so hoch schätzen dort medizinische Experten der Paxil-Werbekampagne die Zahl der Sozialphobiker. In der auf Appeal und Appearance erpichten Gesellschaft werden zudem immer mehr Leute von Lampenfieber befallen – in New York gilt das Lampenfieber bereits als „neue In-Krankheit“, wie die Woche schrieb. Auch dagegen helfe Paxil.  Für die US-Journalistin Anjana Shrivastava ist der irre Verkaufserfolg dieser Droge Ausdruck eines seit den Reaganomics übersteigerten Selbstdarstellungs- und Präsenz-Wahns, der vor allem den Mittelschichtfrauen zusetzt, bei denen die anerzogene Schüchternheit und Bescheidenheit in der ihnen auferlegten Karriere bremsend wirkt. Sie werden von dreierlei Anforderungen belastet: „Einmal vom Schönheits- und Jugendgebot, dann vom Mutterideal und schließlich vom Erfolg im Beruf. Ohne diese Drogen könnten die Frauen nur ein ganz, ganz einfaches Leben führen. Die Natur des Menschen ist vielfach den Anforderungen des modernen Großstadtlebens nicht mehr gewachsen, deswegen muß die Chemie hier helfend eingreifen“. Bei dieser ob nun pädagogischen oder pharmazeutischen Nachhilfe gehe jedoch etwas Wesentliches verloren: die Blödigkeit.  Sie ist nämlich eine Tugend! In seiner ausführlichen Studie darüber kommt Georg Stanitzek zu dem Resümee, „daß Blödigkeit letztlich nur ein Zögern des Individuums vor dem Eintritt in die Moderne darstellt“. Die Gebildeten im Vorfeld der Französischen Revolution haben der mangelnden Selbstdarstellungskraft des aufstrebenden Bürgertums gegenüber dem alten Adel denn auch ganze Ratgeber-Bibliotheken und -Zeitschriften gewidmet. Seitdem ist die „Blödigkeit“ als Wort aus der Mode gekommen, jedoch nicht der Fakt, daß man öfter als einem lieb ist, das Gefühl hat, sich wieder mal weit unter Wert verkauft oder sonstwie daneben benommen – d.h.: nicht im rechten Licht gezeigt zu haben.  Das Bildungsbürgertum des 18.Jahrhunderts unterschied hierbei jedoch: Was der Mann auf Teufel komm raus zu überwinden hatte, galt bei der Frau als überaus schicklich: Das Erröten, Stottern, verstockte Schweigen, schüchtern die Augen Niederschlagen etc.. Für Jean Paul liegt die „männliche Blödigkeit blos in der Erziehung und in Verhältnissen; die weibliche tief in der Natur“. Zahlreich ist die Literatur, die Georg Stanitzek „zur männlichen Hochschätzung der weiblichen Einfalt“ zusammengetragen hat – angefangen mit Friedrich Schiller, über dessen eifriges Lob der biederen Hausfrau – z.B. im „Lied von der Glocke“ – die adligen Damen in seinem Lesesalon sich noch totlachen konnten. Spätestens ab dem ersten Schillerdenkmal war es Millionen deutscher Lehrer damit jedoch toternst. Als Inbegriff weiblicher Attraktivität galt – z.B. in den „Moralischen Wochenschriften“ – eine „beständige Schamröthe“. Stanitzek hat nur einen – den Königsberger Polizeipräsidenten Gottlieb von Hippel – in der ganzen „Riege der Aufklärer“ ausmachen können, der – anonym (!) – festgehalten hat, daß auch für Frauen gelte: „Hunger macht feige, Mangel blöde, Unterdrückung verzagt“, und der darauf pochte, daß man „ihre Vernunft durch unzeitige Blödigkeit nicht vor wie nach zurückhalten“ solle.  Dieser ganzen frühbürgerlichen Auftrittsschulung, vor allem für Männer, tritt dann Friedrich Hölderlin entgegen, der – ähnlich wie vor ihm Rousseau – auf seine Blödigkeit beharrt, die ihm zum eigentlichen „Dichtermuth“ wird und umgekehrt. „Blödigkeit – ist nun die eigentliche Haltung des Dichters“, schreibt Walter Benjamin. Neuerdings kann auch ihre Bekämpfung wieder künstlerisch wertvoll genannt werden: So wurde z.B. die autobiographische Bearbeitung der Paxil-Drogenvorläuferin „Prozac“ – d.h. der Roman „Prozac Nation“ von Elisabeth Wurtzel – ein voller Bucherfolg, der die Autorin reich und berühmt machte, obwohl sie nur die etwas magenfreundlichere Prozac-Vorläuferin Zoloft regelmäßig einnahm.  Aber mit Prozac kam eine neue Art von Drogen (ohne unmittelbare Nebenwirkungen) auf – die sogenannten Neutrotransmitter: sie sind inzwischen Kult. Seitdem gibt es tausende von Gehirnchemikalien. Prozac wurde nur als erster Brandname berühmt. Mitunter wird es mit Edronax abgewechselt, das die Konzentrationsfähigkeit unterstützt, jedoch kein „Glücksgefühl“ hervorruft. Prozac andererseits bewirkt bei vielen einen derartigen Antrieb, daß sie sich permanent gestresst fühlen – und indem sie ständig unter Strom stehen, neigen sie dazu, Probleme zu verdrängen. Die Antistress-Droge Zoloft wiederum wird Leuten empfohlen, „die dazu neigen, unter zu gehen“. Dies alles laut Aussagen von Patienten und Ärzten, die mit diesen Drogen „arbeiten“. Wobei hinzugefügt sei, daß sich die Zahl der Depressionskranken in den USA ständig erhöht, erklärt wird das mit der zunehmenden Komplexität des Alltags und seinen wachsenden Unwägbarkeiten, aber auch mit falscher Ernährung und unzureichender Auftrittsschulung – Umschulung, dem „schrecklichen Lifelong-Learning“, wie Gilles Deleuze es nennt. Gleichzeitig werden aber auch immer mehr Medikamente entwickelt, für die man erst mal – mit Millionen von Dollar für Werbe- und Gutachterkosten – eine neue Krankheit (er)finde.

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3. Während in den Kunstwerken in Mitte Adrienne Goehlers Buch „Verflüssigungen“ vorgestellt wurde, eröffnete im Kreuzberger Kunstraum eine Gruppenausstellung mit dem Titel  „Liquid Matter“ – also über flüssige Dinge bzw. Angelegenheiten. Gleichzeitig erschienen mehrere Rezensionen des letzten Buchs von Zygmund Baumann, das  von „überflüssigen Menschen“ handelt –  die sich zu wahren Migrantenströmen verdichten. Unter Flüssigkeit versteht man einen Stoff, der einer Formänderung keinen, einer Volumenänderung jedoch großen Widerstand entgegensetzt.

Adrienne Goehler spricht von der „flüssigen Moderne“, der alles Feste nur zu einer (vorübergehend) „geronnenen Bewegung“ wird, wobei sie dann unter  (Wieder-)“Verflüssigungen“  vor allem „Ansätze“ versteht, „die künstlerisches, wissenschaftliches und Bewegungswissen verbinden.“ Dazu zählt u.a. Hannah Hurtzigs „Mobile Akademie“, aber gut und gerne auch die Bethanien-Ausstellung, insofern dort bei der Beschäftigung mit „Liquid Matter“ künstlerische und wissenschaftliche Mittel zur Anwendung kommen: So befaßt sich z.B. der Norweger Are Viktor Hauffen mit dem Oberförster Viktor Schauberger, der das Fließverhalten von Wasser studierte und aus Strudeln und derart verzopftem Wasser Implosionskraftanlagen ableitete, deren „Reibungshöhe gegen Null“ geht. Und der rumänische Künstler Dan Mihaltianu archivierte seine Sammlung von Alkoholika, die er zuvor mit unterschiedlichen Gärstoffen und an diversen Orten in selbstgebauten Kolben destilliert hatte.

Wo Adrienne Goehler die „Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft“ nachzeichnet und dabei so manchen „Ausweg“ für die „Überflüssigen“ aufzeigt, sind die beiden Flüssigkeitsforscher im Bethanien bereits als international tätige Berufskünstler angekommen. Und in gewisser Weise ist damit das Thema ihrer Arbeit am „Liquid Matter“ mit ihrer eigenen neonomadischen Existenzweise identisch geworden. Diese zwiefache Deterritorialisierung wird jedoch nach wie vor im Künstlertum reterritorialisiert, trotz oder wegen Wohnungen und Ateliers in gleich mehreren Städten. Von einer Unbehaustheit, wie sie den Migranten kennzeichnet, kann also keine (mehr) Rede sein.

Ende 2005 fand in Utrecht sie sechste  „Liquid Matter-Conference“  statt, organisiert von der Europäischen Physiker-Gesellschaft. U.a. ging es dabei über „Structure and dynamics of water in aqueous methanol“ – also ebenfalls um Alkohol, wenn auch in quasi verwässerter Form. Daneben waren dort ganze Symposien den Flüssigkristallen sowie den schier endlosen Polymerketten  gewidmet. Zuvor hatte bereits auf einem Pariser Philosophiesymposium der Übergang von der Rheologie zur Rheomatik zur Diskussion gestanden:  Wenn ersteres eine Bewegungslehre meint (heute zum Teilgebiet der Elastizitätslehre herabgesunken), dann kommt letztere dem  Bewegungszwang nahe („Applied Rheology“ als eingetragener Verein). Gilles  sprach in diesem Zusammenhang vom „schrecklichen Lifelong-Learning“, das nun – mit dem Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft – allen  drohe. Was er damit meinte, deutete gerade ein Videoclip der philipinischen Handelskammer an, mit dem ausländische Investoren für das Land interessiert werden sollen. In der deutschen Version wurde dabei aus dem euphorisch auf die industrielle Reservearmee gemünzten Titel  „People on the Move“ sogleich „Ein Volk ist auf Trab“. Bereits auf der letzten „Liquid Matter-Konferenz“ hatten einige Pariser Physiker über „Die Grenzen der Metastabilität von Wasser unter Druck“ referiert. Zwei „Szenarios“, so meinten sie, gäbe es, um die „thermodynamischen Anomalien von supergecooltem Wasser“ herauszufiltern. Aber um zwischen den daraus resultierenden und sich widersprechenden „Bildern“, entscheiden zu können, bedürfe es eines „Kavitations-Experiments“, womit die Bildung von Dampfblasen in Flüssigkeiten bei niedrigem Druck gemeint ist. Ich hoffe, mich klar genug ausgedrückt zu haben.

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4. Als nächstes machte sich die  Berliner „Neue Gesellschaft für Bildende Kunst“ um ein besseres Verständnis von Rumänien verdient – mit ihrer Ausstellung und dem Katalog „Social Cooking Romania“. Es war mir z.B. neu, dass inzwischen 16000 italienische Unternehmen in Rumänien ausbeuterisch tätig sind. Und das auf der anderen Seite bisher über zwei Millionen Rumänen in Italien einen Billigjob gefunden haben oder ihn dort noch suchen. Da sieht man plötzlich die Tat eines durchgedrehten obdachlosen Rumänen, der am Stadtrand von Rom eine Italienerin erstach, in einem anderen, sozusagen tieferen Licht.  „Die Gewalttat löste in Italien eine Ausländer-Raus-Stimmung selbst unter Linken aus, und eine Krise in den Beziehungen zu Rumänien“, schrieb „Die Zeit“. Die italienische Mitte-Links-Regierung erließ sofort eine „Notverordnung“ mit der kriminelle Ausländer nun schneller abgeschoben werden können. Mit einer solchen Forderung – auch für Deutschland – bestritt schon weniger später der CDU-Ministerpräsident von Hessen, Ronald Koch, seinen Wahlkampf.

„Das Thema ‚Social Cooking‘ wird meiner Ansicht nach besonders spannend, wenn man bedenkt, dass sich Rumänien während der letzten Jahrzehnte in einer Übergangssituation befand,“ schreibt Horea Avram. Er ist einer von 27 Künstlern, die an der NGBK-Ausstellung beteiligt sind. Sie thematisierten das ganze Spektrum  der Ernährung: Angefangen mit der rumänischen Landwirtschaft, die privatisiert wurde, wobei gemäß den EU-Vorgaben (Hygienevorschriften, Milchquoten etc.)  90% der 4,2 Millionen Bauern, das sind die, die weniger als 5 Hektar bewirtschaften, aufgeben müssen (damit die übrigen  Betriebe konkurrenzfähiger werden). Künstlerisch bearbeitet wurde darüberhinaus auch das Ernten, Schlachten und die Lebensmittel- sowie Alkoholikaverteilung. Derzeit erwirtschaften die 30% der Bevölkerung, die in der Landwirtschaft arbeiten, nur noch 13% des Bruttoinlandsprodukts. Und schließlich widmeten sich die Künstler dem „Vorgang des Kochens und des Essens“. Simina Badica-Bucurenci schreibt: „Im Rumänien der 1980er-Jahre stand man Schlange“ – lange und oft vergeblich. Es gab Schlangen, „in denen es drunter und drüber ging“ und es sogar zu Prügeleien kam, aber auch andere, die selbst vorbildlich organisiert waren – und in denen die „Mitglieder der Schlange mit dem Verkäufer bestimmten, wie viel gekauft werden durfte: ein Stück Butter pro Person, ein Kilo Fleisch, ein Kilo Orangen.“ Die damals Kinder waren, erinnern sich an diese Warteschlangen „als eine Art urbaner Spinnstube“. Die Autorin zitiert abschließend den englischen Historiker E.P.Thompson: „Der Markt war der Ort, an dem die Menschen,, weil sie zahlreich waren, für einen Augenblick fühlten, dass sie auch mächtig sein könnten.“ Aus dieser widersprüchlichen Situation gerieten die Rumänen nach der Wende abrupt in eine „Konsum-Ekstase“.

Und dieser noch andauernde Übergang scheint für die Kunst produktiv zu sein, weswegen es eine ganze Reihe von Künstlern in Rumänien gibt, die sich mit der Ernährung und dem  Vorgang des Kochens befasst haben. Nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil Rumänien  von Agrarkonzernen wie Monsanto geradezu überfallen wurde – und nun in der EU führend ist beim Anbau von genveränderten Lebensmitteln: Mais, Auberginen und vor allem Soja (100.000 Hektar bis jetzt). Erinnerlich ist den Rumänen vor allem noch die „Sojawurst“, die ihnen zu einem Symbol für „die Zeit des Mangels“ wurde.     Während diese West-Konzerne immer mehr Fuß fassen, wird gleichzeitig den Produkten der Kleinbauern mit allen möglichen Verordnungen der EU der Marktzugang versperrt. Nicht einmal  mehr ihren Schnaps (Tuica) dürfen die Rumänen bald selbst herstellen. Und die einstige „Kornkammer Europas“ muß inzwischen sogar Getreide impotieren. Auf diese Weise wurde und wird  dem Land „das Essen zum Bestandteil der zeitgenössischen Mythologie“.

Einer der  Künstler drehte einen Film über Mehl „als ausdrucksstarke Materie“ – mit dem Titel „Durchkneten“. Dan Mihaltianu erinnert sich im Katalog, das nach 1989 das „Vakuum in den Läden mit eingelagerten Waren aus der Ceausescu-Zeit gefüllt“ wurde. Ihnen folgten die „Hilfsgüter“-Lieferungen aus Westeuropa, u.a. Walfleisch aus Dänemark. Parallel dazu entstand in der so genannten „Kent-Straße“ am Rande von Bukarest ein immer größer werdender Schwarzmarkt. Die Westprodukte schlugen sich in der Alltags-Sprache nieder: So hießen z.B. Schweinefüße „Adidas“ und Schweineköpfe „Computer“. „Die dritte Phase in der Lebensmittelversorgung wurde durch den explosionsartigen Zuwachs an Supermärkten in den großen Städten eingeläutet: Metro, Billa, Carrefour, Penny, Plus, Mega Image, Auchan, Cora, Kaufland…“ Dan Mihaltianu sieht in der Beeinflussung der rumänischen Kunst über ihre Finanzierung durch die New Yorker Soros-Stiftung eine analoge Entwicklung, die er insgesamt als „McDonaldisierung“ begreift.

Matei Bejenaru hat aus spanischen Erdbeeren, die von rumänischen Landarbeiterinnen gepflückt wurden, Marmelade gekocht und in Gläsern abgefüllt. Neben dem normalen Etikett klebte er noch ein weiteres, mit dem er  darüber informiert, dass die Pflückerinnen 3 Euro 29 in der Stunden verdienten. Zoltan Rostas und Sorin Stoica haben eine der Pflückerinnen interviewt, die für drei Monate nach Spanien ging, um von dem Geld ihren Kindern einen Computer zu kaufen – aber eigentlich „bin ich aus Verzweiflung weggegangen“, sagt sie. In Bukarest mußte sie erst einmal beim Amt für Arbeitsmigration „fünf Stunden lang Schlange stehen“, Vordrucke ausfüllen, einen Paß beantragen, wieder Schlange stehen, eine Woche lang jede Menge medizinische Untersuchungen und sogar psychiatrische Tests über sich ergehen lassen, dann das Personal bestechen, Gebühren bezahlen usw….Während dieser Zeit „dachte ich, dass ich noch durchdrehe.“  Aber ihrem „Gesuch“ wurde schließlich stattgegeben: „Ich durfte nach Spanien fahren.“

Dort warteten schon die Arbeitgeber auf den Frauenbus aus Rumänien. Der eine wollte „10 Mädchen, davon 3 Nichtraucherinnen“, der andere „14 Mädchen, alle Nichtraucherinnen“. Die Interviewte kam mit ihrer Mädchengruppe auf einer Erdbeerfarm unter, wo man sie in einem „getünchten Stall“ einlogierte. Trotzdem befand sie am Ende – nach drei Monaten: „na ja, es war gut, warum sollte ich lügen.“ Ihr gespartes  Geld reichte  für viele Geschenke, sie erweiterte ihren Horizont und gewann im getünchten Stall neue Freunde, mit denen sie noch einmal als Erdbeeerpflückerin nach Spanien fahren will: „so bald wie möglich“.

Die Künstlerin Aura Cumita widmete sich der rumänischen Agrarpolitik. „Aus historischer Sicht hat die rumänische Bauernschaft – aus dem Altreich, der Moldau und der Dobrudscha – keine sehr lange Tradition im Bewirtschaften privater Höfe.“ Genaugenommen begann und endete diese in der Zwischenkriegszeit. Daraus, wie sich ihr jetzt mit der EU-Förderung und den  -Bestimmungen, die vor allem dem ausländischen Kapital entgegenkommen,  der rumänische Agrarsektor darstellt, zieht Aura Cumita den Schluß: „Wir werden also Landwirtschaft und ländliche Entwicklung gebündelt wiederfinden, in einem Produkt, dessen Zielgruppe Leute mit einer sehr hohen Kaufkraft sind.“ Das Land vollzieht dabei „wie im Zeitraffer“ alle westeuropäischen Prozesse auf dem Land nach, wo es heute ebenfalls um die Vermarktung von Regionen geht, die sich in „Standortkonkurrenz“ zueinander befinden, wobei die Bauern hier nur noch eine Minderheit darstellen (in Deutschland weniger als 1% der Bevölkerung). In Rumänien sind es noch fast 50%.

Hilke Gerdes schreibt: „Ein Zusammenschluss zu Genossenschaften scheint hier der einzige Lösungsweg zu sein, dem steht aber die weit verbreitete Abneigung gegen alle Kollektive im Weg.“ Alleine haben sie nicht genug Kapital, um ihre Produkte weiter zu verarbeiten. Und hierbei zu improvisieren, verbieten die EU-Richtlinien, u.a. gibt es für gebrauchte Produktionsanlagen keine EU-Kredite, neue können sich jedoch nur die Westkonzerne leisten, was zur Folge hat, dass die EU-Subventionen wieder aus dem Land fließen – und „Friesland, Danone, Dorna und Hochland bereits 40% der milchverarbeitenden Industrie in Rumänien besitzen.

Ob all dieser Übergansgphasen – hin zu einer „atomisierten Gesellschaft“ in „Konsum–Ekstase“ kommt Irina Cios zu dem Ergebnis, dass es in Rumänien geradezu eine „Obsession des Essens“ gibt…  „Vor diesem Hintergrund gleicht das Soziale einer mit sämtlichen Zutaten ausgestatteten Küche, in der die Künstler – entgegen dem Zeittrend – eines oder mehrere Gerichte kochen können“. Irina Cios‘ Beitrag zur Ausstellung besteht u.a. in einer Reihe von Interviews mit in Rumänien lebenden Bürgern aus europäischen Staaten, denen sie die Frage stellte: „Was sie von der Idee halten, in Rumänien eine Schneckenfarm zu gründen.“

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