Zwei liebevoll gestaltete Wasserpoller
1.
Unheimlichkeit der heimlich Reisenden
Die Philippinen und Mexiko sind die weltweit größten Exporteure von Arbeitskräften – und sie sind sich sehr ähnlich, nicht nur sehen die Philipinos und die Mexikaner ähnlich aus, ihre Länder haben auch eine ähnliche katholisch spanisch-amerikanische Kolonialgeschichte. Und hier wie dort kamen die größten FreiheitskämpferInnen stets hoch zu Roß daher. Eine Meldung von heute: Es gibt einen Pflegenotstand in Finnland. Um dem Mangel an Pflegekräften abzuhelfen, will man philippinische Krankenschwestern ins Land holen. Schon sinken die Flugpreise Helsinki-Manila. Bei den Mexikanern hat man dagegen das Gefühl, niemand will sie, am wenigsten die USA, wo sie am Liebsten hin wollen. Weil sie dort mehr verdienen können, sagt die neoliberale Theorie. Um sie daran zu hindern, die US-Grenze illegal zu überqueren, werden die Zäune und Kontrollen an der 3000 Kilometer langen Grenze immer abschreckender. Der Spiegel hat noch einen Unterschied ausgemacht: „In Finnland warnen Schilder die Autofahrer vor Elchen, die unversehens den Asphalt überqueren, An der mexikanisch-amerikanischen Grenze signalisieren spezielle Verkehrsschilder eine ganz andere Gefahr: die Kleinfamilie. Sie zeigen als Piktogramm einen Mann mit einer Frau und einem Mädchen – illegale Einwanderer aus Mexiko, die oft unbedacht über den Highway laufen.“ Das hört sich an wie eine unsinnige Sicherheitsmaßnahme, der Spiegel weiß jedoch aus sicherer Quelle: „Zahllose Immigranten, die aus Mexiko und anderen armen Ländern Mittel- oder Südamerikas kommen und ihr Glück in den USA versuchen, werden jedes Jahr auf der Flucht überfahren. Hunderte verdursten auf dem Weg ins gelobte Land in der Wüste oder ersticken in den Lieferwagen ihrer Schlepper.“
Die wunderbare Bremer Küstenwirtschafts-Forscherin Heide Gerstenberger hat vor einiger Zeit die Literatur über die schon seit langem irregulär in die USA einwandernden Chinesen besprochen (www.his-online.de/index.php?eID=trackdown&uid=443&cHash…). Weil diese ihren Schleppern und ihrer Familie ständig Geld überweisen müssen, arbeiten sie zu jeder Bedingung bis zu 16 Stunden am Tag sieben Tage in der Woche und schlafen meist auch in der Fabrik, außerdem haben sie oft mehrere Jobs: „Die Folge ist ein dramatischer Verfall der Löhne in den Chinatowns.“ Chinesen mit gültigen Papieren finden dort kaum noch Arbeit. Ob die massenhafte Einwanderung von Chinesen nach Sibirien und bis in den Kaukasus ähnliche Auswirkungen auf die dortigen Arbeitsmärkte hat, bleibt noch zu untersuchen.
Während die Tschechen trotz extremer Niedriglöhne so gut wie gar nicht das Land verlassen (und damit dem Menschenbild ihres neoliberalen Präsidenten Vaclav Klaus Lügen strafen), sind die Polen (und nach ihnen die Rumänen) geradezu EU-Meister im (temporären) Auswandern. Dabei handelt es sich nicht um individuelle Entscheidungen, sondern eher um kollektive Zwänge, wobei einer den anderen nachzieht. Die Diözese von San Christobal in Chiapas spricht von einer „ansteckenden Krankheit“ unter den Jugendlichen – für die es dort inzwischen 380 Reisebüros gibt. Aus der polnischen Kreisstadt Augustow berichtete der dortige Pfarrer: Viele Mitglieder seiner Gemeinde, die der Arbeit wegen nach Amerika auswanderten, kämen „in Metallsärgen zurück“.
Die staatliche Steuerung durch Verfolgung bzw. gezielte Nichtverfolgung der Irregulären scheint sich nach dem Industrie-Bedarf an schlecht bezahlte und gefährliche Tätigkeiten verrichtende Arbeitskräfte zu richten. In Deutschland kann man das am Umgang mit den „Schwarzarbeitern“ im Baugewerbe nachweisen, oft betrifft es sogar Regierungsbauvorhaben. In Spanien ist es am Umgang mit den „illegalen“ arabischen Erntehelfern in den andalusischen Gemüsenanbaugebieten dokumentiert.
Man spricht seit dem Vertrag von Maastricht und in Kenntnis seiner Folgen für die „heimlich Reisenden“ von einer „Rekolonisierung“. Ihre neoliberalen Propagandisten sprechen gleichzeitig von einer Migranten-„Flut“ und „Schutzwällen“ dagegen.
Paradoxerweise kommt eine offizielle Studie hier zu dem Schluß, dass anders als die illegalen Ausländer die Hiesigen deswegen so „unflexibel“ sind, weil sie selbst im Falle von Arbeitslosigkeit nicht ihr „Eigenheim“ und die damit verbundenen Beziehungen verlassen wollen – sie haben sich immobilisiert. In der Großstadt gilt laut einer Studie der Agentur für Arbeit, dass Arbeitslose, die oft und lange in ihrer Stammkneipen abhängen mehr soziale Kontakte haben und darüber schneller Arbeit finden, als Arbeitslose, die schon morgens anfangen, Sat1 zu kucken.
Ganz schicke Poller am Wasser – natürlich in den USA
2.
Erntehelfer vs -Roboter
Die englische Hilfs- und Entwicklungsorganisation OXFAM veröffentlichte 2004 einen Bericht über die immer härter werdenden Arbeits- und Lebensbedingungen der US-Landarbeiter. Sie stammen zumeist aus Mexiko und sind nicht selten „Illegale“, d.h. „Ohne Papiere“. Um die Löhne der Erntehelfer für die Farmer niedrig zu halten, wird ein bestimmter Anteil an Illegalen von Staats wegen geduldet. Ähnlich ist es in Spanien, speziell im Gemüseanbaugebiet um Almeria. Spitou Mendy, der lokale Sprecher der „Gewerkschaft der Feld- und Landarbeiter Andalusiens“ (SOC) berichtete kürzlich: „Dass es Arbeitskräfte gibt, die man als illegal bezeichnet, wird von der spanischen Regierung geduldet und ist gewollt. Die papierlosen Migranten kommen auf den kanarischen Inseln an, wo sie nach 40 Tagen in einem Lager, das einem Gefängnis gleicht, den Ausweisungsbescheid bekommen. Dann fliegt man sie per Flugzeug hierher, wo billige Arbeitskräfte gebraucht werden. In den Gewächshäusern arbeitet kein Mensch mit legalem Status, und die Tarifverträge werden nicht eingehalten.“
In den USA bezeichnet man die Land- bzw. Wanderarbeiter auch als „Hands“. Der Begriff geht auf das 17.Jahrhundert zurück, als Millionen von Kleinbauern und Pächter im Zuge der gewaltsamen Auflösung der Allmende (des Gemeindeeigentums) in England und Irland von den Großgrundbesitzern vertrieben – und als „Hands“ zusammen mit „Negersklaven“ und Kriminellen auf die Plantagen in den britischen Kolonien der beiden Amerikas verschleppt wurden. In den USA stellen heute die Mexikaner zwar die meisten „Hands“, aber auch in Westeuropa wirbt z.B. Marlboro alljährlich Jugendliche als „Ranchhands“ für US-Farmer an. Hier arbeiten inzwischen umgekehrt Millionen Osteuropäer als Erntehelfer bzw. Saisonarbeitskräfte auf dem Land. Die US Air Force nannte einst ihr „Entlaubungsprogramm“, bei dem 80 Millionen Liter „Agent Orange“ über vietnamesische Wälder und Reisfelder („unfriendly crops“) versprüht wurden, um das Hinterland des Vietkong zu zerstören – ebenfalls „Ranchhand“, denn dadurch konnte ihr Gegner leichter von den Bodentruppen vernichtet werden.
Der OXFAM-Bericht über US-Landarbeiter hat den Titel „Wie Maschinen auf dem Feld“. Immer mehr mexikanische „Hands“ leben unterhalb der Armutsgrenze, sie arbeiten – z.B. auf den Tomatenfeldern in Florida – im Akkord: „Mußte ein Arbeiter 1980 an einem Zehnstundentag noch 77,5 Eimer Tomaten ernten, um auf den gesetzlichen Mindestlohn zu kommen, so waren es 1997 schon 130 Eimer“, wobei der offizielle Mindestlohn für sie ebensowenig gilt wie für die arabischen Erntehelfer in Spanien.
Im Gegenteil mehren sich die Fälle, da die Bauern ihre Saisonarbeitskräfte nicht mehr direkt ausbeuten, sie leihen sich stattdessen die Arbeitskräfte von Subunternehmern (auch Contractors, Caporali oder Menschenhändler genannt) – und diese schrecken auch vor brutalem Zwang nicht zurück. In Italien kam es deswegen 2006 zu einem „Skandal“. Die Stuttgarter Zeitung, die die in diesem Fall albanischen Menschenverleiher als „Kapos“ bezeichnete, schrieb: „Die Erntehelfer bekommen für ihre Arbeit einen Hungerlohn, wohnen in Ruinen, werden geschlagen. Es gibt Todesfälle mit dubioser Ursache. Auf den Tomatenfeldern in Apulien schuften Osteuropäer wie Sklaven.“ Die „Berliner Morgenpost“ ergänzte, dass die rumänischen Erntehelferinnen dort von den Subunternehmern auch noch gezwungen wurden, dem „Padrone“ sexuell zu Willen zu sein. Die Berliner Zeitung berichtete in der selben Erntesaison über 113 polnische Erntehelfer, die man bei Bari in einem bewachten Arbeitslager untergebracht hatte, wo die Polizei diese „Sklaven“ schließlich befreite. Die „Tagesschau“ entsetzte sich: Im italienischen Gemüseanbaugebiet rund um Foggia arbeiten Rumänen, Bulgaren und Afrikaner – ebenfalls meist illegal. Die Bauern bekommen ihre Arbeiter von Vorarbeitern (Caporali), dort meist Araber, gestellt. Diese zahlen ihnen dann auch die Löhne aus, etwa 3 Euro pro Stunde, versorgen sie mit Lebensmittel und Wasser und schlagen sie auch zusammen, sollten sie versuchen, diesem „Terrorregime“ zu entfliehen. Wenn die Erntehelfer, die in glühender Hitze teilweise bis zu zehn Stunden auf den Tomatenfeldern arbeiten müssen, schlapp machen, werden sie von der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ notversorgt.
2007 wurden ähnliche Arbeitsbedingungen in Deutschland aufgedeckt: Hier handelte es sich um einen vom Dienst freigestellten bayrischen Polizisten, der seine 118 Erdbeerpflücker aus Rumänien „wie Sklaven“ hielt. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Harte Feldarbeit, Hunger und einen Stundenlohn von 1 Euro 20. Was sich wie Zustände in der Dritten Welt anhört, hat sich tatsächlich auf einer Erdbeerplantage in Donauwörth abgespielt.“
Im Juni 2008 kam es in Griechenland zum Skandal, weil 2500 „Hands“ auf den Erdbeerfeldern von Nea Manolada nahe Olympia, sie stammten meist aus Bangladesh und Pakistan, wie „Sklaven“ gehalten wurden. Sie wehrten sich und streikten: Daraufhin wurden sie von bezahlten Schlägertrupps zurück an die Arbeit geprügelt, ein paar kommunistische Gewerkschafter aus Athen schlugen sie gleich mit zusammen. Das war dann doch zu viel – die Presse schaltete sich ein. Die „Erdbeersklaven“ setzten schließlich eine Lohnerhöhung von 5 Euro pro Tag und Überstundenzuschläge durch (vorher erhielten sie etwa 23 Euro pro Tag; der Mindestlohn liegt derzeit in Griechenland bei 30 Euro 40).
Weltweit steigt das Überangebot an Erntehelfern und Wanderarbeitern in der Landwirtschaft. Ihre Löhne sind derart gesunken, dass vielerorts sogar auf Erntemaschinen verzichtet wird und stattdessen auch noch Kinder mitarbeiten müssen. So verdienen Baulwollpflücker in Afrika z.B. 25 Cent pro Stunde und in Pakistan sowie auch in Indien sogar nur 10 Cent. Alleine auf den Bananenplantagen Ecuadors sind nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 30.000 Kinder beschäftigt, „die teilweise wie Sklaven gehalten werden“.
Wie alle Jahre wieder berichtete die Lausitzer Rundschau auch 2008 von der Gurkenerntefront, und titelte dazu: „Das harte Los der Saisonarbeiter“. Die Agentur für Arbeit wirbt dagegen um deutsche Erntehelfer mit dem Slogan „Saisonarbeit leicht gemacht“. Die Gemüsebaubetriebe in der Lausitz brauchen jährlich über 6000 Erntehelfer – so viel wie allein der „Norddeutsche Salatkönig“ Rudolf Behr auf seinen Feldern beschäftigt. Seine „Besten“ schaffen 1000 Köpfe pro Stunde, er zahlt ihnen dafür 1200-1500 Euro monatlich.
Die Bauern bzw. Agrarunternehmer müssen 10-20% ihrer Arbeitskräfte über die Agenturen für Arbeit aus dem Heer der deutschen Arbeitslosen rekrutieren. Für diese ist das Zwangsarbeit, denn im Weigerungsfalle werden sie mit Kürzungen des Arbeitslosengeldes bestraft. Sind sie jedoch willig, bekommen sie 18 Euro pro Tag zusätzlich.
Die Gewerkschaft IG BAU (Bauen – Agrar – Umwelt) möchte stattdessen, dass ihnen der Mindestlohn – von 6 Euro 77 in der Landwirtschaft – gezahlt wird – und hat dazu nun die Kampagne „Faire Saisonarbeit“ gestartet. Der in Brandenburg gültige Tarifvertrag beträgt bei Erntehelfern derzeit 5 Euro 77 – und darf zudem noch um 20% unterschritten werden. In Wirklichkeit werden jedoch z.B. in Sachsen oftmals bloß Stundenlöhne von 3 Euro 27 gezahlt und in Bayern 5 Euro 10. Hier wie dort sollen die niedrigen Löhne den Bauern zu Gute kommen, die zu den Bedingungen meist polnische Erntehelfer beschäftigen. Diese weichen nun aber zunehmend nach Irland, England oder Belgien aus, wo sie mehr verdienen und nicht sozialversicherungspflichtig sind.
Im Obstanbaugebiet Altes Land bei Hamburg, wo sie bisher 5 Euro 42 bekamen, befürchten die Bauern deswegen bereits Ernterückgänge in Größenordnungen. Auf einer Veranstaltung des Landwirtschaftsministeriums in Jork gab es nicht einen einzigen Bauern, der gute Erfahrungen mit deutschen Zwangsarbeitern gemacht hat. Der CSU-Minister Horst Seehofer beruhigte die ob der Verpflichtung, sie dennoch einstellen zu müssen, erbosten Obstbauern: In naher Zukunft würden sowieso „Pflückroboter“ die Erntearbeit übernehmen.
Der Minister wußte jedoch gar nicht, wovon er sprach: „Bevor wir so ein Gerät im Alten Land überhaupt testen“, so Dr. Matthias Görgens vom Obstbau-, Versuchs- und Beratungszentrum (OVB) Jork, „müssten für praktische Versuche noch zwei bis fünf Jahre vergehen.“ Die Katholische Hochschule Limburg in Belgien, die den Ernteroboter zusammen mit der Industrie entwickelt hat, meint, sie werde ihn zum Preis von etwa 50.000 Euro auf den Markt bringen. Je nach Version könne er angeblich sechs bis zehn Erntehelfer ersetzen. Um einen Apfel vom Baum zu holen, braucht man per Hand 3,6 Sekunden, der Roboter zurzeit aber noch fünf bis neun Sekunden. In Sachen Fruchtschonung hinkt er noch weiter hinterher: „Die Praxisreife ist noch lange nicht da“, urteilt Jens-Peter Ralfs, Experte für Anwendungstechnik an der OVB. Bei der Ernte mit Robotern dürften Druckstellen an den Tafeläpfeln ein großes Problem sein. Er erwartet deswegen „einsatzfähige Pflückroboter frühestens in 20 Jahren“.
Ähnlich sieht es bei dem „Spargelroboter“ aus, den das Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung zusammen mit einem Industriekonsortium entwickeln will. Beträchtlich weiter ist dagegen ein „Spargelernter“ – genannt „Panther“, den die Wolfsburger Maschinenbaufirma „ai-solution“ in der vergangenen Spargelsaison testete und der bereits 2009 in Serie gehen soll. Der „Spargelpanther“ erntet 18 Stangen in der Minute. Die Firma geht davon aus, dass es für die Bauern immer schwieriger wird, „genügend Erntehelfer zu finden“, so dass sie schon bald ihre Erntemaschine kaufen werden, die alle „Handarbeit auf den Spargelfeldern ersetzt“.
In Kalifornien, wo die anfangs noch illegale Gewerkschaft „United Farm Workers“ bereits seit den Sechzigerjahren Streiks der mexikanischen Erntehelfer organisiert, begründete ein Verband der Agrarunternehmer seine Millionen-Dollar-Investition zur Entwicklung eines Ernteroboters denn auch damit, dass sie es leid seien, „sich ewig über Lohnerhöhungen ärgern zu müssen“. Der kalifornische Sprecher der US-Landarbeiter-Gewerkschaft, Marc Grossmann, bleibt jedoch einstweilen noch ähnlich gelassen wie der Obstbau-Experte im Alten Land: „Die Trauben, mindestens für edle Weine, wird man auch in Zukunft per Hand lesen“.
Damit bleiben sie „Früchte des Zorns“, wie ein Film von John Ford 1940 hieß, der auf dem gleichnamigen, mit einem Nobelpreis ausgezeichneten Roman von John Steinbeck basierte – und vom Elend der Wanderarbeiter handelte, die damals noch Weiße waren und als verarmte Kleinbauern von der Ostküste kamen, um sich in Kalifornien als Landarbeiter zu verdingen.
Inzwischen richtet sich der Zorn der mehrheitlich mexikanischen „Hands“ jedoch nicht mehr wie damals gegen die ausbeuterischen Farmer und ihre brutalen „Contractors“ sowie „Sheriffs. Die „Coalition of Immokalee Workers“ in Florida (CIW) z.B. wendete sich 2005, um ihre Forderung „Ein Cent mehr für jeden Eimer Tomaten!“ durchzusetzen, an die Konsumenten – und zwar an die Kunden der „in den USA omnipräsenten Mexican-Fastfoodkette Taco Bell“. Die Gewerkschaft forderte sie auf, diese Kette zu boykottieren – und war damit so erfolgreich, dass Taco Bell sich schließlich bereit erklärte, höhere Löhne und einen besseren Rechtsschutz für die Erntearbeiter zu garantieren.
Diese Strategie der organisierten „Hands“ klingt wie ein Beispiel aus dem Lehrbuch „No Logo“ von Naomi Klein. Der Münchner Soziologe Ulrich Beck spricht dabei von einer neuen medial sich inszenierenden Konsumentenmacht: „Warum der einzelne Konsument ein bestimmtes Produkt nicht kauft, ist gar nicht so wichtig, es kommt doch darauf an, daß es nicht kauft. Was zählt, sind gerade massenhafte Mit-Nichtkäufer.“
In früheren Zeiten setzten Streiks am „Verhältnis zwischen Firma und Arbeitern an,“ während man jetzt beim Boykott „an den Beziehungen des Unternehmens zu den Konsumenten“ ansetzt, meint dazu, Heinrich Geiselberger, Herausgeber eines Suhrkamp-Readers – über neue Arbeits- und Widerstandsformen: „Und jetzt?“ betitelt, in dem er u.a. auf die CIW zu sprechen kommt, deren neuartige Arbeitskämpfe – „Campaigning“ und „Organizing“ – er auch den deutschen Gewerkschaften nahelegen möchte. Das 2004 von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di herausgegebene „Schwarzbuch Lidl“ hält er bereits für einen richtigen Schritt in diese Richtung. Neuerdings spricht auch die IG Metall von erfolgreichem „Campaigning“. Das herausragende Beispiel für die neue Konsumentenmacht stellt für Geiselberger jedoch der Autofahrer-Boykott gegen Shell dar, mit dem in diesem Fall verhindert wurde, dass der Konzern seine Ölplattform „Brent Spar“ in der Nordsee versenkte. Der angloamerikanische Neoliberalismus hat seine Gegner anscheinend gleich mitgebracht: die bewußten – d.h. ethisch wählerischen – Käufer. In der atomisierten, gewerkschaftsfreien, Gesellschaft können die Menschen sich aber auch fast nur noch als Konsumenten auf dem Markt zusammenfinden, und das auch nur noch quasi statistisch.
Dem vorangegangen war die Umwandlung der bäuerlichen Landwirtschaft in einen industriell geführten Zulieferbetrieb für Supermarkt- und/oder Fastfood-Ketten, d.h. aus dem Farmer wurde ein Subunternehmen – und dieses muß sich hüten, „das Vertrauen seiner Kunden zu verlieren“. Karl Marx sah diesen Prozeß der „Expropriation der Ackerbauern“ ausgehend von England mit „historischer Unvermeidlichkeit“ 1882 als bereits vollzogen an. Dem auf die Zerstörung der Allmende in Westeuropa folgenden „bäuerlichen Parzelleneigentum“ gab er keine Chance: Es werde unweigerlich der „von Kapitalisten betriebenen Landwirtschaft“ weichen müssen. Die meisten Marxisten folgten ihm später in dieser Einschätzung: „Es ist unsere Pflicht,“ so schrieb z.B. Friedrich Engels, „den Bauern die absolute Rettungslosigkeit ihrer Lage klar zu machen.“
Wenn aus Bauern und ganzen Agrarregionen das Logo eines Lebensmittelbetriebs wird – „Chiquita“, „Spreewaldgurken“, „Chianti“, dann gewinnt der „Fair Trade“ im Gegensatz zur „Fairen Saisonarbeit“ übergreifende Bedeutung, indem er den Konsumenten über die Zusammensetzung der Ware bis hin zu denen aufklärt, die dafür ihre Arbeitskraft hergaben. Mit ihnen kann der kritische Konsument jedoch nur dann solidarisch sein, wenn er über genügend Geld verfügt – d.h. seine Kaufkraft dafür einsetzen kann. Der Soziologe Boris Holzer spricht hierbei von einer „Politik im Supermarkt“. Es geht dabei um die mindestens zeitweilige Veränderung von an sich stummen Kaufgewohnheiten, denen die Aktivisten der neuen Gewerkschaft gewissermaßen eine „Stimme“ für sich – die der in ihr organisierten Erntehelfer nämlich – verleihen. Die Gewerkschaft der deutschen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, die IG BAU, hat sich dieserhalb bereits 2004 an der Gründung des „Europäischen Verbandes der Wanderarbeiter“ beteiligt. Der EVW geht von 300.000 legalen Erntehelfern allein in der deutschen Landwirtschaft aus, hinzu kämen noch einmal so viele Illegale. Daneben arbeitet die IG BAU noch lose mit der internationalen KleinbäuerInnen- und Landarbeiter-Organisation „Via Campesina“ (der bäuerliche Weg) sowie mit der französischen Gewerkschaft „Confédération paysanne“ zusammen.
2009 weitete sich jedoch die Finanzkrise zu einer weltweiten Wirtschaftskrise aus: Zigtausende von Seeleute saßen auf dem Trockenen irgendwo in einer Hafenstadt und fast ebensoviele Erntehelfer wurden nach Hause geschickt. Es zeigte sich, dass sich der Anbau von Feldfrüchten, für deren Ernte man Helfer benötigte, nur aufgrund ihrer niedrigen Löhne gelohnt hatte.
Sauber abgepollerter Weihnachtsbaum
3.
Neue Nomaden
Die deutsche Kulturpolitikerin Adrienne Goehler nahm kürzlich die sich immer mehr „verflüssigenden“ sozialen Umwelten in den Blick, um den nomadisierenden Künstler und Intellektuellen als produktive Antwort darauf zu begreifen. Da deren mobile Existenz bald für alle gelten soll, werde sich dabei aufs Ganze gesehen der „Sozialstaat zur Kulturgesellschaft“ wandeln, so Goehlers These, die der SPD-Theoretiker Peter Glotz bereits 1987 vorformulierte. Dieser positiven Sicht auf alle „Verflüssigungen“ – infolge der dritten industriellen Revolution – hält der exilierte polnische Soziologe Zygmunt Baumann das Elend der „Überflüssigen“ entgegen: also das Schicksal all derer, die weltweit eine neue Existenzweise suchen – und dabei jedoch nicht mehr wie noch vor 150 Jahren auf so genanntes „unterbesiedeltes Land“ auswandern können. Der US-Präsident Theodore Roosevelt stellte die seinerzeit schon fast abgeschlossene Ausrottung der büffeljagenden Indianer durch diese meist aus Europa kommenden armen Siedler und Pioniere noch als einen „gerechten Krieg“ dar: „Dieser großartige Kontinent konnte nicht einfach als Jagdgebiet für elende Wilde erhalten werden“.
Nun haben wir es jedoch mit elenden – weil joblosen – Seßhaften weltweit zu tun (allein in China gibt es inzwischen 250 Millionen Wanderarbeiter bzw. Arbeitslose auf Wanderschaft). Der Slawist Karl Schlögel spricht in diesem Zusammenhang von einem „Planet der Nomaden“, wobei er jedoch noch schwankt, ob dies zu begrüßen oder zu beklagen ist. Dazu zitiert er den gleich mehrfach exilierten jüdischen Philosophen Vilém Flusser: „Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreisst und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen. Und das ist auch die Erklärung für das aufkommende Interesse am Nomadentum…“ Dieses neue Interesse äußert sich nun zwar nicht – wie noch in den Siebzigerjahren bei den westeuropäischen und amerikanischen Linken in einem gesteigerten Interesse an der Lebensweise der Zigeuner (was bis zu Wohnwagen und nomadischen Gewerken ging), aber immerhin in einem sich stetig ausweitenden Interesse am Nomadentum, insbesondere an dem der Mongolei: die Mongolei verstanden als beinahe letzte einigermaßen sichere Heimat traditionellen Nomadentums.
Die Münchner Journalistin Gundula Englisch hat deren tradiertes Wissen, das sie vor allem vom tuwinischen Schriftsteller Galsan Tschinag übernahm, mit den neuen noch vereinzelten Erfahrungen der hier in Bewegung geratenen Profiteure der elektronischen Revolution verknüpft. Herausgekommen ist dabei eine Art Ratgeber für „Jobnomaden“, der in das „Szenario“ einer zukünftig allumfassenden Mobilität mündet, obwohl die Autorin zugeben muß, dass gerade die Mitteleuropäer einem „Wohnortwechsel selbst bei drohender Arbeitslosigkeit“ noch äußerst ablehnend gegenüber stehen (in Ostdeutschland sind es über 70% der Bevölkerung). Dennoch sind die Auswanderungszahlen seit 2000 enorm gestiegen. Laut statistischem Bundesamt emigrierten seitdem etwa 150.000 Deutsche jedes Jahr, gleichzeitig reduzierten sich die Zuwanderungen drastisch, so dass die Bevölkerungszahl jährlich um rund 100.000 sinkt. Von Ralf Pickart, einem nach Kanada emgrierten Deutschen, gibt es inzwischen eine zornige Webpage mit gesammelten „Auswanderungsgeschichten“ (www.nixwiewegaus.de). Es sind jedoch meistens die Dableibenden, die sich als mehr oder weniger mobile „Projektemacher“ gerne „Neue Nomaden“ nennen. Im Fernsehen bezeichneten sich neulich einige Lufthansa-Stewardessen als „Nomaden der Lüfte“ und eine Gruppe von LKW-Fahrern als „Nomaden der Autobahn“. Im Internet bewirbt die Firma Regus ihr „Netzwerk für Nomaden“: Mit dem „Netzwerk“ sind ihre fertig eingerichteten Mietbüros und mit den „Nomaden“ gutverdienende Handelsvertreter gemeint. Dazu heißt es: „Das Nomadenleben von Außendienstmitarbeitern wäre weitaus produktiver, wenn diese an ihren zahllosen Destinationen immer flexiblen Zugriff auf professionelle Arbeitsräume hätten, wo sie gleichermaßen arbeiten und Kunden repräsentativ empfangen könnten. Diese Möglichkeit bietet ihnen nun Regus in seinen 750 Business Centern in 350 Städten und 60 Ländern weltweit.“
Außerdem gibt es auch noch „Daten-Nomaden“ – die sich angeblich nichts sehnlicher als ein „mobiles Breitband-Flat“ wünschen. Ansonsten existiert für „Berufsreisende“ bereits ein eigenes Internetportal – namens „Business Nomaden“. Sowie – unter dem Titel „Leben als Nomaden“ – schon fertig ausgearbeitete Designvorschläge „für flexibles und mobiles Wohnen“ von der Bauhaus-Universität Weimar. Dazu fällt mir eine Episode aus der Gründung der Westberliner Kommune I ein: Nachdem sie aus der zunächst von ihnen besetzten leeren Wohnung von Uwe Johnson in Friedenau rausgeworfen worden waren, bot sich ein solidarischer Architekt an, für die Gruppe ein Kommunehaus nach Maß zu entwerfen. Dies wurde jedoch abgelehnt – mit der Begründung: „Wir wollen nicht wohnen, sondern politisch aktiv sein.“
Wirtschaftlich aktiv will dagegen jetzt das „Nomaden-Web Headquarter“ sein, eine Gruppe junger dynamischer Leute, die sich auf ihrer Webpage mit Labtops in der Wüste photographieren ließen und bereits erste Erfolge bei der „Optimierung“ von MyM-Sites (nicht zuletzt mittels „SEO-Tools) sowie beim „Nachwachsen neuer Features“ über den „Beta-Test“ vermelden. Bei ihrer Geschäftemacherei berufen sie sich auf das „Nomaden-Denken“ von Gilles Deleuze, dem die Französischübersetzerin Michaela Ott vor einiger Zeit bereits ein ganzes Werk widmete: „Vom Mimen zum Nomaden“ betitelt. Die Autorin zitiert auch aus dem von Gilles Deleuze und Félix Guattari gemeinsam verfaßten Buch „Tausend Plateaus“: In der darin entworfenen „Nomadologie“ wurden jedoch die Migranten und postmodernen Projektemacher gerade nicht als „Nomaden“ begriffen – auch nicht als „neue“: Während die Nomaden den Raum beherrschen, nehmen die Seßhaften ihn in Besitz, sie zerstückeln und markieren ihn, um ihn aufzuteilen. Deleuze/Guattari reden in diesem Zusammenhang vom Gegensatz zwischen dem „Glatten und dem Gekerbten“. Zu den Einkerbungen der Seßhaften und ihrer Staaten gehören Grenzposten, Festungen, Stacheldraht, Mauern etc. Zwar hat auch der Nomade Punkte (Wasserstellen, Winterplätze, Versammlungspunkte), aber die Frage ist, was ein Prinzip des nomadischen Lebens ist und was nur eine Folge: „die Punkte sind den Wegen, die sie bestimmten, streng untergeordnet, im Gegensatz zu dem, was bei den Seßhaften vor sich geht“. Und auch noch bei den Migranten, die „prinzipiell von einem Punkt zum anderen gehen“ (es zumindestens versuchen). Während der Seßhafte „einen geschlossenen Raum unter den Menschen aufteilt, verteilt der Nomade die Menschen und Tiere in einem offenen Raum, der nicht definiert und nicht kommunizierend ist“. Anny Milovanoff schreibt in „La seconde peau du nomade“ (Die zweite Haut des Nomaden): „Der Nomade hält sich an die Vorstellung seines Weges und nicht an eine Darstellung des Raumes, den er durchquert. Er überläßt den Raum dem Raum.“
Grenzpoller – zwischen Deutschland und Österreich
4.
Die innere Migration (Gentrifikation)
Neukölln hat eine selbsternannte Stadtschreiberin. In einem ihrer Einträge zitiert sie den Tagesspiegel:
„Berlin baut um“: „Nordneukölln blüht auf. Kneipen und Galerien öffnen in der Friedel- und der Braunschweiger Straße, und das „Freie Neukölln“ in der Pannierstraße wird von Mittzwanzigern überrannt. Dabei galt bisher: Wer es sich leisten kann, zieht da weg, sogar besserverdienende Migranten. Jene, die übrig blieben, prägten das Bild. Wegen der Fortzüge sanken die Mieten, und das war eine Voraussetzung für den Umschwung: „Am Anfang ziehen oft Studenten in solche Quartiere, weil sie sich teure Lagen nicht leisten können, aber nahedran sein wollen“, sagt Politikwissenschaftler Volker Eick. Nordneukölln grenzt an die beliebten Quartiere von Kreuzberg und Friedrichshain. Und Kiezmanager schaffen Freiräume: Sie überzeugen Hauseigentümer, den Zugezogenen leere Gewerbeflächen für wenig Geld zu überlassen. Diese öffnen Kneipen, Cafés, Galerien. Auf die Kneipen folgen Boutiquen, Design- und Feinkostläden. Dann steigen Preise und Umsätze, aber auch die Mieten der Läden. Bald wird es schick, im Kiez zu leben, aber nicht jeder kann es sich leisten – so wie in Prenzlauer Berg heute. In Neukölln beginnt gerade erst diese Entwicklung, die rund um die historische Stadtmitte herum wie der Zeiger auf einer Uhr verläuft: vom Norden (Prenzlauer Berg) über den Osten (Friedrichshain) nach Süden (Neukölln).“
Wenn im Prenzlauer Berg die westdeutschen Lohas die ostdeutschen Proletarier verdrängt/vertrieben haben, dann sind es in Nordneukölln derzeit die westdeutschen Studenten, die die dortigen Araber und Türken verdrängen. Die Türken verloren seit der Wende massenhaft ihre Arbeitsplätze in der Westberliner Industrie und die Araber kamen zu spät, um hier noch eine Festanstellung zu finden. Viele Türken, die hier geboren wurden, überlegen sich mittlerweile, ob sie nicht in die Türkei (zurück) gehen sollen. Deutschpopulisten wie der Neuköllner SPD-Bürgermeister Buschkowsky und der Bundesbanker Sarrazin ermuntern sie zu diesem Schritt – mit ihren rassistischen Unterschichteinschätzungen.
Im Januar berichtete die Süddeutsche Zeitung über Neukölln, die Stadtschreiberin merkt dazu an:
„‚Art comes and real estate follows‘ – so wird Kate Price zitiert, eine englische Künstlerin, die im Schillerkiez malt. Ich denke, an der Grenze zu Kreuzberg sind wir längst mittendrin.“ Weiter heißt es dazu: „Auch nach Neukölln kommen die Immobilienkäufer, die freitags aus England und skandinavischen Ländern in Berlin „einfallen“, um Schnäppchen zu erwerben. Auf meinem Weg zum Lebensmittelladen, drei Straßen weiter, ist ein leerstehendes Haus jetzt in die Walze der Totmodernisierung geraten: Plastikfenster, Stukkaturen vom Großmarkt, wo der Krieg gewütet hatte, der historische Rest wird aus Gründen der Einheitlichkeit vorher entsorgt; Gegensprechanlage, dafür landet der „stumme Portier“ auf dem Müll, das Treppenhaus neu, das alte Geländer war bruchstückhaft und wird ebenso durch Metallelemente ersetzt wie die verrotteten Balkons, dazu kommt ein Fahrstuhl, die Wohnungen werden zu Appartments verkleinert…“
Am 14. Juni 2008 schreibt sie: „Letztens, auf der Konferenz europäischer Betriebsräte, die zu dolmetschen war: Wir waren in Leipzig und da wurde fröhlich erzählt, dass viele Arbeitnehmer unter der Warteritis zu leiden hätten. Warteritis? Das klingt wie das, was mir meine sächsische Verwandtschaft aus der Kleinstadt immer erzählt hatte. Noch zu Zeiten der verblichenen DDR hätte man sehr oft bei der Arbeit Beschäftigtheit simulieren müssen, weil es immer Zulieferschwierigkeiten an der Tagesordnung gewesen seien. Da nun aber jeden Moment der Betriebsleiter oder jemand anderes Offizielles hätte um die Ecke biegen können, also sei es wichtig gewesen, dass man so tat, als arbeitete man. Sonst wäre man gleich dran gewesen mit Hof fegen oder derlei. Heute, so die Betriebsräte, fegte man wieder sehr oft den Hof oder die Werkhallen, und der Kapitalismus hat sich im Osten dahingehend ausgewirkt, dass die halbe Belegschaft sich dann schon mal ums Streichen des Arbeitsplatzes kümmere – zu DDR-Zeiten eher nicht so denkbar, allein die Materialbeschaffung …
Und der Grund? Just in Time, die auf die Straße verlagerte Bevorratung der Werkstätten und Fabriken. Anstatt wie früher für eine oder zwei Wochen Material zu lagern, werde oft ‚aus dem einzigen vorhandenen Karton in die Maschine montiert‘. Und natürlich löse dies auch wirtschaftliche Probleme aus, wenn Bauteile fehlten, die oft nur Centbeträge wert seien ( ‚die Verpackung war teurer, ganz zu schweigen vom Versand‘). Dann geriete (‚richtig teuer‘) die Montagestrecke über Stunden und Tage ins Stocken. Hintergrund: Die Straßen werden immer voller, und in etlichen EU-Staaten streiken die Fernfahrer besonders gerne. In einem Großunternehmen mit mehreren zehntausend Angestellten ginge man davon aus, dass stets 10 % der Beschäftigten nichts zu tun hätten …
Noch ein interessanter Hintergrund, diesmal zur Arbeitsplatzsituation von Zeitarbeitern. Man habe festgestellt, so einer der Betriebsräte eines Konzerns, dass Zeitarbeiter mehr Arbeitsunfälle als die Festangestellten hätten. Festangestellte seien besser ausgebildet, nähmen häufiger an Arbeitsplatzsicherheitskursen teil und wären konzentrierter bei der Arbeit, weil ihre Gedanken weniger bei der nächsten Bewerbung, dem langen Nachhauseweg oder dem Streit mit dem Vorgesetzten sind, der bei den Zeitarbeitern direkt in Arbeitslosigkeit münden könne. Und die Fehlerquoten bei den Werkstücken sei in der Regel bei Zeitarbeitern auch höher. Es sei letztendlich alles eine Frage der Identifikation mit der Arbeit und dem Unternehmen, eine Frage gemeisamer Ziele also.
So weit die Stadtschreiberin, die dann irgendwann die Lust verlor, sich als Kiez-Chronistin zu versuchen. Vielleicht wurde sie aber auch selber ein Opfer der Nordneuköllner Gentrifizierung.
Kunstpoller (Bremen)
5.
Krisengeflüster
„Karl Marx ist der Dichter unserer Krise,“ dichtete Alexander Kluge. Und Deutschland könnte, wenn alle ihre Schrottprämie kassiert haben, in der Krise schon wieder vorneweg marschieren. Bereits in den frühen Achtzigerjahren gewannen die Neonazis in der BRD an Boden und danach auch in der DDR – kaum dass die letzten Altnazis gestorben waren. Und bereits bei der Bebauung des Potsdamer Platzes kam es 1999 zu den ersten Bauarbeiter-Demonstrationen gegen die osteuropäischen Kontingent-Arbeiter: Flaschen und Steine flogen an ihre Container. Nun passiert Ähnliches und Schlimmeres in Großbritannien, Südafrika und Ungarn. Hier gehört dazu auch die Initiative, den deutschen Versuch aus den Zwanzigerjahren zu wiederholen – eine Volksfront von Rechts und Links gegen das artfremde Kapital zu schaffen. Gegenüber Wieland Herzfeld spottete Oskar Maria Graf damals: „Na, was sagts du nun? Ich wundre mich nicht, wenn die Kommunisten jetzt ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ auf ihren Versammlungen singen, statt der ‚Internationale’…“ Herzfeld entgegnete ihm: „Ach, das ist doch die beste Taktik. Damit fangen wir den Völkischen die besten Leute weg“.
Nun unkt die FAZ: „Das wegen der Finanzkrise überall wachsende Elend wird nicht stumm bleiben. Abgesehen von Streiks, Demonstrationen, Unruhen und Plünderungen können wir rassistische Ausschreitungen gegen Migranten und Minderheiten, politische Instabilität, höhere Kriminalität und generell eine um sich greifende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung erwarten“. Anders als in Griechenland, Italien oder Frankreich droht hier also kein „heißer“, sondern eher ein „eiskalter Herbst“. Schon erlebte ich in einem Kreuzberger Restaurant (in 61), in dem ich mit einer Gruppe Russen saß, dass sich erst zwei ältere Herren über den Lärm beschwerten – und dann die Polizei holten. Und in einem Lokal nebenan drängte mir ein Deutscher seine schlechte Meinung über die Türken auf, die alle Gammelfleisch verkaufen. Dass die Dönnerverkäufer es von bayrischen Großhändlern geliefert bekamen, und sich bei ihnen daraufhin die Umsätze halbierten, was tausende von Arbeitsplätze gefährdete nur wegen dieser Gammelfleisch-Lüge – all das focht ihn nicht an. In vielen Kreuzberger Kneipen (in 36) sind aus ehemaligen Linken inzwischen Loser geworden, die sich zudem dumm gesoffen haben und nun von Existenzängsten heimgesucht auf Ausländer schimpfen. Sie sind Sarrazins dankbarste Zuhörer.
Dafür entdecken die Medien die Arbeiter langsam wieder: Journalisten interviewen Polen, die einen Job in England hatten und eine von „Manpower“ nach Taiwan geschickte Fabrikarbeiterin: Sie alle hat man wegen der Rezession nach Hause geschickt, wo es keine Arbeit gibt. Ein Fernsehteam, geleitet vom Netzwerk „Clean Clothes Campaign“, filmt Näherinnen in Thailand, die für Aldi und Lidl Kleidung nähen – 90 Stunden in der Woche zu einem Hungerlohn. Umgekehrt geben einige Näherinnen von dort Pressekonferenzen in Deutschland. Die Firma Triumph schloß ihre Fabrik auf den Philippinen und entließ ihre Arbeiterinnen, die daraufhin nach Deutschland flogen, um hier zu demonstrieren und Solidarität einzufordern, u.a. organisierten sie dazu eine Veranstaltung im taz-Café. Einige Berliner Linke demonstrieren vor „Kaiser’s“, weil die Supermarktkette der Kassierin Emily nach 30 Jahren „auf Verdacht“ gekündigt hatte. Woraufhin diese in allen Medien „Thema“ wurde. Die Aufzeichnungen der Supermarktkassierin Anna Sam werden in Frankreich zu einem Bestseller. In Deutschland dreht das Staatsfernsehen einen Tatortkrimi im Supermarkt-Milieu.
Auch die „Berlinale“ fängt zögernd wieder an, sich zu „politisieren“ – mit Filmen über hungernde Familien in Brasilien, über Antiglobalisierungsdiskurse, unterschiedliche Kooperationsformen von Bauarbeitern, über das Waschen von deutscher Schmutzwäsche in Polen usw. Außerdem machten die Beschäftigten des Filmfestivals und des Kinos „Babylon“ auf ihre „schlechten Arbeitsbedingungen“ aufmerksam, letztere demonstrierten sogar vor ihrem Kino. Das Berlinale-Jurymitglied Henning Mankell sagte, die globale Rezession treffe vor allem die Ärmsten der Armen. Und das Jurymitglied Christoph Schlingensief meinte, die weltweite Krise, von ein paar Leuten verursacht, zeige, „man darf sich nicht dirigieren lassen, sondern muß – auch und gerade beim filmischen Arbeiten – selber gestalten“. Ein engagiertes Onlinemedium fügte dem hinzu: „Aber Zuschauen allein genügt nicht.“
Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko meint: „Der Künstler muß heute als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen.“ Denn die Migranten sind jetzt – laut Neal Ascherson – zu Subjekten der Geschichte geworden: „die Flüchtlinge, die Gastarbeiter, die Asylsucher und die Obdachlosen“. Oder wie der Exilpalästinenser Edward Said es ausdrückte, „die Fackel der Befreiung“ ist von den seßhaften Kulturen an „unehauste, dezentrierte, exilische Energien“ weitergereicht worden, „deren Inkarnation der Migrant“ ist. Die Plätze, Märkte, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte werden durch sie zu neuen „Agoren“ (den Versammlungsplätzen in der griechischen Polis).
Schon Kunst oder noch Poller?
6.
Zum Wandel bei der sozialen Ungleichheit
Mit dem Begriff der „Unterschicht“, schreiben die Autoren einer Aufsatzsammlung über die „‚Armen‘ in Geschichte und Gegenwart“, sind wir „auf durchaus kuriose Weise an den Anfang der organisierten Sozialforschung zurückgekehrt.“ Mit dem Unterschied, dass man damit – am Ende des 19. Jahrhunderts – ein „strukturelles Problem“ thematisierte, während man heute – in der Diskussion über die Ende 2006 veröffentlichte Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung – eher Einzelne – „sozial Schwache“ – im Visier hat: „Menschen, die es schwer haben“, wie SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering erklärte, denn „es gibt keine Schichten in Deutschland“ mehr. Wieso sagte er so einen Quatsch – just da wieder von „Klassenspaltung“ die Rede ist und ein allgemeiner „Linksruck“ sich bemerkbar macht?
Bereits ab den Fünfzigerjahren versuchte die bürgerliche Sozialforschung mit ihrem „Schichtenmodell“ dem marxistischen Klassenbegriff und damit dem Klassenkampf entgegenzuwirken. Während man in der Arbeiterbewegung von einer „Kluft ohne Brücke“ (zwischen Arbeit und Kapital) ausging – und sich deswegen u.a. eigene (Schulungs-) Institutionen schuf, sprach man in der Soziologie von Aufstiegschancen, die es zu verbessern und von „Bildungsferne“, die es zu beheben galt. Tatsächlich wurden dann mit der SPD-Regierungsbeteiligung ab 1971 massenhaft Jungarbeiter, Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern über das „Begabtenabitur“ und den „Zweiten Bildungsweg“ an die Universitäten gebracht und gleichzeitig ein Dutzend neue „Reformunis“ gegründet, in denen sich auch noch die marxistischen Rädelsführer aus der Studentenbewegung als Professoren reintegrierten.
Aber nun, nach dem Ende des Kommunismus, geht es wieder genau andersherum: um Elitenbildung, Trickle-down-Effekte und individuelle Fähigkeiten. „Konsequenterweise sieht das aktuelle sozialpolitische Programm auch ausschließlich die Bekämpfung der Muster der Lebensführung (Alkohol, Nikotin, Fast Food, Unterschichtfernsehen usw.) vor, nicht aber die Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen,“ schreibt der Mitherausgeber des Aufsatzbandes über die „Unterschicht“, Rolf Lindner, Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität. Dieses „Programm“ soll, ähnlich wie seinerzeit der soziologische Ziel-Begriff einer „nivellierten Mittelschichtgesellschaft“, der aktuellen „Wiederkehr der Klassengesellschaft“ entgegenwirken.
Laut Ebert-Studie kann man inzwischen 4% der westdeutschen und 25% der ostdeutschen Bevölkerung (objektiv) zum „abgehängten Prekariat“ zählen. Annähernd doppelt so viele begreifen sich jedoch (subjektiv) als „Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung“ und „gesellschaftlich ins Abseits geschoben“. Von dieser „sozialen Selbsteinschätzung“, die Pierre Bourdieu als „vergessene Dimension des Klassenkampfes“ bezeichnet hat, handelt der Beitrag des Wiener Soziologen Sighard Neckel. Den Anfang ihrer Erforschung machten westdeutsche Soziologen Ende der Fünfzigerjahre mit einer Studie zum „Gesellschaftsbild des Arbeiters“ – in der alle befragten Arbeiter „die Gesellschaft als Dichotomie“ (gespalten) begriffen, allerdings ohne dabei ein Gefühl „eigener Machtlosigkeit“ zu haben. Im Gegenteil war ihr „Leistungsbewußtsein“ derart ausgeprägt, dass sie eher „die da oben“ – Angestellte und Unternehmer – als graduell unnütz, mindestens unzulässig privilegiert begriffen. Für die Soziologen wurde diese „Vorstellung eines kollektiven Lebensschicksals“ noch dadurch begünstigt, dass damals in der „Arbeiterschaft realistische Chancen für berufliche Mobilität und sozialen Aufstieg weitgehend fehlten“. Das änderte sich mit anhaltender Wirtschaftskonjunktur, den „Gastarbeitern“ und der sozialdemokratischen Bildungsreform. Im Endeffekt zählten sich bis in die Achtzigerjahre „immer größere Gruppen der westdeutschen Bevölkerung – mit Werten bis zu über 60%“ – zur Mittelschicht. Diese „symbolische Flucht aus der Arbeiterschaft“ endete jedoch laut Neckel mit dem wiedervereinigten Deutschland „im Verlauf der 1990er Jahre“ (man spricht bereits von einer „Refeudalisierung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse). „An die Stelle der Zurechnung von Leistungen treten zunehmend fatalistische Deutungsmuster.“ Und „aus dem kollektiven Empfinden gesellschaftlicher Benachteiligung ist eine gefühlte Abwertung geworden, welche die Individuen hauptsächlich für sich allein zu bewältigen haben.“ Die Autoren des Unterschicht-Bandes analysieren weniger die ökonomischen als die sozio-kulturellen Veränderungen: Früher mußte die Stadt die vom Land Vertriebenen integrieren, d.h. die Arbeiterfrage lösen. Aus Arbeiter wurden dann Arbeitnehmer, meint der Berliner Sozialwissenschaftler Martin Kronauer. Dabei lösen sich die Arbeiterviertel und -milieus langsam auf. Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft gerät die „‚Integrationsmaschine Stadt'“ vollends „ins Stocken“. Kronauer bemerkt dabei eine Heterogenisierung – hervorgerufen u.a. durch „gegenläufige Bewegungen von Aufstiegs- und Abstiegsmobilität innerhalb der einheimischen Arbeiterschaft und dem Zuzug von Migranten.“ Statt in sozialen Kämpfen und kollektiver Selbstorganisation bearbeitet nun eine Vielfalt sozialstaatlicher Institutionen die „individualisierte Klientel der Armen und Arbeitslosen“. Aber „sie droht leer zu laufen“, zur bloßen „Verwaltung von Randständigkeit und Exklusion zu werden, statt diese aufzubrechen und zu überwinden.“ Kronauer spricht hierbei von einer „neuen Qualität der Exklusion“, denn diese muß nun „als Ausgrenzung in der Gesellschaft verstanden werden.“ Ausgangspunkt und Grundlage“ dafür ist jedoch nicht mehr die Stadt, „sondern die verstädterte Gesellschaft im nationalen und zunehmend transnationalen Maßstab.“ Zudem ist die „Ausgrenzungserfahrung“ inzwischen eine „radikal individualisierte Erfahrung. In einer Gesellschaft, die mehr denn je ihren Klassencharakter dementiert und der individuellen Entfaltung freie Bahn zu geben verspricht, diese aber auch verlangt, ist es den daran Scheiternden auch noch versagt, jemandem oder etwas anderem eine Schuld zuzuweisen als sich selbst.“ Das Ergebnis ist Ohnmacht und Resignation oder wütende Rebellion. Kronauer zitiert dazu abschließend Abdel Khader, einen „gewaltbereiten Jugendlichen“ aus den französischen Banlieues, der ihre Revolte auf einer Tagung des Centre Marc Bloch und der Bauhaus-Universität Weimar über „Urbane Gewalt und Jugendproteste“ wie folgt erklärte: „Die Revolution war die einzige Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Wir hatten Dinge zu sagen, aber wir wußten nicht, wem.“
In weiteren Aufätzen beschäftigt sich der Bourdieu-Schüler Loic Wacquant mit der „Verelendung des Ghettos“, die mit der „Zerstörung der Industriearbeit in Gang gesetzt“ wurde. Der Wiener Kulturwissenschaftler und Mitherausgeber der Aufsatzsammlung Lutz Musner fragt in seinem Beitrag „Leben jenseits der Arbeitsgesellschaft“, warum die „Wende zum Schlechteren“ nicht „politisch bekämpft“ wird – und macht dafür u.a. „die Krise der SPD und der Gewerkschaften“ verantwortlich sowie den „Massenindividualismus, der das Individuum nicht mehr über gewachsene kulturelle Zugehörigkeiten definiert, sondern über die Teilnahme an einem kollektiven Konsum- und Warenangebot.“ Dieses ist ebenfalls kurz davor, sich zu dichotomisieren: teure, geschmackvolle Lebensmittel im Bio-Supermarkt für die einen und billiger, lebensmitteltechnischer „Junk-Food“ bei Lidl und Penny für die anderen. Schon hat erstmalig in der Geschichte die Anzahl der zu viel und zu schlecht essenden „Übergewichtigen“ die Zahl der zu wenig essenden „Hungerleidenden“ auf der Erde übertroffen. Noch mal gefragt: Was tun?
„Unterschicht – Kulturwissenschaftliche Erkundungen der ‚Armen‘ in Geschichte und Gegenwart“, herausgegeben von Rolf Lindner und Lutz Musner, Rombach Verlag, Freiburg 2008, 142 Seiten 24 Euro
Widerstand gegen Poller
Nachtrag
Heute, am 16.12. erschienen gleich zwei lange Artikel über die „Unterschicht“ und ihre vermeintlichen „Bildungsdefizite“:
In der Jungen Welt schreibt der Kölner Politologe Christoph Butterwegge in einem längeren Text über die „Beruhigungspille Bildung“: „Bewohnerinnen und Bewohner eines westlichen Industrielandes, das sich als »Wirtschaftsstandort«, »Exportweltmeister« und »Wissensgesellschaft« versteht, begreifen (Weiter-)Bildung in aller Regel nicht mehr als Möglichkeit zur Welterkenntnis oder zur Persönlichkeitsentwicklung, sondern bloß noch als Mittel ihrer beruflichen Qualifikation, das ökonomischen Verwertungsinteressen bzw. dem Ziel dient, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten oder zu verbessern. Gleichzeitig avanciert Bildung im öffentlichen Diskurs zum Allheilmittel für die politischen Hauptübel, als da sind: (Kinder-)Armut, (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung der Familien und Werteverlust, Zerfall der Gesellschaft und wachsende soziale Ungleichheit. Hier soll diese Ideologie am Beispiel der Armut widerlegt und gezeigt werden, wie sie nicht bloß falsche Schuldzuweisungen an Minderheiten hervorbringt, sondern auch die Durchsetzung sinnvoller Alternativen der Gesellschaftsveränderung erschwert.“
In der FAZ schreibt die Meinungsforscherin Renate Köcher über den „Statusfatalismus der Unterschicht“: „
Nichts unterscheidet die Menschen in dieser Gesellschaft nach Meinung der großen Mehrheit mehr als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht und ihre Eckpunkte Einkommen, Besitz und Bildung. 74 Prozent der Bevölkerung sind überzeugt, dass es die Schichtzugehörigkeit ist, welche die wesentlichen Gegensätze in der Gesellschaft markiert, weitaus mehr als Alter, politische Überzeugungen, Religion, regionale Herkunft oder Lebensmaximen.
Tatsächlich unterscheiden sich die sozialen Schichten in Deutschland gravierend, weit über ihre materielle Ausstattung und Zufriedenheit hinaus. Die Unterschiede sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten keineswegs geringer geworden, sondern größer, materiell wie in Bezug auf Weltbilder und Mentalität.
Nur 14 Prozent der Unterschicht erwarten, dass es ihnen in zehn Jahren bessergehen wird. Auch die Aussichten der eigenen Kinder werden überwiegend skeptisch gesehen. Zwar wünschen sich 73 Prozent der Eltern aus den unteren sozialen Schichten, dass es ihren Kindern einmal bessergeht als ihnen selbst; nur 30 Prozent sind jedoch zuversichtlich, dass dies tatsächlich der Fall sein wird.
Dieser Statusfatalismus ist ein Eckstein der derzeitigen Bewusstseinslage der unteren Sozialschichten. Die Mehrheit von ihnen hält die sozialen Schichten für festgefügt und kaum durchlässig. Die Aufstiegschancen werden eher in der Mittel- und Oberschicht angesiedelt als in der Schicht, für die der Aufstieg wirklich eine völlige Veränderung ihrer Lebenslage und Aussichten bedeutete. Nur 26 Prozent der unteren Sozialschichten glauben, dass Aufstieg in allen sozialen Schichten möglich ist, während knapp zwei Drittel auch die Aufstiegsmöglichkeiten in erster Linie als Vorrecht der mittleren und oberen Schichten sehen. Die Mehrheit der unteren 20 Prozent hält die sozialen Schichten für zementiert; nur 31 Prozent glauben an die Möglichkeit, durch Leistung die eigene Lage zu verbessern.
Der Statusfatalismus der unteren Schichten dämpft nicht nur das Zutrauen, die eigene Lage oder die der eigenen Kinder nachhaltig verbessern zu können, sondern prägt auch das Verhältnis zum Staat. Während besonders die Oberschicht, aber auch die Mehrheit der Mittelschicht die Bürger in der Verantwortung dafür sehen, wie sich das Land entwickelt, sind die unteren Sozialschichten mit großer Mehrheit überzeugt, dass die Bürger von dieser Verantwortung befreit sind, da sie ohnehin nichts ausrichten könnten; 57 Prozent der Unterschicht vertreten diese Position, nur 30 Prozent der oberen und 42 Prozent der mittleren Schichten.“
Für Renate Köcher folgert aus all dem:
„Aufgrund der demographischen Entwicklung und der Staatsverschuldung wird die Diskussion über die Zukunft eines Sozialstaates, der leistungsfähig, aber auch finanzierbar ist, zwangsläufig verstärkt geführt werden müssen. Bei den politischen Debatten über die richtige Verteilung von staatlicher Fürsorge und Eigenverantwortung wurde bisher zu wenig berücksichtigt, dass die Voraussetzungen in den verschiedenen Schichten völlig unterschiedlich sind und entsprechend nach schichtbezogenen Konzepten verlangen.
Die beste Sozialpolitik ist jedoch, die Durchlässigkeit der Gesellschaft zu verbessern und den Anteil der Bevölkerungskreise, die nur mit Hilfe des Staates ihre Existenz sichern können, so gering wie möglich zu halten.“
Zur Behebung der „Bildungs-“ und „Ausbildungsdefizite“ vor allem und zunächst der 1990 angeschlossenen Ostler wurden seit damals jede Menge Umschulungs- und Weiterbildungs-Maßnahmen finanziert sowie hunderte von mehr oder weniger dubiosen Privatunis gegründet, in all diesen neuen Einrichtungen geht es vor allem um das Teilnahme-Diplom am Ende. Der Regisseur Harun Farocki hat seit der Wende mehrere Jahre diese deutsch-deutsche Reeducation-Maßnahmen begleitet – und daraus drei aufklärerische Filme: “Leben BRD” (1990), “Die Umschulung” (1995) und “Die Bewerbung” (1997) gemacht. In diesen Bildungszentren wird den Teilnehmern u.a. beigebracht, wie man sich richtig bewirbt. “Sie müssen lernen, sich besser zu verkaufen!” Es sind videogestützte Auftritts-Schulungen, in denen das wirkliche Leben geübt werden soll – für eine neue Gesellschaft, die laut Harun Farocki vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist. “Angst haben alle”, sagt einer der Ausbilder in dem Film “Umschulung”. Der vom Arbeitsamt bezahlte Kursus dient denn auch zur Bekämpfung dieser Existenzangst, die inzwischen einschließlich der Umschulungskurse ganz Westdeutschland erreicht hat.
Forciert wird sie noch laufend durch Kündigungen aus den nichtigsten Anlässen: Eine Supermarktkassiererin, weil sie drei Pfandbons nicht abgerechnet hat, eine Altenpflegerin, weil sie angeblich sechs übrig gebliebene Maultaschen aß und ein Arbeiter, weil er einige Pappen als Umzugskartons für seine Tochter mitnahm. Diese von deutschen Arbeitsgerichten juristisch abgesegneten Entlassungen zeigen, auf welchem Niveau und von wem die Klassenkämpfe seit der Wiedervereinigung geführt werden. Immerhin, sie werden geführt – könnte man vielleicht zynisch gestimmt sagen, oder mit den Worten von Warren Buffett: “Es ist Klassenkampf und meine Klasse gewinnt…”
Dafür sorgen auch Gewerkschaften und Verwaltungsgerichte. Die altehrwürdige FAU (Freie Arbeiter-Union), die sich als Gewerkschaft begreift und sich zuletzt beim Arbeitskampf der Belegschaft des Ostberliner Kinos „Babylon“ engagierte, schreibt gerade in einer Rundmail:
„Bitte weiterleiten!
FAU BERLIN: VERBOTEN KÄMPFERISCH!
GEWERKSCHAFTSFREIHEIT VERTEIDIGEN!
Seit dem 11.12. darf die FAU Berlin sich per einstweiliger Verfügung nicht
mehr Gewerkschaft nennen. Das bedeutet de facto ein Verbot dieser kleinen
kämpferischen ArbeiterInnenorganisation.
Ausgelöst wurde diese juristische Maßnahme von der Geschäftsführung des
Kinos Babylon Mitte, die damit offensichtlich die konsequente
Selbstorganisation der Beschäftigten in ihrem Betrieb lahmlegen möchte. Im
Babylon ist ein großer Teil der Belegschaft in der FAU organisiert und
wird von ihr seit Monaten erfolgreich bei Arbeitskämpfen unterstützt.
Dass das Landgericht so einen starken Angriff auf die
Gewerkschaftsfreiheit ohne Gegenanhörung durchwinkt, ist ein Skandal. Es
schafft nicht nur einen Präzedenzfall, der jede Form von freier
gewerkschaftlicher Organisation unterbinden könnte, sondern ist auch ein
Angriff auf das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit.
Dagegen müssen wir alle auf die Straße gehen!
DEMO | SA. 19.12. | 16 UHR
INFOVERANSTALTUNG | FR. 18.12. | 19 UHR | FAU LOKAL
DEMO UND INFOVERANSTALTUNG: FAU LOKAL | STRAßBURGER STRAßE 38 | U
SENEFELDER PLATZ
Stärkt das Recht, selbst zu entscheiden, mit wem und wie ihr euch
organisieren wollt.
Join the Union! www.fau.org/verbot
Und/oder spendet: FAU Berlin | Konto-Nr.: 3703001711 | BLZ: 16050000 |
Bank: Mittelbrandenburgische Sparkasse | Verwendungszweck: Mäuse für die
Katze
Moderne Staatspoller (USA), auch „Little Brother“ (is watching you) genannt.
Alle Photos: Peter Grosse