„Pass auf Dich auf“, legen mir Freunde vor der Reise in den Westen von Texas ans Herz. Einige fügen hinzu: „Geh besser nicht nach drüben.“
Seit meiner Ankunft in El Paso, höre ich auf Schritt und Tritt neue Warnungen: Die Dame vom Autoverleih erklärt Besuche auf der anderen Seite des Río Grande ungefragt für sinnlos. „In Ciudad Juárez gibt es absolut nichts zu tun“, dekretiert sie. Und weist darauf hin, dass ich ihr Auto nur mitnehmen darf, wenn ich eine Zusatzversicherung abschließe. Die ist teurer als die Automiete.
Der Touristenprospekt von El Paso schwärmt zwar wie eh und je von dem „farbenfrohen Markt“, von den Nachtclubs und von der Musik auf der anderen Seite. Aber er zitiert noch ausführlicher die Reise-Warnung des US-Außenministeriums.
Komunalpolitiker in El Paso und Leute, die sich von Berufs wegen mit Mexiko befassen, geben zu, dass sie schon lange nicht mehr drüben waren. „Zu gefährlich“, begründen sie.
Am schlimmsten sind die Medien. Sie veröffentlichen Kriminalstatistiken, wie Wetternachrichten. „Gestern Null Exekutionen“ steht an diesem Sonntag morgen auf der Titelseite der Zeitung „El Diario“, die auf beiden Seiten der Grenze erscheint. Weiter hinten erklärt ein Artikel, dass der 14. August im laufenden Jahr der fünfte Tag ohne Morde gewesen sei.
Die realen Zahlen von Morden (2.600 im vergangenen Jahr in Ciudad Juárez) , von Entführungen und von Erpressungen sind beklemmend. Alle sind im Visier der Killerkommandos. Auch Journalisten.
Ich bin nach El Paso gekommen, um über Grenzverhältnisse zu recherchieren. Das schließt das den Blick von beiden Seiten ein. Ich will Ciudad Juárez nicht nur aus der US-Perspektive kennen lernen. Aber mich gruselt.
Zum Glück treffe ich Ana. Die 45jährige putzt das Café, in dem ich frühstücke. Als ich ihr sage, dass ich aus Deutschland komme und Reporterin bin, lädt sie mich sofort zu sich nachhause ein. Ich wehre ab. Spreche von Gefahren „für sie und mich“. Und behaupte, dass ein Gang durch Ciudad Juárez für meine Arbeit nicht unbedingt nötig wäre.
Während ich so rede, schäme ich mich vor Ana. Sie kommt jeden Morgen von Ciudád Juárez nach El Paso zur Arbeit. Und sie geht jeden Abend zurück. Wenn sie von ihrem Alltag drüben erzählt, fällt oft das Wort: „Angst“. Sie spricht auch von „Stress“. Aber trotzdem kann sie sich nicht vorstellen, irgendwo anders, als in Ciudad Juárez zu leben. Als glückliche Besitzerin einer Aufenthaltsgenehmigung könnte sie sich in den USA niederlassen. Aber für sie ist die Stadt, vor der mich gruselt, Zuhause.
Ein paar Stunden später treffen wir uns am US-amerikanischen Ende der Santa Fé-Brücke. Wir tauchen ein in das Gedränge von heimkehrenden Kellnerinnen, Putzfrauen, Gärtnern und Hauskrankenpflegerinnen. An dem zurückliegenden Tag haben sie für Stundenlöhne zwischen 7 und 8 Dollar gearbeitet. Wenig in den USA. Nicht schlecht in Ciudad Juárez. Wer auf der mexikanischen Seite in den Fabriken arbeitet, in denen internationale Konzerne Einzelteile montierten lassen, muss sich mit einem Stundenlohn von 1 Dollar 50 zufrieden geben.
Tief unter uns liegen die Grenzlinien – die natürlichen und die menschen-gemachten: Der Río Grande, der fast ausgetrocknet ist. Die zwei Reihen meterhoher Metallzäune. Und die Asphaltpiste für Patrouillenfahrzeuge. Ein paar Graffiti auf dem befestigten Ufer des Río Grande erinnern an die nie aufgeklärte Mordserie an jungen Frauen.
Oben auf der Brücke ist ausschließlich Spanisch zu hören. Dass wir angekommen sind, merke ich daran, dass die Brücke zuende ist. Und dass Anas Schwester uns in Empfang nimmt. Eine Grenzkontrolle findet nicht statt.
Die beiden führen mich durch die Innenstadt. Autos ohne Kennzeichen rumpeln vorbei. Der Boden ist voller Schlaglöcher. Auf den Trottoirs verkaufen Kinder und alte Frauen Kürbiskerne in kleinen Portionen. Als wir uns einer Gruppe von Soldaten in kugelsicheren Westen nähern, wechseln Ana und ihre Schwester die Straßenseite. An der Avenida Juárez sind die Fassaden von Bars und Geschäften verrammelt. Die Ausflügler aus den USA kommen nicht mehr. Die meisten Mexikaner können es sich nicht leisten, auszugehen. Und die wenigen Kneipenbesitzer, die dennoch versuchen, weiterzumachen, gehen an den Abgaben, die bewaffnete Banden von ihnen eintreiben, zugrunde.
Ciudad Juárez ist eine geschlossene Gesellschaft. Mexikaner unter sich. Die meisten können nicht einmal auf eine Stippvisite auf die andere Seite gehen. Ihnen fehlen die nötigen Papiere.
Bei Einbruch der Dunkelheit bringen Ana und ihre Schwester mich an die Nachbarbrücke. Ich zahle einen Viertel-Dollar Brückengebühr und reihe mich wieder ein in einen Strom von Menschen. Wieder bin ich von Mexikanern umgeben. Dieses Mal sind es junge Leute, die für einen Abend in die USA gehen. Früher war das Nachtleben in Ciudad Juárez. Heute ist es in El Paso.
„Wo kommen Sie denn her“, fragt der US-Grenzer, vor dessen Kontrollposten ich eine halbe Stunde gewartet habe. Er mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ich war auf einen Spaziergang in Mexiko.