von 18.04.2009

taz Blogs


Willkommen auf der Blogplattform der taz-Community!

Mehr über diesen Blog

Jeden Abend um sieben steht bei Ferdinand Beetstra das Essen auf dem Tisch. Bei Ihnen auch, werden Sie jetzt vielleicht sagen – was ist also daran das Besondere? Tatsächlich ist diese Regelmäßigkeit sensationeller, als es auf den ersten Blick vielleicht klingen mag. Denn Ferdinand Beetstra lebt mit 51 anderen Menschen in einem Wohnprojekt im Weidlingkiez in Berlin-Lichtenberg – und jeden Abend kocht ein anderer Mitbewohner für die Gemeinschaft. Und angeblich klappt das sogar. „Wir sind mit dem System immer noch sehr zufrieden“, sagt Beetsra.

Wer nicht kochen kann oder will, bringt sich eben anderweitig ein, fährt Einkaufen für alle, wechselt Glühbirnen aus oder repariert Steckdosen. Anfangs hätte jeder alles mal machen müssen, erzählt Beetsra, der damit allerdings schlechte Erfahrungen gemacht hat. Mittlerweile bringt sich jeder nach seinen Möglichkeiten und Vorlieben in die große ausnahmslos aus Akademikern bestehende Gemeinschaft ein. „Wenn man verpflichtet ist, fühlt man sich unwohl“, sagt Beetsra, den acht Jahre Monster-WG zu einem weisen Mann gemacht haben.

Und weise Männer – das weiß man ja spätestens seit den ausverkauften Dalai-Lama-Gigs in deutschen Kongresszentren – erfreuen sich großer Beliebtheit. Dementsprechend die Kapazitätsgrenzen sprengend gut besucht war auch die Diskussion „Alt und Allein? Unfug!“, in der neben Beetsra auch Heidemarie Cramer und Bärbel Ristow von ihren Erfahrungen mit dem Wohnen in Gemeinschaft erzählten. Die beiden Frauen, die erst drei Monate bzw. anderthalb Jahre in Berliner Wohnprojekten leben, haben aber auch schon einiges gelernt, etwa „Respekt voreinander ist noch wichtiger als Sympathie“ (Ristow) oder „Die treibenden Kräfte in unserer Gemeinschaft sind die Alten“ (Cramer).

Beim Zuhören wurde schnell klar: Wohnprojekte kosten Kraft – und das sogar schon vor dem Einzug. Während der gemeinsamen Planungs- und Finanzierungsphase springen viele Interessenten ab, weiß Heidemarie Cramer: „Außer mir und einer anderen Frau ist niemand vom Anfang übrig geblieben.“ Und nach dem Einzug sei der Ärger weitergegangen. „Als erste gemeinschaftliche Aktion haben wir die Gemeinschaftswohnung eingerichtet“, erzählt Cramer. „Da flogen vielleicht die Fetzen.“

In ein Wohnprojekt zieht man nicht zufällig. „Wir haben das Gefühl gehabt, im Ruhestand nicht einfach nur als fitte Alte um die Welt reisen zu wollen, sondern wollten unsere Erfahrungen in eine Gemeinschaft einbringen“, erklärt Bärbel Ristow ihre Motivation und stellt klar: „Ich bin fast 70. Ich mache nichts mehr, was ich nicht machen möchte.“ Ihr Wohnprojekt im Rollbergkiez in Nordneukölln beschreibt sie als Liebe auf den ersten Blick: „Ich habe vom ersten Treffen an gewusst, dass dies die Gruppe war, mit der ich das Projekt angehen wollte.“

Bereut hat Ristow die Entscheidung nach eigenem Bekunden noch nie, und auch Beetsra und Cramer sind beinahe beängstigend zufrieden mit ihrer Wohnsituation – auch wenn letztere dafür in die Einöde von Alt-Stralau ziehen musste. „Die Kröte habe ich aber gerne geschluckt“, sagt Cramer.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/alternativlebend-und-gluecklich-2/

aktuell auf taz.de

kommentare