“Auch einer wie David Choquehuanca war mal ein Kind”, mit diesem Allgemeinplatz beginnt Anja Maier in der sonntaz ihre Reportage aus Bolivien, um den verfuegbaren Platz zunaechst mit Spekulationen darueber zu fuellen, was der bolivianische Aussenminister als Bauernkind wohl gedacht haben mag. Vielleicht war es eine der Fragen, die unbeantwortet blieben, wie Maier beklagt. Doch auch ein bolivianischer Minister redet lieber ueber seine eigenen Anliegen, als auf Klischees und Vorurteile zu antworten, die den Artikel wie ein roter Faden durchziehen.
David Choquehuanca und Evo Morales
Schon vor einem Vierteljahrhundert, mit 25 Jahren, soll Choquehuanca bereits „der“ Koordinator der bolivianischen Kleinbauern gewesen sein – die Anfuehrer und Anfuehrerinnen von damals, die verschiedenen Ausrichtungen, die Konflikte untereinander, dass mit Evo Morales am Ende die Gewerkschafter gegenueber den radikalen Indígenas wie dem „Mallku“ Felipe Quispe die Oberhand behielten, nun gut, das mag eher ein Thema fuer Historiker sein.
Aber anstatt die vielfaeltigen widerstreitenden Interessen zu analysieren (die rechte Opposition, das Unternehmertum, die Mittelschichten bleibt vollkommen ausgespart), werden einzelne Tendenzen oder Auesserungen mit Staatspolitik gleichgesetzt. Etwa, dass in Bolivien mit der Justizreform nun zweierlei Recht gelte – „das buergerliche, und das indigene, traditionell ueberlieferte Recht“, dass Recht nun teilbar sei und es deshalb zu Lynchjustiz komme, und dass diese Lynchjustiz eine Mahnung an die weisse Oberschicht sei (sie richtet sich vor allem gegen die Armen selbst), ist Unfug.
Gerade deswegen, weil viele – auch Indigene – Gewalt und Selbstjustiz als geeignetes Mittel zur Loesung von Konflikten oder Rechtsbruechen ansehen, und weil die Klassen- wie die Lynchjustiz, weil Korruption und Ineffizienz von Polizei und Justiz alte Uebel der bolivianischen Gesellschaft sind, wurde juengst das Gesetz zur Abgrenzung und Abstimmung der Rechtsbereiche verabschiedet.
Dass Artikel 6 die Todesstrafe ausdruecklich verbietet, und bei Zuwiderhandlung die Zustaendigkeit explizit dem buergerlichen Recht und nicht der indigenen Justiz zuweist, und dass etwa Artikel 5 jede Form von Gewalt gegen Kinder, Jugendliche, Frauen fuer alle Rechtsbereiche als unzulaessig erklaert, und dass der gleiche Artikel auch die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen im Justizapparat vorschreibt, darueber und darueber wieweit der Justizalltag von diesen Prinzipien noch entfernt ist, haette Maier sich vielleicht mit den gtz-Experten austauschen koennen, die beim Gesetzesprojekt mitberaten haben.
Sie haette darueber berichten koennen, wie schwer der Weg zu dem neuen Gesetz war und welche Hindernisse es nun zu seiner Verwirklichung zu ueberwinden gilt. Davon, dass die UNO juengst beklagt hat, dass politischer Einfluss wie auch wirtschaftliche Interessen immer noch den Verlauf und Ausgang von Verfahren beeinflussen. Davon, wie politischer Streit auf die juristische Ebene verlagert wird, wie tatsaechliche Rechtsbrueche Raum oeffnen fuer die Bekaempfung der politischen Opposition.
Doch stattdessen gibt sie das Vorurteil der bolivianischen Rechten wieder, die nun gesetzliche verankerte indigene Justiz mit Lynchjustiz gleichsetzen, und das dadurch nicht richtiger wird, dass es auch in der aufgeklaerten europaeischen Linken auf fruchtbaren Boden faellt und immer wieder wiederholt wird. Die indigene Justiz sei keine Mordjustiz, betont der indigene Gobernador von Chuquisaca im Wortzitat im Artikel. Das hindert die taz aber nicht daran, in der Bildunterschrift zu behaupten, er habe Lynchjustiz gerechtfertigt.
Auch mit dem Thema der Diskriminierung wegen sexueller Orientierung arbeitet sich Maier eher an europaeischen Klischees und Ueberlegenheitsvorstellungen ab und projeziert sie auf das neue Staatsmodell, statt die Problematik als das zu beschreiben, was sie ist: Ein gesellschaftliches Problem, das nicht nur bei Vertretern der Regierungspartei und in Teilen der indigenen Gemeinden virulent ist (in manchen traditionellen Gemeinden wird Homosexualitaet durchaus akzeptiert), sondern vor allem auch in machistischen Sektoren der Staedte.
Ein Problem, das auch noch besteht, nachdem diese Form der Diskriminierung in einem juengst von der MAS-Mehrheit im Parlament verabschiedeten Gesetz ebenso wie die rassistische Diskriminierung, die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder wegen Behinderungen unter Strafe gestellt wurde – gegen die Stimmen der rechten Opposition, die sich um die Meinungsfreiheit sorgt, nachdem sie jahrelang nichts gegen rassistische Hetze gegen die indigenen Minister in den Massenmedien getan hat.
Ueberhaupt vernachlaessigt Maier bisweilen die Ursachen fuer ein Problem und nimmt die Tatsache, dass es noch nicht geloest ist, als Beleg fuer das Scheitern des Projekts des politischen und kulturellen Wandels. So als ob die weitere Prekarisierung der ohnehin miserablen Arbeit in den bolivianischen Bergwerken durch Informalisierung kein Ergebnis der neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der 80er Jahre waere.
„In der Hoelle von Bolivien glauben die Indigenen von Bolivien nicht mehr an Fortschritt, Gleichheit oder Kosmo-Bio-Visionen“, schreibt Maier. Hat sie gefragt, ob sie vor dem Regierungsantritt von Morales an Kosmo-Bio-Visionen geglaubt haben?
Die Bergarbeiterkultur ist nicht identisch mit der Kultur der kleinbauerlichen sindicatos campesinos, von denen die meisten zudem immer noch mehr auf Mechanisierung der Landwirtschaft statt auf die andine Agrarkultur setzen, die der Aussenminister Choquehuanca im Blick hat, und schon gar nicht mit der Kultur der traditionellen andinen Dorfgemeinden, den Ayllus, auch wenn die meisten Bergarbeiter andine Wurzeln haben. Aber differenzierte Darstellung ist keine Staerke des Artikels.
Recht hat Anja Meier wohl mit der Feststellung, dass das Sozialismusexperiment (wenn man es angesichts der vielen pragmatischen Kompromisse mit dem privatwirtschaftlichen Sektor und der heterogenen Zusammensetzung der Regierung selbst ueberhaupt so nennen kann) in die Krise trudelt und zu scheitern droht.
Doch schon ein Blick auf die Liste der Gespraechspartner der von der Bundeszentrale fuer politische Bildung gefoerderten Reise macht die Schlagseite des Projekts deutlich. Auf der Folie der Einschaetzungen der von der internationalen Gemeinschaft hofierten Vorgaengerregierungen bzw. ihrer Berater ist eine zukunftsorientierte Analyse der Ursachen der Krise und der gesellschaftlichen Perspektiven nur schwer moeglich.