vonHelmut Höge 15.05.2009

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„Wir waren ein Kollektiv/Doch plötzlich lief irgendwas schief!“ (aus einem Lied der Berliner Narva-Arbeiterinnen)


Am Sonntag findet in der Hamburger Kampnagel-Fabrik im Rahmen seines Festivals „Kollektive aller Länder“ ein „open space“ über alte und neue „Kollektive“ statt. Während die „Genossenschaften“ außer Mode gekommen sind, klingt das Wort „Kollektiv“ seltsamerweise immer noch oder schon wieder attraktiv, d.h. es wird gerne für Gruppenprojekte, welcher Art auch immer, verwendet . Ich habe vier Kollektiv-Phasen bisher „durchlebt“: 1. die Alternativbetriebe, ab den Siebzigerjahren, bis hin zu den „Landkommunen“, bei denen es um unternehmerische, jedoch gemeinschaftlich begonnene Wirtschaftsprojekte ging, sie nannten sich auch „Betriebe ohne Chef“. Arbeit und Leben sollten dabei ungetrennt sein. Dieser Anspruch wich jedoch mehr und mehr einem realistischen Geschäftssinn. Der Hamburger Historiker Arndt Neumann hat diese Entwicklung in seinem Buch „Kleine geile Firmen“ prägnant nachgezeichnet. Die Alternativbetriebe waren als Verein, GbR oder GmbH registriert – wenn überhaupt. Aus Vereinen hätten Genossenschaften werden können, aber erst die Gesetzesreform von 2006 und die darauffolgende Staatssubventionierung von Genossenschaften begünstigte diesen Schritt. Seitdem werden auch wieder vermehrt welche gegründet.

Genossenschaften sind hierarchisch, arbeitsteilig und basieren als „Kinder der Not“ auf gegenseitige Hilfe. Als neulich in einer Berliner Wohnungsgenossenschaft ein Mieter wünschte, vom Vorstand über dessen Immobilienzukäufe wenigstens informiert zu werden, wurde ihm geantwortet: „Geh doch in’n Kibbuz!“ Inzwischen gibt es nicht nur „Kultur-“ und „E-Commerce-Genossenschaften“, viele neuentstandene haben auch Elemente von Alternativbetrieben übernommen. So erzählte mir z.B. ein griechischer Genossenschaftsforscher, der amerikanische Agrargenossenschaften untersucht: „Früher taten sich Farmer oder solche, die es werden wollten, zusammen und gründeten eine Genossenschaft/Kooperative, um Risiken zu minimieren, heute tun sie das, um mehr Risiken eingehen zu können.“ Und jeder Betrieb ist heute ganz unterschiedlich. Vom -Klima, von der -Struktur, vom -Statut her usw.. Hierzulande nennen sie sich nicht selten „Kollektivbetrieb“, am häufigsten dürften dabei die „Kneipenkollektive“ sein, die jedoch, ähnlich wie die Produktivgenossenschaften seit jeher, auch Mitarbeiter beschäftigen, die nicht Kollektiv- bzw. Genossenschaftsmitglieder sind. Im Unterschied zu diesen Fabrikgenossenschaften begreift sich das Kollektiv als ein Projekt – ein „Kollektivprojekt“ eben. Die Gründung eines solchen empfehlen inzwischen sogar Arbeitslosenberatungen: „Wir-eG statt Ich-AG!“ heißt das auf Parole gebracht.

Nach den aus der Arbeiterbewegung stammenden Genossenschaften, den aus der Studentenbewegung resultierenden Alternativbetrieben und den neuen Kollektivbetrieben, die von einer „nicht-kommerzieller Landwirtschaft“ bis zu Spontanprojekten der „Digitalen Bohème“ reichen, gibt es noch ein viertes, sozusagen allerneuestes „Kollektiv“. Es kommt aus dem Begriffsreservoir der „Akteur-Netzwerk-Theorie“, die sich der „politischen Ökologie“, vor allem den Natur- bzw. Umweltschützern und Bürgerinitiativen bzw. NGOs, andient. Ihr Kollektiv „vereint das, was früher Natur und Gesellschaft hieß, in einem einzigen Raum“. Dieser besteht aus einem Runden Tisch bzw. „Parlament“ von Akteuren und Aktanten, die die Dinge in ihrem „Pluriversum“ neu aushandeln. Das „Kollektiv“ der ANT ist keine bereits geschaffene Einheit, sondern verweist auf ein Verfahren, „um Assoziationen von Menschen und nicht-menschlichen Wesen zu (ver)sammeln.“ Es ist ein „Experiment“, wie der Wissenssoziologe Bruno Latour betont, wobei im Französischen – bei seinem Begriff „expérience collective“ – auch kollektive Erfahrungen mitschwingen. Die nicht-menschlichen Wesen verlieren durch die Teilnahme ihren Objektstatus und die Menschen ihr vermeintlich einzigartiges Subjektsein. Aber auch die Dichotomien von Kultur – Natur und Fakten – Fetische verschwinden. Das sollen sie jedenfalls – verspricht die „Akteur-Netzwerk-Theorie“.

Der Bezug dieser kleinen Kollektiv-Geschichte zum „Live Art Festival“ in der Kampnagelfabrik ist allein dadurch schon gegeben, dass früher, als dort noch Schiffskräne hergestellt wurden, von Seiten der Geschäftsführung oft die Rede davon war: „Wir sind doch alle eine Familie“. Seitdem die Fabrik 1982 jedoch ein Veranstaltungsort für darstellende Kunst geworden ist – eine „Theatermaschine“ also, gilt hier das einst von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski entwickelte „System“, das nach ihm „Stanislawski“ heißt – und u.a. die Idee beinhaltet: „Das Theater ist eine Familie neuen Typs!“ Dahinter steht die Erkenntnis: „Familie – das ist wie eine gute noch intakte Maschine, die von der Welt abgenutzt wird, schade sie aufzugeben, aber sinnlos sie neu aufzuziehen. Es gelingt nicht, Mann und Frau müssen jeden Tag das Defizit decken,“ so Viktor Schklowski 1925. Die Alternative dazu ist: den Unternehmer rausschmeißen und ein Kollektiv bilden – bzw. auf das Theater bezogen: das „System Stanislawski“.

Auch hierbei gibt es nur vier: das japanische No-Theater, das Brechtsche, das Meyerholdsche und eben das System Stanislawski. Im Rahmen des Brechtschen Theaters war die Kampnagel-Fabrik bzw. sein Vorkriegs-Arbeiterkollektiv auch einmal Thema einer DDR-Bühnenfassung. Diese basierte auf dem Roman „Maschinenfabrik N &K“ von Willi Bredel. „N & K“ stand für „Nagel & Kaemp“, unter diesen Namen war das spätere Eisenwerk Kampnagel 1865 gegründet worden. Willi Bredel hatte dort 1930 kurze Zeit als Maschinendreher gearbeitet. In seinem Roman geht es um die Arbeitskämpfe zwischen den Fabrikherren und den Arbeitern sowie um Konflikte in der Belegschaft – zwischen staatstragenden Sozis und radikalen Kommunisten. Das Werk stellte ab 1939 Rüstungsteile her, nach 1945 wieder Schiffs-Ladetechnik, aber mit dem Aufkommen der Container kam das Ende der Kampnagel-Fabrik. 1968 wurde sie vom Demag-Konzern übernommen, der dort bis 1981 Gabelstapler – also Landladetechnik – produzierte. Willi Bredel schildert „das Werk“ im Jahr 1930 aus Arbeitersicht so:

„Jetzt war es fünfzehn Minuten vor sieben. Das grüne Bäckerauto fuhr wie jeden Morgen um diese Zeit hier vorbei. Die drei Arbeitermädel von der Gummifabrik kamen dort um die Ecke. Wie jeden Morgen um diese Zeit humpelte der Alte mit den schlohweißen Haaren und dem merkwürdig langen Kinn über die Kanalbrücke. Dann rasselte auch schon drüben wie jeden Morgen um diese Zeit, fünfzehn Minuten vor sieben, der Schlüssel des Pförtners im Schloss der schweren Eisentür, und die Arbeiter, die bereits vor dem Fabrikgebäude standen oder am Geländer des Kanals lehnten, schritten langsam in den Fabrikhof. Es war ein diesiger, nasskalter Februarmorgen. Mit hochgeklappten Kragen, die Hände tief in den Taschen, schritten die Arbeiter mit unwirschen, verschlafenen Gesichtern dahin. Je mehr die Uhr auf sieben ging, desto lebhafter wurde der Zustrom. Der Pförtner, ein kleiner, verhungert aussehender Kriegsbeschädigter, stand am Eingang und murmelte ununterbrochen: „’n Morgen, ’n Morgen!“ Da heulte die Fabriksirene kurz und schrill. Fünf Minuten vor sieben. Auch von den anderen Fabriken pfiff, heulte, schrie es. Die Arbeiter auf den Straßen beschleunigten ihre Schritte. Einige junge Weiber liefen lautlos über die Kanalbrücke, sie mussten zur Gummifabrik, die noch ein ganzes Stück entfernt lag. Im Fabrikeingang bei Negel & Kopp staute es sich jetzt. Arbeiter mit Fahrrädern hatten Mühe, sich durch das Tor zu zwängen. Gesprochen wurde fast gar nicht. Keiner hatte Lust, den Mund auf zutun, nur der Alte mit dem lahmen Bein murmelte immer wieder: „’n Morgen! ’n Morgen!“

Diejenigen, die sich schon umgezogen hatten, gingen über den Fabrikhof in ihre Werkstattabteilung. Einige schüttelten sich, als sie die nasskalten, dreckigen und öligen blauen Kittel am Leibe hatten und in die kalte, feuchte Luft kamen. In dem Umkleideraum, gleich links am Eingang, war es jetzt übervoll. Jeder trachtete so schnell wie möglich in seine „Plünnen“ zu kommen. Außer einer Schar Lehrlinge, die hinten in der Ecke rumorten, stieg jeder stumm in seine Arbeitshosen, knöpfte den Kittel zu und ging hinaus. An der Zentralheizung standen die Arbeitsleute, alte verhutzelte Gestalten, die klappernd vor Kälte ihre Glieder aufzuwärmen suchten. Ein Pfiff, lang, abscheulich grell. Sieben Uhr. Und dann eine Schreierei in den Lüften in allen Tonarten. Fast gleichzeitig wurden die großen Elektromotoren angestellt, und die Vorgelege von Hunderten von Maschinen ratterten durch die Räume. An einigen großen Hobelmaschinen, die mitten im Span abgestellt worden waren, quälte sich kreischend und ächzend der Stahl durch das Eisen. Bevor Geliert, der lahme Pförtner, das Tor schloss, sah er immer noch einmal nach Nachzüglern aus. Er kannte sie schon, die immer auf die letzte Minute oder gar zu spät kamen. Er wollte gerade seinen Kopf wieder zurückziehen und schließen, als er den langen Erwin drüben um die Ecke rennen sah. Ganz außer Atem kam er an. „Immer dieselben!“ „Sing nicht, Alter!“ rief der Lange und setzte über den Hof. Stempelte man nämlich an der Kontrolluhr fünf Minuten nach sieben Uhr, dann wurden dreißig Minuten abgezogen.

Die Maschinenfabrik Negel & Kopp stellte Kräne, Schäl-, Schneide- und landwirtschaftliche Maschinen her. Drei riesige Werkzeughallen bildeten die Fabrik. Gleich links am Eingang, anschließend an den Umkleideraum, war die Halle der Tischlerei. Bedeutend größer und höher zog sich in der Mitte des ganzen Fabrikkomplexes die Montagehalle hin. Ganz rechts, direkt am Kanal, stand die Maschinenhalle und daran anschließend die technische Werkstatt und das Büro. Insgesamt waren etwa dreihundert Arbeiter und fünfzig Angestellte der technischen und kaufmännischen Abteilung in der Fabrik beschäftigt. In der Tischlerei war es verhältnismäßig sauber. Einige Kreis- und Horizontalsägen kreischten grell und drangen erstaunlich schnell ins helle Holz. Große Bretter wurden an einer Maschine gehobelt, dass die Späne als lockige Holzwolle umherwirbelten. Sämtliche früheren umständlichen Handgriffe wurden in verblüffender Schnelligkeit maschinell erledigt. Drei halbfertige Krangehäuse standen in der Halle. Rechts in der Ecke war eines fertig und wurde von Lehrlingen gestrichen. Dazwischen lagen Holzstapel und kleinere Einzelteile. Es wurde gehämmert, gemessen, gerufen, und ununterbrochen kreischten die Sägen. In der Montagehalle sah es bedeutend finsterer und schmutziger aus. Mitten durch die Halle liefen Schienen, auf denen halbfertige Kräne standen. Unter der Hallendecke hingen Laufkräne, die schwere Eisenteile transportierten.

An den Seiten, vor den verschmutzten Fenstern, standen die Werkzeugtische, und in einer angebauten Vertiefung brannten mehrere Schmiedefeuer, wo die Schweißer arbeiteten. Hier war ein Höllenlärm, ein Tosen und Gedröhne. Das durcheinander tönende tiefe und helle Eisenschlagen, der Gleichklang des Schmiedens, das Zischen und Fauchen der Schweißapparate, das Sausen und Schlurren der großen Schleifsteine, das gegenseitige Anbrüllen der Arbeiter, die sich nur so in diesem Lärm verständlich machen konnten, war die so oft angedichtete Sinfonie der Arbeit, in der die Arbeiter von morgens bis abends ihr ganzes Leben lang schufteten und lebten. Der Laufkran fuhr einen riesigen Greifer über die Köpfe der Arbeitenden hinweg. Schmächtige, kaum der Schule entwachsene Jungen turnten zwischen den Eisenteilen umher und reichten den Gesellen Werkzeugteile zu. Dort stand ein hünenhafter Arbeiter und wischte sich von der verschmutzten, öligen Hand Blut. An den Werkzeugbänken wurde gehämmert und gefeilt. Überall lagen die blauen Zeichnungen. Es arbeiteten immer mehrere Arbeiter in einer Kolonne zusammen, die ihr bestimmtes Arbeitspensum schaffen musste. Es waren zum größten Teil eingearbeitete Facharbeiter, die ohne viel Reden ihre Arbeit machten. Zum Umsehen war dabei allerdings auch keine Zeit. In der Maschinenhalle standen die Dreh-, Hobel- und Bohrbänke. Eine lange Reihe Drehbänke stand an der Fensterfront. Inmitten der Halle waren riesige Karussell- und Plandrehbänke in den Boden gemauert. Am andern Ende standen die Hobelbänke und Bohrmaschinen. Geteilt wurde die Halle durch eine Glasbude, von der aus die Meister den Arbeitsgang kontrollieren konnten. In Reih und Glied hintereinander, so, wie die Bänke standen, arbeiteten natürlich auch die Dreher. Die verschiedenartigsten Artikel wurden hergestellt. Von der kleinsten Schraube, dem einfachsten Bolzen bis zu den kompliziertesten Kugellagergehäusen und Trapezgewindespindeln lagen sie auf den Arbeitstischen bei den Drehbänken. Es wurden nur solche Artikel in Arbeit genommen, die sich zur Massenfabrikation eigneten und dann nach Zahl und Arbeitsvorgang geordnet gestapelt wurden.

An den Riesen- und Karusselldrehbänken schleppten wieder Laufkräne das oft zentnerschwere Arbeitsstück heran, das dann mit ganzer Kraft und genauer Berechnung an der Drehscheibe der Bank gefertigt wurde. Die kleinen Bänke liefen in rasendem Tempo. Erstaunlich, mit welcher Schnelligkeit der für das Material zurechtgeschliffene Stahl das Eisen herunterschälte. Ein pfeifendes Sausen begleitete den Vorgang. Die großen Bänke liefen langsam und stöhnten, dröhnten und ächzten. Der Stahl quälte sich gewaltsam in den spröden Guss, dass die ganze Drehbank zitterte. Etwas abseits standen die Bohr- und Hobelmaschinen. Bei dauernder starker Kühlung mit so genanntem Seifenwasser (Ölwasser) fraß sich unter Quietschen und Kreischen der Bohrer ins Material. Die kleinsten und größten Bohrungen wurden in einmaligem Vorgang fertig gestellt. Neben dieser Abteilung war die Werkzeugmacherei, in der das Werkzeug instand gehalten und ausgeliehen wurde. – Da heulte wieder die abscheuliche Fabriksirene. Es war fünfzehn Minuten vor neun Uhr. Frühstück. Um neun Uhr wird sie abermals heulen, dann ist Frühstück vorbei. Von zwölf bis zwölf Uhr fünfundvierzig ist Mittag und um vier Uhr Feierabend, dann ist ein Arbeitstag vorüber. Die Woche hat sechs, das Jahr über dreihundert solcher Arbeitstage.“

Willi Bredels Roman wurde 1933 von den Nazis verbrannt. Die Kampnagelfabrik 1982 in einen Kulturveranstaltungsort umgewandelt.

Das passierte an vielen Orten in den letzten Jahren. Nirgendwo stehen so viele denkmalgeschützte Fabriken herum wie in Deutschland. Wo ihre Umwandlung in Lofts und Großraumbüros mangels Bedarf bislang noch nicht in Angriff genommen wurde, dürfen die Künstler die leer stehenden Hallen bespielen. Oft nutzen diese den Veranstaltungsort allerdings nur als „abgefahrene Location“. Vor einiger Zeit wurde ein Theaterstück wieder hervorgekramt: „Die Union der festen Hand“, das dann an vier postindustriellen Spielorten den darin einst ausgetragenen schwerindustriellen Kampf zwischen Kapital und Arbeit erneut „thematisierte“.

Den Aufführungen waren mithin diese Fabriken nicht nur Kulissen, nicht nur äußerlich, sondern man wollte im Gegenteil, nun – „da der Ort selber zum Akteur wird – ihm dabei (wieder) Authentizität beibringen“. Das Theaterstück über die Ruhrbarone, deren Rheinischer Kapitalismus derzeit immer noch „umgebaut“ wird, basiert auf einem Schlüsselroman, den Hermann Dannenberger, der Sohn eines Kruppmitarbeiters, Ende der Zwanzigerjahre veröffentlichte: „Die Union der festen Hand“. Dem Autor mit dem Pseudonym Erik Reger (er gründete nach 1945 den Tagesspiegel) ging es dabei um den „Umbau“ der Industriemacht – nach Kaiserreich, verlorenem Ersten Weltkrieg und Revolution.

In Essen war der Spielort dafür die Zeche Zollverein, die 1932 mit modernster Technik in Betrieb genommen wurde und täglich 12.000 Tonnen Steinkohle förderte. Bis zur Stilllegung 1986 blieb „diese Leistung europaweit unübertroffen“ – nur leider musste jede Tonne Kohle subventioniert werden, um keinen „Verlust“ darzustellen. Noch absurder gestaltete sich das Ende der Wertschöpfung beim zweiten Spielort – im Bergwerk Göttelborn der Saarbergwerke AG. Hier entstand zwischen 1990 und 1995 die „modernste Förderanlage Europas“. Kaum war die Produktion angelaufen, fiel das Werk dem „saarländischen Kohlekompromiss“ zum Opfer und wurde 1997 als „Investitionsruine“ zum Industriemuseum auf Basis von ABM. Der dritte Spielort, in Goslar, war das Bergwerk Rammelsberg, wo 3.000 Jahre lang Kupfer, Silber und Blei gefördert wurden. Es war schon 1932 unrentabel, aber im Zuge der nationalsozialistischen Autarkiepolitik noch einmal mit der „modernsten Erzaufbereitungsanlage der damaligen Zeit“ ausgerüstet worden. 1988 wurde das Werk endgültig geschlossen. Der vierte Spielort befand sich in Berlin: im ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) „Franz Stenzer“ an der Warschauer Brücke.

Mit dieser ausgeweideten Industrieruine, wird gleichsam die Verbindung zu den anderen drei Spielorten hergestellt, die ja vor allem über „die Schiene“ lief. Das größte und älteste deutsche Reichsbahnausbesserungswerk entstand 1867 und wurde 1991 stillgelegt, nachdem die Reichsbahn in der Bundesbahn aufgegangen und diese privatisiert worden war. Das RAW ist nun eine „Top-Immobilie“ der „Vivico Real Estate“, die unter anderem große Teile der ehemaligen Bundesbahn-Immobilien vermarktet. Diese ganzen – zerrissenen – Verbindungen liefen noch einmal in dem „Theaterprojekt: „Union der festen Hand“ zusammen, das die Firma „mediapool gmbh berlin“ produzierte und die „Bundeszentrale für politische Bildung Bonn“ sponserte. In Göttelborn hießen die lokalen Partner „Industriekultur Saar GmbH“ und das „Festival ,Schichtwechsel“. Am Rammelsberg und auf der Zeche Zollverein war es die jeweilige Verwaltung dieser zwei „Weltkulturerbe“-Objekte. Das Ensemble des „Industrie-Theater-Projekts“, das von Stephan Stroux geleitet wurde, bespielte die vier Orte nacheinander, geprobt wurde jedoch quasi in allen Hallen und Werkstätten gleichzeitig.

Als Zugabe gab es im Friedrichshainer RAW noch ein sozialstaatlich bezuschusstes „Beiprogramm“, das von Filmen zum Thema über Auftritte des Feuerkünstlers Kain Karawahn bis zur „Trümmerkunde für Schulen“ reichte – und den Titel trug: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, wollte keine Knechte“. Das ganze katalogdicke Projekt resümierte damit und in den obigen Koalitionen noch einmal nahezu die gesamte Entwicklung von der Montan- zur Spontanunion. Und wir standen mittenmang.

1999 stand ich schon einmal dort – in gewisser Weise mittenmang, weil ich im Reichsbahnausbesserungswerk „Franz Stenzer“ (RAW) einen Vortrag über alte und neue Kollektive halten sollte. Ich kannte das riesige Gelände an der Warschauer Brücke bis dahin nur als Zuhörer – von Narva-Belegschaftsversammlungen und Bezirksverordnetenversammlungen, die dort nach der Wende gelegentlich stattfanden, nachdem das Werk von der Bundesbahn abgewickelt worden war. Sie verpachtete es dann an einen Betreiberverein, und dieses Kollektiv veranstaltete Diskussionen, Lesungen etc. und gab die „Raw-Tempel-Informationen“ heraus. Im Gebäudeensemble siedelten sich diverse Kunst- und Kulturinitiativen an – allesamt mit kreativen Namen: Workstation, Virtuartisten-Denkraum, Stephanie Theurer – Mode, Sonic Dream Familiy, Faulwasser, Roots-Promotion, Fehler Pan Tappert, die Artisten-Vereinigung zur Aufhebung der Schwerkraft, das afrikanische Kulturzentrum Shrine, ein Gewerke-Zusammenschluss sowie ein Ambulatorium – das so genannte Vereinscasino.

Die organisatorisch-künstlerischen Fäden liefen alle bei Bibiena zusammen. Die Holländerin besetzte einst das riesige Lagergebäude am Hafen von Amsterdam in der Konradstraat mit. Bei der Räumung durch die Polizei ging es in Flammen auf. Bibiena besitzt noch einen angekokelten Billigroman aus dieser heroischen Periode. Mir vermittelte sie einen neuen Begriff von Kulturmanagement. Das galt auch für einige Frauen aus dem Hanf-Museum im Nikolaiviertel, die sich dort eingeklinkt hatten. Insgesamt ließ sich sagen, dass das gesamte „Projekt“ so etwas wie einen durch Kunst und Kultur gefilterten „Autonomismus“ abstrahlt. Wie es umgekehrt auch etliche durch den Autonomismus herausgeforderte Kunstprojekte gibt. Dazu passte Bibienas Einschätzung, dass es gelte, die durch Ecstasy und Techno-Clubs entpolitisierten Jungmenschen wieder aufzurütteln. Wobei sie sich wohl bewusst war, dass diese sich ebenfalls zwischen „Kunst, Kommerz und Sozialhilfe“ irgendwie austarieren, wie eine der neuen Berlinromanschreiberinnen das ausdrückte.

Wladimir Kaminer schlug im „RAW-Tempel“ zunächst eine Diskussion vor – über „die nahe Zukunft“. Wobei er noch einmal auf seine Thesen von der Demokratie als befreiende Mangelerscheinung und dem Ende der hehren Kunst zu sprechen kam. Er erntete bloß weitere Grundsätzlichkeiten, vermischt mit nachdenklichen Buddhismen. Ich vermutete: Seine Publikations- und Auftrittserfolge langweilten ihn bereits, so dass er sich langsam in allgemein gültige Gesellschaftsanalysen stürzen wollte. Dabei schienen seine Texte bester Beweis dafür zu sein, dass eher die sich dekollektivierenden Einzelschicksale aufschlussreich waren (und sind). Zur Diskussion dieses einst von den Franzmännern „Ein Klein-Werden Schaffen“ genannten „Mega-Problems“ versammelte der damals noch neue FR-Feuilletonchef Harry Nutt einige westdeutsche Soziologen um sich. Heinz Bude sah es dabei als seine vornehmste Aufgabe an, in den neuen „Individualitätsmustern“ die „Chancen und Risiken“ auszuloten. Peter Gross sprach von der „Ich-Jagd“, die immer neue „Selbstbeschreibungen“ – von Mini- und Subsub-Gesellschaften – „aus sich heraus“ treibe, weswegen es eine „eigentliche“ Beschreibung nicht mehr geben könne, von Theoriebildung ganz zu schweigen. Claus Offe hielt der Vervielfachung individueller „Optionen“ das Verschwinden der kollektiven Optionen entgegen. Auch in den wirtschaftlichen „Spitzenpositionen“ könne nichts mehr bewegt werden, besonders die Politik „tut nur so, als ob sie etwas täte“. Bude erinnerte die derzeitige Gesellschaftsveranstaltung an ein „Tanzlokal“, wo nun zwar freie Partnerwahl herrsche, „aber immer mehr bleiben sitzen“. In einer solchen „Freiheit“ käme es darauf an, statt Despoten „ausrastende Kleinbürger zu pazifieren“. Für Offe kam es jedoch eher darauf an, „Handlungsfähigkeit jenseits der Handhabung von Kreditkarten in Supermärkten wieder herzustellen“.

Er mag dabei an neue Kollektive gedacht haben, Bude blieb jedoch beim „unternehmerischen Einzelnen: ein Virtuose des Kombinierens von Erwerbseinkommen, Sozialbeziehungen und Zukunftsentwürfen“ – kein „Künstlerideal, sondern Modell einer Alltagsmoral“. Wobei anscheinend der selbständige Künstler mehr und mehr die soziale Idealform bildet, bei gleichzeitigem Obsoletwerden der Kunst – was übrig bleibt, ist „raw“. Was ich im RAW-Tempel zur Kollektivität zu sagen hatte oder meinte sagen zu müssen – habe ich leider vergessen.

Bibiena, die RAW-„Besetzerin“ ist längst weitergezogen, aus ihrem Kollektiv wurde ein Verein. Dieser gliedert sich heute auf seiner Webpage wie folgt:

„Vereinsvorstand, Vereinsbüro, Veranstaltungsbüro, Öffentlichkeitsarbeit, Buchhaltung, Haus- und Hofsicherheit, Architekt, Arbeit und Beschäftigung.“ Unter „Haus + Hofmeisterei.
Ordnung und Sicherheit“ heißt es:

„Andreas Triebenbacher ist bei uns verantwortlich für Ordnung, Sicherheit und Be- und Entsorgung. Zudem koordiniert er die Arbeitskräfte aus den Programmen Arbeit statt Strafe (ASS) und GZA. Erreichbar ist er über das Büro 030/ 297 744 23.“

Das Photo hier zeigt nicht den RAW-Hausmeister Andreas Triebenbacher aus Friedrichshain (- mit einer kleinen buddhistischen Pilone auf dem Kopf), sondern den Infantristen Klaus Bärmeier aus Aachen – der auf der Bühne des Kriegsgefangenenlagers Irkutsk IV einen indonesischen Tempeltanz vorführt. Bärmeier, der sich dort Salomé nannte, galt spätestens ab 1916 unter den kriegsgefangenen deutschen und österreichischen Theaterbegeisterten als der beste Frauendarsteller weit und breit – und bald auch als die schönste Frau Sibiriens. Nach der Revolution, die alle Lager öffnete, schlug er sich nach Moskau durch, wo er anfing, in einer Schokoladenfabrik zu arbeiten. Wenig später schon schloß er sich der „Arbeiteropposition“ (AO) an. Diese warf Lenin und Trotzki dann vor, sie würden aus den Gewerkschaften bloß „Schulen für Hausmeister“ machen wollen… So geschah es dann auch tatsächlich – bis zum Ende der Sowjetunion. Seitdem haben sich dort aber neue, wieder kämpferische Gewerkschaften gegründet. Kürzlich besuchte eine Gruppe sibirischer Anarcho-Gewerkschafter Berlin, die u. a. Transsib-Streckenbesetzungen organisiert. Die „Schulen für Hausmeister“ – das sind jetzt die FM-Studiengänge an den diversen Fachhochschulen im In- und Ausland. Die damalige „Arbeiteropposition“ wurde bis auf Alexandra Kollontai fast vollständig von Stalin liquidiert, Klaus Bärmeier wurde verhaftet und kam erneut in ein sibirisches Lager, wo er an Typhus starb.

Peter Grosse hat mir das Photo aber aus einem ganz anderen Grund geschickt: „tanz den pylon,poll den poller. it’s springtime,da springt auch der hausmeister gerne mal aus der reihe…“, schrieb er dazu.

Eben sagte noch eine Hamburgerin, die früher einmal zum taz-kollektiv gehörte, und mir über die Schulter kuckte: „Alexandra Kollontai, bolschewistische Arbeiteropposition“ – kennt doch kein Schwein mehr bei Kampnagel…“

So sei denn dazu hier noch Näheres hintangefügt:

Vor einiger Zeit fand im alten ND-Gebäude eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte Konferenz über „Die Kollontai-Rezeption in der russischen und deutschen Arbeiter- und Frauenbewegung“ statt. Solche Veranstaltungen über Einzelpersönlichkeiten drehen sich meist um drei Stränge: den Stand der Forschung zur Person, eine Erbe-Diskussion (ihre zeitgerechte Würdigung) und eine Text-Kritik (was ist daran heute noch relevant?). Trotz der Ausführungen des Soziologen Helmut Steiner, der zuvor ein Seminar über Rosa Luxemburg und Alexandra Kollontai durchführte, und des Redakteurs der diplomatischen Tagebücher Kollontais, Mansur Muchamedshanow, kam die Frage „Was hat sie uns noch zu sagen?“ auf der Konferenz zu kurz. Daran änderten dann auch die zwei feministischen Referentinnen aus Ost- und Westberlin – Herta Kuhrig und Annemarie Tröger – nichts. Helmut Steiner immerhin umspielte die zwei wichtigsten „thematischen Komplexe“ der Kollontai, mit denen sie seinerzeit in die Auseinandersetzungen über die Entwicklung der Revolution in der Sowjetunion eingriff. Die Stichworte dafür heißen „Freie Liebe“ und „Arbeiteropposition“ (AO) – sie beschäftigen die Linke noch heute, denn es ging dabei kurz gesagt darum, daß und wie man zum einen sein eigenes Leben und zum anderen den eigenen Betrieb kollektiv führt (die Kollontai spricht hierbei von Produktionsverwaltung).

Die damalige Situation während des Streits um die Forderungen der AO war in etwa folgende: Die Rote Armee hatte nacheinander alle Weißen geschlagen und die Macht der Bolschewiki stabilisiert, aber jetzt rebellierten ihre eigenen Mitstreiter, u.a. die Kronstädter Matrosen, deren Aufstand Trotzki im März 1921 zusammenschießen ließ. Im selben Monat fand der 10. Parteitag statt. Hier ließ die Kollontai ihr Manifest der AO verteilen, gleichzeitig wurden von der Gruppe 22 Thesen über die „Aufgaben der Gewerkschaften“ vorgetragen. Diese sollten aufgrund ihrer Verbundenheit mit der Arbeiterklasse den sich auftuenden Widerspruch zwischen der Parteispitze (der Regierung) und der Basis (den Massen) „von unten nach oben“ lösen. In der anschließenden Debatte mußte die Kollontai sich sagen lassen, die AO wäre auch „mit Kronstadt“ verbunden. Sie entgegnete: „Genossen…wer ist als erster dorthin geeilt, wenn nicht die Vertreter der Arbeiteropposition?“ Lange vor Trotzki, der 1920/21 eine „Militarisierung der Arbeit“ von oben nach unten befürwortete, machte die AO den neuen „Bürokratismus“ und „Militarismus“ für die „Parteikrise“ verantwortlich, der Lenin mit einem „Fraktionsverbot“ beikommen wollte, für das er dann auf dem Parteitag auch eine satte Mehrheit bekam: die AO-„Plattform“ mußte sich auflösen. Bis auf Alexandra Kollontai, die man als „erste Diplomatin der Welt“ ins Ausland abschob, wurden später fast alle ihre Mitglieder hingerichtet, 1935 wurde vom KGB sogar eine neuerliche „Gruppe Arbeiteropposition“ konstruiert – und sogleich liquidiert. Halten wir fest: Während es Kollontai und der AO um die Stärkung der Position der konkreten Arbeiter mittels branchengewerkschaftlicher „Betriebszellen“ ging, um die Produktion zu reorganisieren, „lavierten“ ihrer Meinung nach Lenin, Trotzki, Bucharin, Sinowjew u.a. im Namen des Proletariats machtstrategisch, wobei sie den Gewerkschaften nur „Erziehungsaufgaben“ gestatteten. Es gab damals bloß 7 Millionen Arbeiter in der Sowjetunion – und all den anderen Klassen und Schichten wurde von der AO ein mehr oder weniger schädlicher Einfluß beim Überspringen der Dampfphase zur Entwicklung neuer – revolutionärer, elektrifizierter – Produktionsverhältnisse attestiert. Hinzu kam noch, daß die engagiertesten Arbeiter inzwischen im Bürgerkrieg gefallen oder durch Karrieren in Armee, Partei und Sowjetbürokratie in alle Winde verstreut waren. Außerdem hatten sich die Zustände in den Fabriken und Bergwerken seit 1914 katastrophal entwickelt.

Ähnliches ließe sich auch über die Moral und das Familienleben in der Sowjetunion nach Krieg und Bürgerkrieg sagen. Die Kollontai sah darin jedoch auch eine emanzipatorische Chance – für die Frauen, die jetzt quasi zur ökonomischen Selbständigkeit gezwungen waren: „Vor uns steht nicht mehr das ‚Weibchen‘, der Schatten des Mannes – vor uns steht die Persönlichkeit, das Weib als Mensch“. Daraus folgten fast zwangsläufig auch neue – freiere -„Beziehungen“, die es mittels Gesetzgebung, Kinderkrippen, Abtreibungskliniken etc. zu fördern gelte. Auch hierbei geriet die Kollontai wieder mit Lenin aneinander, der meinte, die Sexualität könne und dürfe nicht so praktiziert werden wie man etwa ein „Glas Wasser“ trinke. Die „sexuell emanzipierte Kommunistin“ hatte jedoch eher einen „beflügelten Eros“ im Sinn, womit sie sich von einem promiskuitiven Verständnis der „freien Liebe“ gerade abgrenzte, das damals besonders unter jungen Leuten als fortschrittlich galt. Es gab u.a. eine ganze Bewegung – „Nieder mit der Scham“, die nackt auf städtischen Plätzen demonstrierte. „Die sexuelle Bereitschaft von Frauen wurde zum Nachweis revolutionärer Gesinnung erhoben“, heißt es dazu in Kristine von Sodens Reader über „Sowjetische Frauen von Kollonati bis heute“.

Gegen Ende der Zwanziger Jahre schaffte es die Partei jedoch, daß anstelle dieser „Zügellosigkeit“ wieder eine „Rückkehr zur traditionellen Familienstruktur“ eintrat: Scheidungen und Abtreibungen wurden erschwert und die Kleinfamilie als „Nukleus des sozialistischen Staates“ gefestigt. Alexandra Kollontai durfte nichts mehr veröffentlichen, als es 1927 gegen den „trotzkistischen Block“ ging, rang sie sich eine Ergebenheitsadresse für Stalin ab, trotzdem erwartete sie spätestens ab 1937, von ihrem Botschafterposten zurückbefohlen und erschossen zu werden. 1938 wird sie im „Kurzen Lehrgang zur Geschichte der KPDSU (B)“ in einer Reihe mit den Volksfeinden erwähnt. Auch der 20.Parteitag rehabilitierte sie nicht. Erst mit der Studentenbewegung im Westen werden ihre Schriften neu aufgelegt, wobei es sich zumeist um ihre Texte über die „Freie Liebe“ handelte.

Die Referentin Herta Kuhrig meint, daß erst daraufhin auch die DDR einige Bücher der Kollontai herausgab – was bedauerlich sei, denn „es ist die Frau, die am meisten für die Frauen getan hat in der Welt“. Immerhin will die Rosa-Luxemburg-Stiftung jetzt ihre diplomatischen Tagebücher herausgeben. Auch in diesen kommt das, was Helmut Steiner ihren „Lebenskompromiß“ nennt, zum Ausdruck: immer wieder streute sie lobende Worte über Stalin darin ein. Der hatte ihr übrigens am 8.März 1933 einen Leninorden verliehen – für ihren Kampf um die Frauenbefreiung; später wollte man sie in Schweden mit dem Friedensnobelpreis ehren. In einer der Diskussionen des Kollontai-Kongresses gab ein alter Professor für Sowjet-Geschichte zu bedenken: „Sie hat in ihrem Leben laufend männliche Elite-Vorstellungen verwirklicht“. Eine junge Ministeriums-Soziologin meinte dagegen: „Wir brauchen eine neue Kollontai, die hier Schwung reinbringt…“ Allgemein geschimpft wurde über eine denunziatorische russische TV-Dokumentation über Alexandra Kollontai aus den Neunzigerjahren.

Mir gefiel darin jedoch die lückenlose Galerie ihrer Photos, die sehr schön zeigte, wie die Revolution aus der strengen Tochter eines zaristischen Generals eine lebensfrohe Genossin machte. Übrigens beschäftigte sie sich bereits seit 1910 theoretisch und praktisch mit der „Frauenfrage“. Der Ruf eines Roten Flittchens haftete ihr weltweit auch nach ihrer doppelten Niederlage in der Partei an: So verweigerte ihr z.B. Kanada das Agreement als Diplomatin und die USA ließen sie nicht einmal durch ihr Land nach Mexiko reisen, wo sie 1926 im Anschluß an Norwegen Botschafterin wurde.

Im Zuge der Kongreßvorbereitung las ich noch einmal ihr Manifest über die Arbeiterselbstverwaltung, das sie auf dem 10.Parteitag verteilt hatte. Es ist immer noch frisch. Ihre Warnung vor dem „Bürokratismus“ wurde erst von Trotzki im Exil aufgegriffen und dann von dem jugoslawischen Partei-Oppositionellen, Milovan Djilas, weiter entwickelt. Dort gedieh auch die von der AO einst anvisierte Arbeiterselbstverwaltung realsozialistisch am weitesten. In Westberlin knüpften die aus dem SDS hervorgegangenen „Basisgruppen“ und später die Redaktionsgruppe der Zeitschrift „Die soziale Revolution ist keine Parteisache“ wieder an den Thesen der Arbeiteropposition an. Einer, Peter Rambauseck, schrieb 1970 am OSI seine Diplomarbeit über „Die Gewerkschaften als Problem der Kommunistischen Partei von der Machtergreifung bis zum 10. Parteitag“, im Jahr darauf beteiligte er sich am „Kronstadt-Kongreß“ und dann an der Gründung einer „Werkschule“, in der einige AO-Forderungen realisiert wurden (wie übrigens auch anfänglich in der taz), jetzt macht er Mosaike. Ein anderer wurde später kurzzeitig IG-Metallvorsitzender von Berlin: mit den Betriebsratsproblemen im Osten konfrontiert, versagte er dort jedoch kläglich. Ansonsten ist es erstaunlich, wie dieser einst durch Kollontai und die AO inspirierte kleine Berliner Kreis von Rätekommunisten sich ideologisch treu geblieben ist, obwohl heute jeder von ihnen was anderes macht.

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